HANDBOUND
AT THE
UNTVERSITY OF
TORONTO PRESS
Historische Zeitschrift
Begründet von Heinrich v. Sybel
Unter Mitwirkung von
Paul Bailleu, Georg von Below, Otto Hintze, Otto Krauske,
Max Lenz, Eridi Marcks, Sigmund Riezler, Moriz Ritter
herausgegeben von
Friedridi Meinecke und Fritz Vigener
Der ganzen Reihe 120. Band
Dritte Folge — 24. Band
München und Berlin 1919
Druck und Verlag von R. Oldcnbourg
Reprinted with the permission of R. Oldenbourg Verlag
JOHNSON REPRINT CORPORATION JOHNSON REPRINT COMPANY LTD.
1 1 1 Fifth Avenue, New York, N.Y. 10003 Berkeley Square House, London, W. 1
Bd. \w
SEP 4 lyöb
First reprinting, 1968, Johnson Reprint Corporation
Printed in the United States of America
INHALT.
AufsätZQ. Seite
Über den Begriff einer historischen Dialektik. 3. Der Marxismus. Von Ernst
Troeltsch 393
Römisches Staatsrecht und römische Verfassungsgeschichte. Ein methodischer
Versuch von Eugen Täubler 189
Recht und Verfassung im Mittelalter. Von Fritz Kern 1
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. Von Manfred
Stimming 210
Renaissance als Stilbegriff. Dem Andenken Jakob Burckhardts von Werner
Weisbach 250
Das politische Testament Karls V. von 1555. Von E. W. Mayer .... 452
Die Entstehung von Sturdzas „Etat actuel de l'AUemagne". Ein Beitrag
zur Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen von Carl Brink-
mann 80
Literaturbericht.
Seite
Allgemeines:
Geschichtsphilosophie 103. 281 ff. 495
Deutschtum 291 ff.
Biographisches 295 ff.
Alte Geschichte 104
Mittelalter 109ff. 300ff. .
16. Jahrhundert 118.310
18. Jahrhundert 121.313
19. Jahrhundert:
Wiener Kongreß 501
Schulwesen 314
Biographisches 499
Katholizismus ...... 124. 318
20. Jahrhundert 320
Seite
Rechtsgeschichte 129. 321 ff.
Wirtschaftsgeschichte . . 328 ff. 505
Kirchengeschichte 507 ff.
Deutsche Landschaften:
Baden 511
Baiern 515
Rheinland 519
Hessen 522
Salzburg 132
Steiermark 524
England 336. 525
Italien 527
Rußland 340ff.
Heeresgeschichte 346
Alphabetisches Verzeichnis der besprochenen
Schriften.
(Enthält auch die in den Aufsätzen und den Notizen und Nachrichten besprochenen
selbständigen Schriften.)
Seite
Adam von Bremen, Hamburg. Kir-
chengeschichte. 3. Aufl., herausg.
von B. Schmeidler 543
V. Albert und v. Alten s. Hand-
buch.
Seite
Anrieh, Hagios Nikolaos. Der hei-
lige Nikolaos in der griechischen
Kirche. Bd. 2 507
— s. Ficker.
Baldasseroni s. Schiaparelli.
IV
Inhalt.
Seite
P.Barth, Geschichte der Erziehung.
2; Auflage 534
Adolf Bauer, Vom Judentum zum
Christentum 354
A. E. Berger s. Luther.
Bertalot s. Dante.
Carl Bertuchs Tagebuch vom Wie-
ner Kongreß. Herausg. von H.
V. Egloffstein 501
Bettelheim s. Jahrbuch.
Bibl s. Korrespondenzen.
Hessische Biographien. Herausg. von
H. Haupt. Bd. 1, Lief. 4. . . 180
Birt, Aus dem Leben der Antike 540
Blüchers Briefe, ausgewählt und
erläutert von Stümcke. ... 169
Braune, Edmund Burke in Deutsch-
land 495
Briefe an und von Johann George
Scheffner. Herausg. v.Warda.
Bd. 1 167
Buzzi s. Federici.
Charmatz, Minister Freiherr von
Brück, der Vorkämpfer Mittel-
europas 499
Augsburger Chroniken. 7. Bd.
Bearbeitet von Friedrich Roth 370
de C16ry, Les id6es politiques de
Fr6d6ric de Gentz 556
Cohn s. Philo.
Corray, Tapfer und treu .... 384
de Crignis-Mentelberg, Herzogin
Renata von Lothringen .... 552
D a n t i s Alagherii de Monarchia libri
in rec. Bertalot 152
Dante Alighieri, La Divina Com-
media. Herausg. von Olschki 151
Denzinger, Enchiridion symbolo-
rum. 12. Aufl 136
Dopsch, Wirtschaftsentwicklung d.
Karolingerzeit, vornehmlich in
Deutschland. Bd. 2 109
— , Wirtschaftliche und soziale
Grundlagen der europäischen
Kulturentwicklung aus der Zeit
von Cäsar bis auf Karl d.Gr. Bd.l 328
Dunning, The British Empire and
the United States 525
V. Egloffstein s. Bertuch.
Ehrle, Neu-Deutschland und der
Vatikan 177
Eickholt, Roms letzte Tage unter
der Tiara 172
Erben, Die Berichte der erzählen-
den Quellen über die Schlacht
bei Mühldorf 153
Unsere religiösen Erzieher. 2. Aufl. 136
Espitalier, Vers Brumaire. Bona-
parte ä Paris. 5. XII. 1797—4.
V. 1798 168
Federici e Buzzi, Regesto della
chiesa di Ravenna. I u. II . . 527
Fichtes Schrift, Machiavellii. Her-
ausgegeben von Hofmiller. . 170
— ,Machiavell. Herausg. v. Schulz 169
Ficker und Anrieh, Zwei Straß-
burger Reden zur Reformations-
jubelfeier 160
Seite
Fiebiger und L. Schmidt, In-
schriftensammlung zur Geschichte
der Ostgermanen 143
Hans Foerster, Die Abkürzungen
in den Kölner Handschriften der
Karolingerzeit 300
Forst-Battaglia, Vom Herren-
stande. Heft 1 361
Frey, Die österreichischen Alpen-
straßen in früheren Jahrhunder-
ten 571
Gentz, Vorwort zu den Fragmenten
aus der neuesten Geschichte des
politischen Gleichgewichts in
Europa. Herausg. von Guglia 375
Glitsch, DeralamannischeZentenar
und sein Gericht 541
Gmür, Schweizerische Bauernmar-
ken und Holzurkunden .... 120
Leopold Carl.Goetz, Deutsch-rus-
sische Handelsverträge des Mit-
telalters 307
Grabowsky, Wege ins neue
Deutschland 562
Graf, Altbayrische Frühgotik . . 179
Guglia, Maria Theresia 121
— s. Gentz.
Guidi e Parenti, Regesto del
capitolo di Lucca. I u. II . . 527
Guthe, Luther und die Bibelfor-
schung der Gegenwart .... 15Ö
Häpke, Die Regierung Karls V.
und der europäische Norden. .' 118
Haller, Die Ursachen der Reforma-
tion 157
Hamacher, Die Beurteilung der
Franzosen in den deutschen
Zeitungen und in der deutschen
Publizistik während der drei
schlesischen Kriege 555
Handbuch für Heer und Flotte. Her-
ausgegeben von V. Alten, fort-
geführt von v. Albert. 6. Bd. 34«
Die Handschriften des Finanz-
archivs zu Warschau zur Ge-
schichte der Ostprovinzen des
preußischen Staates 182
Hartig, Die Gründung der Mün-
chener Hofbibliothek durch Al-
brecht V. und Johann Jakob
Fugger 515
F. Härtung, Österreich-Ungarn als
Verfassungsstaat 350
Hashagen, Geschichte der Familie
Hoesch. 2. Bd 519
Haupt s. Biographien.
Hauthaler s. Urkundenbuch.
Heck, Pfleghafte und Grafschafts-
bauern in Ostfalen 545
Heckrodt, Die Kanones von Sar-
dika aus der Kirchengeschichte
erläutert 141
Hegel, Die Vernunft in der Ge-
schichte. Herausg. von Lasso n 103
Magdalene Herrmann, Niklas Vogt,
ein Historiker der Mainzer Univer-
sität aus der 2. Hälfte des 18.
Jahrhunderts 555
Hessel, Elsässische Urkunden vor-
nehmlich des 13. Jahrhunderts 361
Inhalt.
Seite
Hettner, Rußland 343
Hobohm, Hans Delbrück der Sieb-
zigjährige 350
Karl Hoff mann, Das Ende des
kolonialpolitischen Zeitalters . . 561
— , Der kleineuropäische Gedanke . 561
V. Hoffmeister, Durch Armenien,
eine Wanderung, und der Zug
Xenophons bis zum Schwarzen
Meere «104
Hofmiller s. Fichte.
Holl, Die Bedeutung der großen
Kriege für das religiöse und kirch-
liche Leben innerhalb des deut-
schen Protestantismus 137
— , Was verstand Luther unter Reli-
gion? 158
Hoppe, Markgraf Konrad von Mei-
ßen, der Reichsfürst und der Grün-
der des wettinischen Staates. . 360
Imendörffer, Die Verteidigung
Wiens im Jahre 1683 .... 373
Biographisches Jahrbuch und
Deutscher Nekrolog. Herausg.
von Bettelheim. 18. Bd. . . 295
Japikse, Waardeering van Johan
de Witt 554
Jordan, Die öffentliche Meinung
in Sachsen 1864—1866 .... 559
Junghanns, Zur Geschichte der
englischen Kirchenpoiitik von
1399—1413 548
Kahler, Beiträge zu W. v. Hum-
boldts Entwurf einer ständischen
Verfassung für Preußen vom
Jahre 1819 377
Kaerst, Das geschichtliche Wesen
und Recht der deutschen natio-
nalen Idee 291
Kahn, Die Stadtansicht von Würz-
burg im Wechsel der Jahrhun-
derte 387
Keiper, Chr. Dettweiler, ein tap-
ferer Pfälzer in französischen
Kriegsdiensten 375
Kiesel, Petershüttly . Ein Friedens-
ziel in den Vogesen 385
Kißling, Kardinal Francisco Xi-
menes 156
Kleinberg, Denken und Fühlen im
Vormärz 557
— , Die Zensur im Vormärz , . . 557
H. Knapp, Das Rechtsbuch Rup-
rechts von Freising 503
Knetsch, Das Haus Brabant . . 522
Knoke, Niederdeutsches Schul-
wesen zur Zeit der französisch-
westfälischen Herrschaft 1803
—1813 314
Knüttel, Catalogus van de pam-
fletten — Verzameling berustende
in de koniklijke bibliothek . . 138
Köhler s. Lamprecht 321
Koehne, Gewerberechtliches in
deutschen Rechtssprichwörtern . 321
Koeniger, Grundriß einer Ge-
schichte des katholischen Kir-
chenrechts 350
Kötzschke, Die Urbare der Abtei
Werden a. d. Ruhr. Bd. 2 . . . 505
Seite
Koppers, Die ethnologische Wirt-
schaftsforschung . . 533
Korrespondenzen österreichischer
Herrscher. Die Korrespondenz
Maximilians II. l.Bd. Herausg.
von Bibl 310
Kotzebu e. Das merkwürdigste
Jahr meines Lebens 557
Kraus, Husitstvi v literature, zej-
m6na nemecke 548
Krüger, Der Genius Luthers . . 157
J. Kühn, Das Bauerngut der alten
Grundherrschaft 334
Kunzer, Bulgarien 536
Kutschbach, Die Serben im Bal-
kankrieg 1912 — 1913 und im
Kriege gegen Bulgarien .... 536
Lamprecht, Rektoratserinnerun-
gen. Herausg. von Köhler . . 298
Lasson s. Hegel.
Leibniz, Der allerchristüchste
Kriegsgott (Mars christianissi-
mus). Übersetzt und eingeleitet
von Paul Ritter 373
Lehmann, Das Prinzip der Wahl-
kreiseinteilung und seine Ent-
stehung in Frankreich .... 556
Lenel, Badens Rechtsverwaltung
und Rechtsverfassung unter
Markgraf Karl Friedrich 1738
—1803 511
Lenz, Die Bedeutung der deutschen
Geschichtschreibung seit den Be-
freiungskriegen für die nationale
Erziehung 171
Linneborn, Die kirchliche Baulast
im ehemaligen Fürstbistum Pa-
derborn 568
V. Löwe, Das neue Rußland und
seine sittlichen Kräfte .... 383
Loserth, Die protestantischen Schu-
len der Steiermark im 16. Jahr-
hundert 524
Luhe s. Mandt.
Lüttich, Ungarnzüge in Europa
im 10. Jahrhundert 116
Luschin v. Ebengreuth, Die
Münze nach Wesen, Gebrauch
und Bedeutung 138
Luthers Werke. Herausg. von A. E.
Berger 367
Mandt, Ein deutscher Arzt am
Hofe Kaiser Nikolaus I. von
Rußland. Herausg. von Veron.
Luhe 340
Marbe, Die Siedlungen des Kaiser-
stuhlgebirges 567
Marcks, Männer und Zeiten. 5.Auf-
lage 532
Martin s. Urkundenbuch.
Matthaei, Deutsche Baukunst im
Mittelalter. 4. Aufl 547
— , Deutsche Baukunst in der Re-
naissance- und Barockzeit bis
zum Ausgang des 18. Jahrhun-
derts. 2. Aufl 546
Meister, Richtlinien für das Stu-
dium der Geschichte des Mittel-
alters und der Neuzeit .... 135
VI
Inhalt.
Seite
Merle, Die Geschichte der Städte
Byzantion und Kalchedon . . . 139
Meumann, Zeitfragen deutscher
Nationalerziehung 293
A. O. Meyer, Deutschland und
Schleswig-Holstein vor der Er-
hebung 379
E. Meyer, Das britische Welt-
reich 336
Michael, Englands Friedens-
schlüsse 373
Melden, Alois Graf Aehrenthal.
Sechs Jahre äußere Politik
Österreich-Ungarns 320
A. V. Müller, Luther und Tauler
auf ihren theologischen Zu-
sammenhang neu untersucht . 367
K. Müller, Die großen Gedanken
der Reformation und die Gegen-'
wart 159
Württembergischer Nekrolog 1913
—1915 386
Niemeyer, Die völkerrechtlichen
Grundlagen des Weltkrieges.
Bd. 2 563
Öliger, Documenta inedita ad
historiam fraticellorum spec-
tantia 154
Olschki s. Dante.
Oncken, Das alte und das neue
Mitteleuropa 381
— , Über die Zusammenhänge zwi-
schen innerer und äußerer Po-
litik 563
Otto, Herodes 538
Pagliai, Regesto di Coltibuono . 527
Parenti s. Guidi.
Passow, Kapitalismus 534
V. Peez, Die Landsverleger-Com-
pagnia zu Wienn 554
Philippi, Luther und die alte
Kirche 158
▼. Philippovich, Das Leben und
Wirken eines österreichischen
Offiziers 535
Philo. 6. Bd. Herausg. von Cohn
und Wendland 540
Purlitz, Der Europäische Krieg . 177
Rade, Luthers Rechtfertigungs-
glaube 159
Ranke, Die großen Mächte. Hersg.
von Rud. Schulze 136
Regesta Chartarum Italiae. Bd. 4
bis 9 527
Die preußischen Registraturen in
den polnischen Staatsarchiven . 183
A. Reimann, Deutsche Geschichte
im Zeitalter der Reformation 366
Reutter, Das Siedlungswesen der
Deutschen in Mähren und Schle-
sien bis zum 14. Jahrhundert . 371
Ritschi, Reformation und evange-
lische Union 157
Ritter s. Leibniz.
Friedr. Roth s. Chroniken.
V. Rümelin, Geistiges Leben in
Württemberg unter der Regie-
rung König Wilhelms II. . . . 386
Ruof, Dr. Johann Wilhelm von
Archenholtz 313
Seite
Salomon, Die neuen Parteipro-
gramme 177
Schambach, Noch einmal die
Geinhäuser Urkunde und der
Prozeß Heinrichs des Löwen. . 545
Scheffner s. Briefe.
Schiaparelli e Baldasseroni,
Regesto di Camaldoli II. . . . 527
Schmeidler s. Adam.
Eberhard Schmidt, Entwicklung
und Vollzug der Freiheitsstrafe
in Brandenburg-Preußen bis
zum Ausgang des 18. Jahrhun-
derts 326
L. Schmidt s. Fiebiger.
Hellmuth Schmidt-Breitung,
Weltgeschichte der neuesten
Zeit 1902—1918 382
Fedor Schneider, Regestum Se-
nense I 527
O. Scholz, Die Hegesippus-Ambro-
sius-Frage 142
Schragmüller, Borerund Balierer 386
Schranil, Stadtverfassung nach
Magdeburger Recht: Magdeburg
und Halle 324
Hans Schulz s. Fichte.
Rud. Schulze s. Ranke.
Schumpeter, Zur Soziologie der
Imperialismen 563
Schwab n. Die Beziehungen der
katholischen Rheinlande und
Belgiens in den Jahren 1830 bis
1840 124
V. Schwerin, Deutsche Rechts-
geschichte (mit Ausschluß der
Verfassungsgeschichte). 2. Aufl. 535
Schwinkowski, Das Geld- und
Münzwesen Sachsens 568
Hohenzollern-Jahrbuch. 20. Jahr-
gang. Herausg. von P. Seidel 351
W. V. Seidlitz, Kulturkrieg. . . 382
Sieger, Der österreichische Staats-
gedanke und seine geographi-
schen Grundlagen 350
Simon, L'ordre des P6nitentes de
Ste. Marie-Madeleine en Alle-
^ magne au Xllle siecle .... 362
SiSic, Geschichte der Kroaten . . 143
Slawitschek, Werdegang der öster-
reichischen Verfassung .... 558
Sommerlad, Die alte und die neue
Kontinentalsperre 376
Spengler, Der Untergang des
Abendlandes. Umrisse einer Mor-
phologie der Weltgeschichte.
1. Bd 281
Spranger, Das preußische Ministe-
rium der geistlichen und Unter-
richtsangelegenheiten 137
Strupp, Unser Recht auf Elsaß-
Lothringen 178
Eugen Stamm, Konstantin Frantz
und Bismarck 380
Staude, Dorpat und Rostock . . 183
Steig, Clemens Brentano und die
Brüder Grimm 317
Steinert, Wartburgfest 558
Sten Konow, Indien 352
Inhalt.
Vll
Seite
E. V. Stern, Die russische Agrar-
frage und die russische Revolu-
tion 383
Stoeckius, Untersuchungen zur
Geschichte des Noviziates in der
Gesellschaft Jesu 553
Störmann, Studien zur Geschichte
des Königreichs Mallorka . . . 547
Stümcke s. Blücher.
Teuf fei, Individuelle Persönlich-
keitsschilderung in den deutschen
Geschichtswerken des 10. und
11. Jahrhunderts 305
Theloe, Die Ketzerverfolgungen im
11. und 12. Jahrhundert ... 509
Thomsen, Das Alte Testament.
Seine Entstehung und seine Ge-
schichte 538
Salzburger Urkundenbuch II (790
— 1199). Bearb. von Hauthaler
und Martin 132
Veress, Fontes rerum Hungarica-
rum. 3. Bd 552
Völker, Luthers Anteil an der
Grundlegung der neueren deut-
schen Kultur 160
Karl Voigt, Die karolingische Klo-
sterpolitik und der Niedergang
des westfränkischen Königtums 303
Wähle, Feldzugserinnerungen römi-
scher Kameraden 539
Wal zel, Deutsche Romantik. 4. Auf-
lage 349
Warda s. Briefe.
Seite
Wegener, Diederich Ernst Bühring
und sein Plan einer Generalland-
schaftskasse 167
A.Weiß, Das Werden unserer Volks-
schule 388
J.Weiß, Römerzeit und Völkerwan-
derung auf österreichischem Bo-
den 571
v. Weissembach, Quellensamm-
lung zur Geschichte des Mittel-
alters und der Neuzeit. 1. Bd. 356
Joh. Wen dl and, Reformation und
deutscher Idealismus 550
Wendland s. Philo.
Wendorf, Die Fraktion des Zen-
trums im Preußischen Abgeord-
netenhause 1859—1867 .... 318
Wentzcke, Was ist Elsaß-Lothrin-
gen dem Reich? 565
Werner, Die neuen theologischen
Enzyklopädien 535
Wutte, Die Entstehung der öster-
reichisch-ungarischen Monarchie 571
Zahn, Kultur- und Arrondierungs-
wesen des Kraichgauer Niede-
rungsgebietes 386
Zibermayr, Die Legation des Kar-
dinals Nikolaus Cusanus und die
Ordensreform in der Kirchenpro-
•vinz Salzburg 364
Zoepfl, Johannes Altenstaig, ein
Gelehrtenleben aus der Zeit des
Humanismus und der Reforma-
tion 366
Ulrich Zwingli 551
Notizen und Nachrichten.
(Die Namen der ständigen Mitarbeiter^sind in Klammern hinzugefügt.)
Seite
Allgemeines (Frischeisen-Köhler) 135.348.532
Alte Geschichte (Brand is) 139. 353. 538
Römisch-germanische Zeit und frühes Mittelalter bis 1250 (Hof-
meister) 142. 355. 541
Späteres Mittelalter (Kaiser) 151. 362. 547
Reformation und Gegenreformation (Köhler) 157. 366. 550
Zeitalter des Absolutismus (Michael) 165.373.554
Neuere Geschichte von 1789 bis 1871 (bis 1815 Kahler, nach
1815 Jacob) 168. 374. 556
Neueste Geschichte seit 1871 (Hashagcn) 178. 381. 561
Deutsche Landschaften (Windel band) 178. 384. 567
Vermischtes 184. 389. 571
Redit und Verfassung im Mittelalter.
Von
Fritz Kern,
Inhalt: Vorbemerkung. — I. Recht. 1. Das Recht ist alt. —
2, Das Recht ist gut. — 3. Das gute alte Recht ist ungesetzt
und ungeschrieben. — 4. Altes Recht bricht jüngeres Recht. —
5. Rechtserneuerung ist Wiederherstellung guten alten Rechts.
— 6. Rechtsanschauung und Rechtsleben. — II. Verfassung.
1. Grundsatz der Rechtsschranken (der Herrscher ist an das
Recht gebunden). — 2. Grundsatz der Volksvertretung (Kon-
senspflicht des Herrschers). — 3. Grundsatz der Verantwort-
lichkeit (das Widerstandsrecht). — 4.. Übergänge. — 5. Zeit-
liches und begriffliches Mittelalter.
Es sind nicht die „Realien" sondern die „Ideen" des mittelalter-
lichen Rechts- und Verfassungslebens, die auf den folgenden Seiten
zur Darstellung gelangen: allerdings auch nicht die abstrakten Theo-
rien mittelalterlicher Gelehrter, sondern die Anschauungen, wie sie
bewußt und unbewußt, ausgesprochen und unausgesprochen dem breiten
Rechts- und Verfassungsleben jenes großen vergangenen Zeitalters
zugrunde lagen. Die Wechselwirkung von Rechtsanschauung und
Rechtsleben wird uns stets vor Augen bleiben; aber zunächst soll
doch die Anschauung als solche verständlich werden. Die Darstellung
geht nach geistesgeschichtlicher oder weltanschauungsgeschichtlicher
Methode vor. Sie sucht demgemäß die Geschichtsquellen nicht wie einen
Steinbruch zu benutzen, sondern wie eine geologische Formation zu
studieren. Während der Rechtshistoriker z. B. unbefangen von einem
fränkischen „Privatrecht" oder „staatsrechtlichen Normen" der
anglonormannischen Zeit sprechen und die „Realien" unter diesen
Stichworten ordnen darf, müssen wir feststellen, daß das Mittelalter
gar kein „Privatrecht" als solches und auch nicht unsern Begriff des
„Staates" kennt. Wer aus klassischen Werken wie Brunners Rechts-
geschichte die Rechtsanschauungen der betreffenden Zeit kennen
lernen oder rekonstruieren wollte (wofür selbstverständlich eine solche
Historische Zeitschrift (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd. 1
2 Fritz Kern,
Realiengeschichte gar nicht geschrieben ist): der würde zu einer wun*
derlich unzeitgemäßen Vorstellung gelangen. Theoretisch wird das
jedermann ablehnen; praktisch aber wird in großen und kleinen
Dingen sehr oft so verfahren, weil eben die Realien gut und leicht
erreichbar dargestellt sind, die Ideen mit vereinzelten Ausnahmen bis-
lang nicht.
Die geistesgeschichtliche Methode erschöpft sich aber selbst-
verständlich auch nicht in der Aufzählung der Wörter oder Begriffe,
welche das betreffende Zeitalter im Munde geführt hat. Damit
würde einmal die bewertende Anknüpfung und Einreihung in unsere
eigene Begriffswelt versäumt, die mittelalterliche Anschauung bliebe
unverständlich. Zweitens aber würde dieselbe durch solche Wort-
und Begriffsphilologie auch in sich selbst nicht zutreffend erfaßt:
denn das Beste und Tiefste, worauf ein Zeitalter fußt, kann es selber
meist nur ungeschickt oder gar nicht aussprechen. i) Erst in der Abend-
dämmerung beginnt die Eule der Minerva ihren Flug. So müssen
wir denn, indem wir es vermeiden, die Begriffe unserer Zeit kritiklos
und anachronistisch ins Mittelalter zurückzutragen, anderseits doch
mit den Worten unserer Zeit die mittelalterlichen Anschauungen zu
umschreiben suchen. Wir vergegenwärtigen uns aus Reden und Taten
des Mittelalters dessen von dem unserigen gänzlich verschiedenen Rechts-
begriff: dann aber fassen wir ihn in eine Sprache, die den Heutigen ver-
traut ist. Die Geistesgeschichte macht den Dolmetscher zwischen einst
und jetzt, und diese hermeneutische Aufgabe bedingt eine Methode^
die, nachdem sie bei der Philologie wie bei der Rechtsgeschichte in
die Schule ging, doch keines von beiden, sondern ein eigenes zwischen
beiden ist.
Diese Vorbemerkungen würden für die folgenden anspruchslosen
Beobachtungen fast zu schwer auftreten, wenn es nicht nötig wäre,
Realienforschern gegenüber auf die Wahl des Standpunktes aufmerk-
1) Hierfür vgl. F. Fleiner, Politik als Wissenschaft, Zürich 1917^
S. 8: „Die leitenden Ideen einer Zeitepoche bleiben häufig den Zeit-
genossen verborgen. . . Das 15. Jahrhundert ist erfüllt von den Ein-
griffen der staatlichen Obrigkeiten in die Angelegenheiten der Kirche.
Ich brauche nur an die Kirchenpolitik Waldmanns oder an das Rechts-
sprichwort zu erinnern von dem Herzog von Cleve qui papa est in suis.
ierris. Die Kompetenz zu solchen Eingriffen hat im 16. Jahrhundert
den weltlichen Obrigkeiten die juristische Rechtfertigung zur Kirchen-
reform . . . geliefert. Worin liegt ihre Begründung? In einem von den
Quellen des 15. Jahrhunderts stillschweigend vorausgesetzten Rechts-
grundsatz, demzufolge der Staat als vicarius ecclesiae vor Gott ver-
pflichtet ist, den Glauben zu schirmen, wenn das geistliche Schwert
lässig bleibt. Ein Rechtsgrundsatz ersten Ranges, den keine Ur-
kunde ausspricht, sondern den wir allein aus seiner Anwendung
in einer großen Zahl von Einzelfällen erkennen." — VgU
auch MSt. 1, 482, 1.
Recht und Verfassung im Mittelalter. 3
sam zu machen, um Erwartungen zu vermeiden, die hier nicht befrie-
digt werden könnten, und um eine Art der Auseinandersetzung zu
erbitten, welche den beiderseitigen Standpunkt zu klären vermöchte,
statt ihn zu vermengen.
I. Recht.i)
Für uns hat das Recht, damit es gelte, nur eine einzige
Eigenschaft nötig: die unmittelbare oder mittelbare Ein-
setzung durch den Staat. Dem mittelalterlichen Recht da-
gegen sind zwei andere Eigenschaften anstatt dieser einen
wesentlich: es ist „altes" Recht und es ist „gutes" Recht.
Dagegen kann es das Merkmal der Einsetzung durch den
Staat entbehren. Ohne jene zwei Eigenschaften des Alters
und des Gutseins, die, wie wir sehen werden, merkwürdiger-
weise eigentlich nur für eine einzige und einheitliche Eigen-
schaft gehalten wurden, ist Recht kein Recht, selbst wenn
es vom Machthaber in aller Form eingesetzt sein sollte.
1. Das Recht ist alt.
Für subjektive Rechte, insbesondere für Besitzrechte,
ist das Alter zu allen Zeiten von Bedeutung und kann unter
Umständen rechtsbegründende Kraft haben (Ersitzung).
Für die Gültigkeit des objektiven Rechtes dagegen bedeutet
unter der Herrschaft des heutigen Gesetzesrechtes Alter
schlechterdings nichts. Für uns ist das Recht vom Tage seiner
Einführung bis zu dem seiner Abschaffung weder alt noch
jung, sondern schlechthin gegenwärtig. Im Mittelalter war
das anders: gerade für das objektive Recht galt das Alter
als wichtigste Grundeigenschaft. Das Recht war ja Ge-
wohnheit. Das unvordenkliche Herkommen, erwiesen durch
die Erinnerung der ältesten und glaubwürdigsten Leute;
die leges patrum, unter Umständen, aber nicht notwendig,
bezeugt auch durch äußere Gedächtnishilfen, wie Urkunden,
Landmarken, Rechtsbücher oder sonst eine die Lebenszeit
^) Belege und nähere Ausführungen für alles Folgende siehe in
meinen „Mittelalterlichen Studien" Bd. 1 (Leipzig 1914), 286 ff., 456 ff.
(abgekürzt angeführt MSt.). Mein Aufsatz „Über die mittelalterliche
Anschauung vom Recht" in der H. Z. Bd. 115 ist in die folgenden Aus-
führungen hineingearbeitet und damit überholt.
1*
4 Fritz Kern,
der Menschengeschlechter überdauernde Sache: das ist das
objektive Recht. Und für ein in Frage stehendes subjektives
Recht war seine Zugehörigkeit zum Väterbrauch ungefähr
dasselbe, was heute der Nachweis sein würde, daß dasselbe
aus einem gültigen Staatsgesetz erfließe.
Freilich, damit Recht Recht sei, muß es nicht nur alt,
sondern auch „gut" sein. Die Streitfrage moderner Juristen,
ob das hohe Alter die verbindliche Kraft des Gewx)hnheits-
rechtes erzeuge oder nur erkennen lasse?, ist für das mittel-
alterliche Vorstellungsvermögen gegenstandslos. Denn das
Alter an sich erzeugt noch kein Recht, und am Alter allein
kann man es auch nicht erkennen. Vielmehr sind „hundert
Jahre Unrecht noch keine Stunde Recht", und Eike von
Repgow betont z. B., daß die Unfreiheit nur von Zwang
und unrechter Gewalt herstamme, freilich von alters her
Gewohnheit sei, weshalb man sie nun „für Recht haben wiir*.^)
Aber sie ist nur eine „unrechte Gewohnheit". Das Vorhanden-
sein unrechter oder „böser" Gewohnheit von so langer Zeit
her zeigt, daß Gewohnheit oder Alter allein das Recht nicht
macht oder erkennen läßt.^) Bei Eike ist die Unfreiheit
ein später, wenn auch schon lange eingeführter Mißbrauch
gegenüber der allgemeinen Freiheit, die herrschte, „als man
das Recht zu allererst setzte". 3) Vor dem hundertjährigen
Mißbrauch war eben ein tausendjähriges Recht oder viel-
leicht sogar ein ewiges, unverjährbares. Mit dem Unverjähr-
barkeitsgedanken bricht kirchlicher Ideenschwung in die
germanische Anschauung vom Recht: das paradiesische
Naturrecht des goldenen Zeitalters stempelt letzten Endes
1) Ssp. Ldr. 3, 42, 6. Der Paragraph fehlt in der Quedlinb. Hand-
schrift.
2) Schon hier erhellt, wie wenig der moderne Begriff des Gewohn-
heitsrechts den mittelalterlichen Begriff vom Recht erschöpft oder
auch nur deckt. Im folgenden wird das noch mehr hervortreten. Trotz-
dem werden wir der Kürze halber das Wort Gewohnheitsrecht als Ge-
gensatz zum gesetzten Recht beibehalten, wenn wir uns nur bewußt
bleiben, daß es nur ein Stichwort, keine Wiedergabe der wesentlichen
Begriffsmerkmale der mittelalterlichen Rechtsvorstellung bildet.
») Ebenda 3, 42, 3. Vgl. Schw. Sp. 44, und für die unrechte Ge-
wohnheit i. allg. S. Brie, pie Lehre vom Gewohnheitsrecht 1 (Breslau
1899), 222f., 236ff. 247.
Recht und Verfassung im Mittelalter. 5
alle auf Ungleichheit der Menschen beruhende Rechtsord-
nung als Unrecht ab. Wird in diesem Beispiel die volks-
tümliche mittelalterliche Rechtsweltanschauung (mit der
wir uns in dieser Studie allein befassen) auch durch die ge-
lehrte Rechtsphilosophie gestreift, so ist doch dieser unbeug-
same Trotz des Rechts gegen die Zeit und was sie bringt,
ein Eckstein des mittelalterlichen Rechtsdenkens überhaupt.
Nicht der Staat, sondern „Gott ist der Anfang alles
Rechts". Das Recht ist ein Stück der Weltordnung ^ es ist
unerschütterlich. Es kann gebeugt, gefälscht werden, aber
dann stellt es sich selbst wieder her und zerschmettert zu-
letzt doch den Missetäter, der es antastete. Hat irgendwer,
ein Volksgenosse oder gar die Obrigkeit, ein „Recht" ge-
schaffen, welches einem guten alten Herkommen wider-
spricht, und dieses Herkommen wird zweifelsfrei, etwa
durch Aussage bejahrter Zeugen oder durch Vorbringen einer
Königsurkunde, erwiesen, so war jenes neugeschaffene
Recht kein Recht, sondern Unrecht, nicht usus, sondern
abusus, und es ist Pflicht jedes Rechtsgenossen, der Obrig-
keit wie des gemeinen Mannes, das verdunkelte gute alte
Recht wiederherzustellen. Der gemeine Mann ebenso wie
die Obrigkeit ist dem Recht verpflichtet und berufen, an
seiner Wiederaufrichtung teilzunehmen. Gegenüber der
Heiligkeit des Rechtes, zu seiner Bewahrung sind Obrigkeit
und Untertanen (Staatsgewalt und Private) ganz gleich
befugt. Hieraus folgt für die Verfassung Ungemeines, wie
wir sehen werden. Es wird sich dann auch zeigen, daß
Begriffe von so großem Umfang, aber wenig bestimmtem
Inhalt, wie der mittelalterliche Begriff vom Recht, im prak-
tischen Leben viel Verwirrung stiften.
Beleuchten wir aber zunächst noch weiter die eigen-
tümlichen Folgen, die sich aus der notwendigen Eigenschaft
des Rechts als eines alten ergeben.
Wo ein neuer Rechtsfall auftaucht, für welches kein
geltendes Recht angeführt werden kann, da wird von den
Rechtsgenossen bzw. den Urteilern neues Recht mit dem
Bewußtsein geschaffen, daß es wiederum altes gutes Recht
sei, zwar kein ausdrücklich überkommenes, aber ein still-
schweigend vorhandenes. Sie „setzen" das Recht darum nicht,
6 Fritz Kern,
sondern sie „finden" es. Das Einzelurteil im Gericht, das
wir als besondere Folgerung aus feststehenden allgemeinen
Rechtsnormen auffassen, unterscheidet sich für den mittel-
alterlichen Denkbrauch in nichts von der Gesetzgebung
der Rechtsgemeinde: beidemal wird ein zwar verstecktes,
aber doch schon vorhandenes Recht gefunden, nicht ge-
schaffen. Die „erste Anwendung eines Rechtssatzes" be-
zeichnet sich im Mittelalter niemals als solche.^) Das Recht
ist alt; neues Recht ist ein Widerspruch 2); denn entweder
erfließt es ausdrücklich oder stillschweigend aus dem alten
oder es steht diesem entgegen, dann ist es eben Unrecht.
Der Grundgedanke bleibt unangetastet, daß das alte Recht
wirklich und das wirkliche Recht alt sei.
Sonach ist also Rechtsneuerung im Mittelalter über-
haupt nicht möglich? Der Weltanschauung nach nicht.
Jede Rechtsneuerung und Reform wird aufgefaßt als Wie-
derherstellung gekränkten guten alten Rechts. 3)
Hier müssen wir nun die zweite Eigenschaft des Rechts
ins Auge fassen, die für das Mittelalter mit der ersten eng-
verschwistert, fast zusammenfallend ist:
2. Das Recht ist gut.
Die Philologen streiten noch, ob das altgermanische
Wort für Recht, I, mit aequus oder mit aevus, mit „billig"
oder mit „Ewigkeit" zusammenhänge. Für die mittelalter-
liche Auffassung würde beides fast dasselbe sein: denn was
von Ewigkeit her bestand, ist billig, und was billig ist, muß
sich irgendwie auf ewige Ordnungen zurückbeziehen. Das
alte Recht ist vernünftig, und das vernünftige Recht ist alt.
Dennoch würde man aus sachlichen Gründen der Be-
griffs Verbindung i mit aequus den Vorrang geben müssen.
Ist es doch die grundlegende Eigentümlichkeit mittelalter-
lichen Rechtsdenkens (ohne deren Kenntnis sich der Hi-
storiker in lauter Fehlschlüssen bewegen müßte), daß es
zwischen Recht, Billigkeit, Staatsräson und Sittlichkeit
1) Vgl. Brie a. a. O. 231, 27.
2) Pollock und Maitland, History of English Law 1, 12; Brie
a. a. O. 228, 16.
») Vgl. unten S.24ff.
Recht und Verfassung im Mittelalter. 7
nicht unterscheidet. Wo wir dem Recht, der Politik und dem
Gewissen drei getrennte Altäre errichtet haben und jeder
dieser Ideen als einer souveränen Gottheit opfern, da sitzt
für den mittelalterlichen Menschen die eine Frau Justitia
auf dem Thron, über sich nur Gott und den Glauben, neben
sich nichts, und zu ihren Füßen kniend Obrigkeit und Unter-
tanen, Fürst und Volk (wir würden sagen Staatsgewalt und
Private), über welche sie in ewiger, unverbrüchlicher Gleich-
heit Schwert und Wage hält. Ihr gegenüber aber, feindlich
anrennend und die Knienden aufhetzend, die höllische
Schattengestalt des Unrechts.
Daß die an der Stoa gebildete Rechtsphilosophie der
Kirchenväter, welche das sittlich-rechtliche Mischgebiet
des Naturrechts überlieferte, beim Mittelalter so viel Anklang
fand, das hat seinen Grund darin, daß das Denken des Mittel-
alters noch nicht zu jener Sonjderung von Rechts- und
Sittlichkeitssphäre vorgedrungen war, welche in der Neu-
zeit rechtsphilosophisch bis zu der Fichteschen (dialektischen)
Entgegensetzung von Recht und Sittlichkeit vertieft
worden ist.
Während aber die Gelehrten des Mittelalters gerade
an dem Gegensatz der antiken Ideen und des lebendigen
Gewohnheitsrechts ihrer Umwelt, sowie am Römischen Recht
dazu geschult wurden, allmählich den Begriff des positiven
Rechts als Gegensatz- und Ergänzungsbegriff zum Natur-
recht herauszuarbeiten, hat das volksmäßige Rechts-
bewußtsein nichts von dieser Unterscheidung geahnt und
in gewaltiger, ungebrochener Einfachheit das Recht als etwas
großartig Ganzes und Eines gesehen, das Recht gleich der
Gerechtigkeit schlechthin als Gottes Dienerin, die „Jeg-
Hchem das Seine gibt*'. Mit diesem Bewußtsein, das dem
breiten lebendigen Recht des Mittelalters zugrundelag,
haben wir es hier allein zu tun, nicht mit der Begriffsarbeit
der Scholastiker und Juristen und was aus ihr folgte. Darum
haben wir die einfache Tatsache festzustellen, daß dem mittel-
alterlichen Denkbrauch, der die Handhabung des unge-
lehrten Rechts bestimmt hat, die Unterscheidung von posi-
tivem und idealem Rechte fehlt. Recht ist das Rechte,
das Richtige, das Redliche, das Vernünftige. Das göttliche,
i Fritz Kern,
das natürliche, das moralische Recht ist nicht über, neben
oder außerhalb des positiven Rechts, sondern „das Recht"
ist göttlich, natürlich, moralisch und positiv zugleich, wenn
wir überhaupt diese spaltenden Begriffe von außen daran
herantragen dürfen, an dieses einfache, allumfassende
„Recht".
„Recht und redlich", „/us/e et rationabiliter'* ist eine
der beliebtesten Wort-Ehen in der mittelalterlichen Rechts-
sprache, gemäß der Einerleiheit von „positivem" und „mo-
ralischem" Recht.i) Für uns ist das wirkliche geltende
oder positive Recht etwas nicht Unmoralisches, aber Amora-
lisches, das seine Herkunft nicht aus Gewissen, Gott, Natur,
Idealen, Ideen, Billigkeit o. dgl., sondern einfach aus dem
Willen des Staates und seine Sanktion in der Zwangsgewalt
des Staates hat. Dafür ist eben — um hier den zartempfin-
denden Nichtjuristen zu beruhigen — für uns der Staat
etwas Heiligeres als für den mittelalterlichen Menschen.
Wenigstens der Staat, den wir anerkennen und lieben kön-
nen, der ein Teil unserer selbst und unsere geistige Heimat
ist. Verneinen wir ein, z. B. durch Fremdherrschaft oder
Pöbelherrschaft aufgezwungenes Recht, so werden wir eben
revolutionär gegen den Staat ganz im mittelalterlichen Sinn
des noch zu besprechenden Widerstandsrechtes. Mit dieser
außerjuristischen Abschweifung wollte' ich nur eriäutern,
daß selbstverständlich auch für uns Recht und Staat in
überrechtlichen und überstaatlichen Empfindungen wurzeln.
Aber wir vermögen zu sondern, wir sehen auch im ver-
haßten Recht des verhaßtesten Staates vollgültiges positives
Recht bis zu dem Tag, da wir beide zugleich durch Revo-
lution zerbrechen können. Das Recht ist für uns Erben der
juristisch-scholastischen Begriffsarbeit erst das Zweite, der
Staat das Erste. Dem Mittelalter war das Recht Selbstzweck,
weil unter Recht zugleich das sittliche Empfinden, die geistige
Grundlage der ganzen Menschheitsordnungen, das Gute
schlechthin mitgedacht wird, also auch die selbstverständ-
liche Grundlage des Staates. Für das Mittelalter ist deshalb
^) F. Frensdorft, Recht und Rede. Histor. Aufs. G. Waitz,
gewidmet (Hann. 1886), 433ff.
Recht und Verfassung im Mittelalter. 9
das Recht das Erste, der Staat erst das Zweite. Der Staat
ist hier nur das Mittel zur Verwirklichung des Rechts; sein
Dasein leitet sich ab aus dem Dasein des über ihm stehenden
Rechts. Das Recht ist vor dem Staat, der Staat für das
Recht und durch das Recht, nicht das Recht durch den
Staat.i)
Für uns hat das „moralische", natürliche", „ideale"
Recht seinen Standort zunächst gar nicht innerhalb der
Rechtssphäre. Nur wo das positive Recht ausdrücklich
das sittliche Empfinden hereinruft in seinen Kreis, wird es
zu einem Glied der Rechtswelt, bestimmt, als dienende
Stütze am Bau des positiven Rechtes mitzutragen. Nur
wo das positive, vom Staat gesetzte Recht im Bewußtsein
einer Lücke seines eigenen Baues, in welchem es die Wirk-
lichkeit des Lebens fangen und fassen soll, zur Schließung
dieser Lücke die Billigkeit, das Ermessen (das sittliche
Urteil) des Richters oder Beamten aufbietet oder dem Staats-
oberhaupt die Milderung des strikten Rechts durch das
Walten der Gnade einräumt, dort, und nur dort tritt bei
1) Es könnte hier einem Leser einfallen, die Unterordnung des
mittelalterlichen Staates unter das Recht gegen die wahre Staats-
natur des mittelalterlichen Staates auszuspielen. Nichts wäre falscher
als das. Wer die hier vorliegende Studie zu Ende gelesen hat, wird davor
bewahrt sein, den mittelalterlichen Staat in ein System von Privat-
rechten oder Privat vertragen aufzulösen; er wird überhaupt mit der
Entgegensetzung von Privat- und Staatsrecht im Mittelalter vor-
sichtig werden. Die wahre Staatsnatur des mittelalterlichen Staates
ist von G. V. Below, Der deutsche Staat des Mittelalters 1 (Leipzig
1914), wie man meinen sollte, endgültig nachgewiesen worden. Aller-
dings hat die Unterordnung des Staats unter das Recht, und zwar
unter das so vieldeutig schillernde „Recht" im Sinne des mittelalter-
lichen Begriffs, auch für Gestalt und Schicksale des Staates die größten
Wirkungen gehabt, wie dies in einer Studie über „Mittelalterliche Po-
litik" des näheren gezeigt werden soll. Aber so verschieden an Zweck-
setzung und Gebarung auch der mittelalterliche Staat vom heutigen
war und so sehr auch der Begriff Staat, wie wir ihn kennen, damals in
Gemenge mit anderen Begriffen liegt (entsprechend der Gemengelage
des Rechtsbegriffs), so ist er doch, sobald man die Realien und nicht
die Ideen des Mittelalters anschaut, zweifellos Staat im vollen Sinne
unseres heutigen Begriffs. Man vgl. die einleitende Bemerkung über
die Methode der Geistesgeschichte in ihrem Unterschied zur rechts-
geschichtlichen Methode.
10 Fritz Kern,
uns das moralische „Recht" aus dem inneren Waltekreis
des Gewissens aufs Forum hinaus, eingeführt, befugt, um-
grenzt und überwacht durch das positive Recht. Das po-
sitive Recht macht das moralische auf diese Weise zu seinem
eigenen Bestandteil, so daß auch nunmehr noch der Form
nach im Staate nur ein einziges Recht gilt, das positive,
und kein anderes außer ihm.^) Dieses positive Recht aber
kann der Staat nach der heute herrschenden Staats- und
Rechtsidee jederzeit beliebig abändern. Der Staat ist der
Souverän ; er bestimmt also sogar, inwieweit das moralisch
„Rechte" Recht sein soll.
Es gibt nach der modernen Auffassung nur einen Weg,
Avie das ideale Recht, Antigones Gesetze der Götter, recht-
mäßig (verfassungsmäßig) Herr werden könne über das po-
sitive Recht, die Gesetze des Staates: durch die staatliche
Setzung neuen positiven Rechts. Das geschieht, wenn sich
der Staat überzeugt, daß bisher außerrechtliche, moralische
Empfindungen einen Umbau des geltenden Rechts emp-
^) Einen Überblick über die ins moderne bürgerliche Recht
hereingerufenen moralischen Bestandteile bietet O. v. Gierke, Recht
und Sittlichkeit, Logos 6 (1917), 211 ff. Wenn aber Gierke 251 ff.
<fen Gegensatz von striktem und billigem Recht hierbei ausscheiden
will, so scheint er mir dabei den Standpunkt etwas zu verschieben.
Gewiß ist Billigkeitsrecht auch vollgültiges Recht, aber das sind „sitt-
liche Pflichten" usf. auch, insoweit sie durch das positive Recht und
■für dasselbe erheblich gemacht worden sind. Es bestehen natür-
lich Gradunterschiede. Aber grundsätzlich gilt: alle „moralischen"
Bestandteile des systematischen positiven Rechts sind Recht, insoweit
sie abgestempelt sind durch den gesetzgeberischen Akt, und nur in-
soweit. Das gilt auch für Billigkeit, Zweck usf. Das Billigkeitsrecht
ändert gemäß dem allgemeineren Wandel der Rechtsvorstellung seinen
Standort: im mittelalterlichen Recht, das aus Herkommen und Rechts-
gefühl geschöpft wird, entsteht das Billigkeitsrecht aus Rechtsgefühl
und Ge\yohnheit eines besonderen Richters, der kraft besonderen
Herkommens (z. B. weil er König ist) nicht nach den Normen gleich-
zeitiger anderer Gerichte zu richten hat und dessen (außerordentliche)
Gepflogenheit dann den Zeitgenossen gerechter (biegsamer, indivi-
dualisierender) als jene anderen (ordentlichen) Normen vorkommt
und darum als billig bezeichnet wird. Im heutigen Recht dagegen
laufen nicht striktes und billiges Recht im Wettbewerb nebeneinander
her, sondern das Billigkeitsrecht hat formal seine ihm bestimmt zu-
gewiesene Stelle innerhalb des einen, der Idee nach lückenlos geschlosse-
nen Satzungsrechts.
Recht und Verfassung im Mittelalter. It
fehlen. Dann setzt sich aber nicht einfach das moralische
Recht an die Stelle des positiven; aus dem außerrechtlichen
Gebiet der moralischen Überzeugungen tritt nichs von sich
aus in das Haus des Rechts hinüber. Sondern der Staat
formt sein positives Recht um, was er jederzeit beliebig
und souverän kann.
Inwieweit auch in diesem modernen Rechtsbild Fik-
tionen stecken, erörtern wir nicht; es ist uns genug, daß die
Vorstellung einheitlich und ein geschlossenes Begriffsgebäude
ist, bezogen auf die Souveränetät des Staates und die alleinige
Geltung des vom Staat erflossenen, d. h. positiven Rechts.
Völlig entgegengesetzt ist die Vorstellung des Mittel-
alters. Das Recht ist hier souverän, und nicht der Staat, d. h.
das Gemeinwesen, die Obrigkeit, der Fürst oder wie die mittel-
alterlichen Begriffe sonst lauten, welche wir in diesem Zu-
sammenhang dem Recht gegenüberstellen. Der Staat kann
das Recht nicht ändern. Er würde damit etwas begehen
wie Muttermord. Diese gewaltige Tatsache der mittelalter-
lichen Gedankenwelt werden wir im nächsten Abschnitt
in ihren Folgen für das Rechtsleben zu betrachten beginnen;
hier soll nur noch einmal der Grund dieser Überordnung
des Rechts über den Staat verdeutlicht werden. Er liegt
in der Nichtunterscheidung von idealem und positivem Recht.
Ein Recht, das gleich ist mit dem Guten an sich, ist selbst-
verständlich vor und über dem Staat. Die mittelalterliche
Welt schwillt über von begrifflicher Ehrfurcht für die Heilig-
keit des Rechts: natürlich, denn es ist nicht das nüchterne,
trockene, bewegliche, technische, vom Staat abhängige
positive Recht von heutzutage: es trägt in unklarer Ver-
mengung die Heiligkeit des moralischen Gesetzes in sich.
Der Leser wird sich vermutlich rasch überzeugen, daß die Ab-
spaltung des Rechts von der Moral nicht nur ein technischer
Fortschritt und eine gesunde Ernüchterung war, welche die
Neuzeit heraufführte, sondern daß auch die tatsächliche
Heiligkeit des Rechts dadurch nur gewonnen hat, so wie auf
anderem Gebiet z. B. der kalte moderne Gesetzes gehor-
sam mehr ist als die farbig warme, vieldeutige mittelalter-
liche Untertanen treue. Aus der schwerlastenden Erhaben-
heit des mittelalterlichen Rechtsbegriffs werden wir also
12 Fritz Kern,
nicht folgern, daß auch in Wirklichkeit das Recht besonders
heilig geachtet war. Wir wollen hier überhaupt nicht kultur-
geschichtlich den Wert und Einfluß des hochgespannten
mittelalterlichen Rechtsbegriffs auf das Leben zu schildern
versuchen, weder seine schöpferische, kulturbringende und
vergeistigende Kraft noch auch seine unheilvolle Gestal-
tungsgabe für unklare Zuständigkeiten wie für Heuchelei;
wir begnügen uns mit der einfachen Feststellung praktischer
Unhandlichkeit eines so vielsinnig bepackten und undeut-
lichen Begriffs, und wollen im übrigen zunächst nichts,
als diesen Begriff selber darstellen und deutlich machen.
Die Sprache hütet oft die Begriffswelt eines entschwun-
denen Zeitalters und überliefert sie in ihrer veralteten Logik
künftigen Geschlechtern. Wir haben in unserer altertüm-
Hchen Sprache auch noch ein Denkmal für diese einstmalige
Einerleiheit von Recht und Moral; wir können das was
„recht*' ist, von dem was „Recht*' ist, nur durch das Gewalt-
mittel der Rechtschreibung unterscheiden. i)
Es ist nun verständlich, in welchem Sinn dem Recht
für die mittelalterliche Auffassung das Merkmal des Gut-
seins unerläßlich ist, und wir wenden uns somit einem dritten
Satze zu:
3. Das gute alte Recht ist ungesetzt und unge-
schrieben.
Wir sind jetzt imstande, besser zu verstehen, warum das
alte Recht und das gute Recht verschwistert sind und so-
zusagen zusammenfallen. Das moderne Recht ist immer
irgendwie vom Staat gesetzt. Das mittelalterliche Recht
ist einfach; der mittelalterliche Denkbrauch empfindet es
nicht als menschlich gesetzt, sondern es ist schlechthin
ein Teil des Guten, Gerechten, das immer ist, so wie das
Böse (nach dem kirchenväterisch-mittelalterlichen Begriffs-
^) Wo aber diese versagt, wie z. B. in dem Wort „Rechtschrei-
bung" selber, da können wir aus dem Begriff die alte Unklarheit nicht
einmal sprachlich beseitigen. Verpflichtet die „Rechtschreibung"
rechtlich oder nur sittlich-sittenhaft zu ihrer Befolgung? Die Doppel-
deutbarkeit der Wortverbindungen mit „Recht" bleibt also be-
stehen.
Recht und Verfassung im Mittelalter, 13
realismus) niemals etwas ist als nur die Privation des
Guten, die Verneinung des Seienden schlechtweg, also in
Wirklichkeit nichts.^) Wir haben oben gesagt, das moderne
Recht sei gegenwärtiges Recht vom Tag der Setzung ab bis
zum Tag der Aufhebung; vorher war es künftiges Recht,
nachher wird es veraltetes Recht sein, beidemal also nicht
wirkliches Recht. Das moderne positive Recht hat weder
vor seiner Setzung, noch während seiner Gültigkeit noch nach
seiner Aufhebung jemals die Eigenschaften, alt oder gut zu
sein. Das mittelalterliche Recht dagegen, das die Termine
der Setzung und der Außerkraftsetzung nicht kennt, ist
nicht sowohl gegenwärtig als zeitlos. Nur gutes Recht ist
wirklich, einerlei ob der menschliche Gesetzgeber und Richter
es erkennt oder verkennt, d. h. nach unseren Begriffen,
einerlei ob es positives oder „nur" ideales Recht sei. Das
Verhalten des Gesetzgebers und Richters zum Recht ist nur
ein Schatten, der über es dahinhuscht: er kann es verdunkeln,
aber nicht beseitigen, denn das Recht ist wirklich, die etwaige
Verdunkelung durch das ,, rechtswidrige'* positive Recht
oder durch Vergessen ist ein wesenloses Nichts, eben ein
Schatten, der über ein in sich bestehendes körperhaftes
Ding hinweggleitet. Das echte gute Recht besteht auch in
1) Das Gute ist, das Schiechte ist nicht; das Sein hat Grade,
und der höchste Grad des Seins fällt zusammen mit dem höchsten
Grad des Guten. Dieser neuplatonische Bestandteil mittelalterlicher
Wissenschaft durchdringt auch außerhalb der eigentlichen Wissen-
schaft die bewußte oder unbewußte mittelalterliche Weltanschauung.
Ja, er ist eines der Hauptkennzeichen moralisierter Weltanschauung
überhaupt. Besonders bedeutsam aber erscheint diese Grundform
mittelalterli<:her Anschauungsweise bei dem Grundsatz des seienden
guten Rechts.
Daß das Recht nicht gesetzt, sondern gefunden wird, hat im kirch-
lichen Recht darin seine Parallele, daß das Recht aus Offenbarungs-
tatsachen erfließt, die vom Gesetzgeber nur in ihren Folgerungen zu
entwickeln sind und durch ihren göttlichen Ursprung über dem welt-
lichen Recht stehen.
Auch des Gottesurteils ist hier zu gedenken. Das Recht ist die
heilige Gerechtigkeit, die in den sapientes unter den Menschen wieder-
klingt. Zuweilen aber ist es unmöglich oder unschicklich, daß Menschen
es finden; dann muß Gott selbst es offenbaren. Vgl. z.B. Widukind
2. 10.
14 Fritz Kern,
der Zeit seiner Verdunkelung unverbrüchlich fort. Es ist
gegenüber der Verdunkelung „alt"; ob man sagt: das gute
Recht oder das alte Recht ist gänzlich gleichbedeutend.
Wenn das Recht aber nicht an einer Setzung kenntlich,
wenn es ferner nicht am bloßen Alter erkennbar ist, weil
es auch altes Unrecht gibt, sondern es vor allem gut, folglich
auch alt sein muß: woran erkennt man es dann mit Bestimmt-
heit? Wo wird das Recht gefunden?
Es wird gefunden einmal dort, wo alles Moralische seinen
Sitz hat, im Gewissen, und zwar, da das Recht die einer
Volksgesamtheit gemeinsamen Gebiete des Rechten umfaßt,
im Gesamtgewissen des Volks, im Rechtsgefühl der Volks-
gemeinde oder ihrer Vertrauensmänner, der erlesenen Schöf-
fen. Nicht irgendein gelehrtes Wissen oder ein Buch ist
ihnen vonnöten, sondern nur, daß sie das „normale" Rechts-
gefühl der Gesamtheit besitzen, daß sie sapientes, prud'-
hommes, Biedermänner seien.
Das Recht wird aber zweitens gefunden in alten Über-
lieferungen. Alles gute und echte Recht war nach der all-
gemeinen Überzeugung schon irgendwie in dem legendären
Recht eines sagenhaften Gesetzgebers, eines ehemaligen,,
besonders starken und weisen Königs enthalten.
Wir bemerken also einen zwiefachen Fundort des R'ichts.
Es wäre reizvoll, rechtsphilosophisch der Zweihei* dieser
Brennpunkte nachzugehen, in denen sich Rechtsgefühl und
Herkommen wechselseitig ineinander projizieren. Das Mittel-
alter denkt aber gar nicht über das Problem dieser Zweiheit
nach, es nimmt sie naiv als gegeben. Es rätselt nicht über
den „Volksgeist", sondern ist überzeugt, daß in der Brust
der Schöffen und in den alten Überlieferungen ein und das-
selbe lebt, daß die Schöffen aus der Erinnerung ,, finden"^
was die Alten schufen, also nach wahren guten Überliefe-
rungen zeugen, und daß grundsätzlich diese Überliefe-
rungen trotz aller etwaiger Verdunkelungen unvergänglich
leben. Durch dies Ineinanderfließen von Rechtsgefühl und
Überlieferung wird eben das alte Recht und das gute Recht
zum einen guten, alten Recht.
In der Anknüpfung des Rechts an einen mythischen
Gesetzgeber liegt scheinbar ein Widerspruch zu unserem
Recht und Verfassung im Mittelalter. 1{^
Satz von der Ungesetztheit und Ungeschriebenheit des Rechts.
Aber doch nur scheinbar. Denn jener Gesetzgeber wird
weniger als ein willkürlicher Gesetzmacher, denn als eine
besonders kräftige und deutliche Enthüllung des Wahren,
und Guten aufgefaßt. Gott ist der einzige Gesetzgeber im
vollen und wahren Sinne des Worts. Bei den Sagenherr-
schern der Vorzeit offenbart sich sozusagen das Recht;
auch sie schaffen es nicht, aber sie bringen es an den Tag
und pflanzen seine Herrschaft unter den Menschen auf.
Auch sie sind, wie alle Staatsgewalt, unter, nicht über dem
Recht. Aber als eine Art von Propheten oder Heroen rücken
sie allerdings über Menschenmaß hinaus in die Nähe gött-
licher Wirkungskräfte; sie können wohl dann auch als.
Schopf er des Rechts selber verehrt werden, sobald sie über-
menschliche Kräfte haben. Unserer Behauptung, daß das
Recht nicht von Menschenwitz oder Menschenwille gesetzt
sei, widerspricht das nicht, bekräftigt sie vielmehr.
Auch geschrieben ist dies Recht des mythischen Gesetz-
gebers nicht. Es ist überaus dehnbar und unbestimmt:
alles Gute hat darin Platz, alles Schlechte ist eine spätere
Abweichung und Verderbnis, die wieder abgestellt werden
sollte.
Allerdings hat man auch im Mittelalter Rechtssätze
aufgezeichnet. Es gibt kein geschriebenes, aber aufgeschrie-
benes Recht. Dieser Umstand erfordert sorgfältige Er-
wägung. Wir stehen hier an der geschichtlichen Naht zwi-
schen Gewohnheits- und Satzungsrecht.
Zunächst wird hie und da als Gedächtnisstütze für
Zweifelsfälle, um die Überlieferung stet und eindeutig zu
halten, ein oder das andere Stück Rechts aufgezeichnet.
Der Träger eines subjektiven Rechts, wie wir es nennen^
läßt mit publica fides des Herrschers oder eines Notars sein
Recht beurkunden. Die Gesamtheit des Volkes schreibt
einige Sätze ihrer Rechtswelt feierlich und authentisch nieder^
so daß der Wortlaut den Nachkommen erhalten bleibt.
Oder ein einzelner Privater, wie wir es nennen, verbucht
ohne Auftrag, nur aus dem Gewissen eines „Schöffen"
heraus, was er vom objektiven Recht kennt, wie wir sagen
würden, oder was er als gutes altes Recht weiß, wie man im
16 Fritz Kern,
mittelalterlichen Sinne sagen würde. Dies sind die drei
Formen der Rechtsaufzeichnung, die das Mittelalter kennt,
die Urkunde, das Volks recht (bzw. das authentische
Recht irgendeiner Gesamtheit) und das Rechtsbuch,
drei Rechtsquellen verschiedenen Rangs, aber für die mittel-
alterliche Bewertung selbst nicht von so großen Unterschie-
den, wie es uns scheinen müßte.
Alle diese drei aufgeschriebenen Rechtsausschnitte haben
nämlich neben oder über sich noch das lebende Rechts-
gefühl bzw. mündlich überlieferte Recht, das allein die
Ganzheit des Rechts darstellt. Jenes aufgeschriebene
Recht ist kein Satzungsrecht (mit Ausnahme der vertrag-
lichen subjektiven Rechte, die natürlich auch im Mittel-
alter aus dem Willen der Kontrahenten gesetzt sind), son-
dern einfach aufgeschriebenes Gewohnheitsrecht, wie wir
es nennen; immer bleibt es nur ein Bruchstück von jener
Ganzheit, die einzig und allein in der Brust der Rechts-
gemeinde lebt.^) I
Dem entgegengesetzt ist der moderne Zustand des
Satzungsrechts, das seinem Wesen nach geschriebenes
Recht sein muß. 2) Denn es besitzt die Ganzheit des Rechts
in dem wörtlich fixierten Gebot der Autorität. Es ist ein
^) Im aufgeschriebenen mittelalterlichen Recht finden sich denn
auch oft Ausdrücke und Bestimmungen, die nicht das Vollgewicht haben,
wie jedes Wort aus einem Kodex, so z. B. von vornherein unlebendige
Bestimmungen, drakonische, niemals angewandte Strafen, sogar scherz-
hafte Einfälle und theoretische Arabesken. Rechtsschreiber des Mittel-
alters durften sich solche Launen leisten, da ja das Rechtsleben an ihre
Sätze nicht strikt gebunden ist und nur das wirklich Lebendige aus
ihnen festhält und anwendet. So konnte der Rechtsschreiber auch ge-
radezu unanwendbare und nie angewandte Sätze niederschreiben,
ohne das Vertrauen des Volks zu verscherzen, wenn nur seine phantasie-
voll, theoretisch oder symbolisch aufgestutzten Sätze durch ihren tie-
feren Sinn als Maximen, dem allgemeinen Rechtsbewußtsein gefielen.
2) Dem Geschriebensein verwandt erschiene auf den ersten Blick
buchstäbliches Memorieren des Rechts durch alle zur Rechtsanwendung
Befugten, etwa in der Art, wie die Veden überliefert worden sind.
Aber auch wo im Mittelalter das Recht buchstäblich memoriert wird
(vgl. unten S. 29), ist es natürlich nur bruchstückweise aufgeschrie-
benem Gewohnheitsrecht und nicht dem als Totalität geschriebenen
Satzungsrecht gleichzuachten.
Recht und Verfassung im Mittelalter, 17
Kodex, der den Anspruch auf systematische Vollständigkeit
erhebt und folglich für alles, was nun außer diesen fixierten
Sätzen noch Recht sein soll, die formale, technische For-
derung erhebt, irgendwie aus dem Ergebnis jenes Kodifi-
kationsaktes ableitbar zu sein. Auch die lebendige Fort-
bildung des Rechts aus dem Rechtsgefühl, etwa bei uns die
Rechtssprechung des Reichsgerichts, ist formal und technisch
nur insoweit möglich, als die Verfassung bzw. das kodifi-
zierte Recht eine Behörde einsetzt, der in gewissen Grenzen
die Rechtsfortbildung, als Lebensfunktion des kodifizierten
Rechts übertragen ist, und alle Rechtsfortbildung erscheint
hier nur als Erläuterung, Anwendung, Individualisierung des
als Ganzheit und als allumfassend geltenden Satzungsrechts. i)
Der Gegensatz zwischen Herkommensrecht und ge-
setztem Recht läßt sich also kurz so zusammendrängen,
daß die Ganzheit des Rechts hier in einem Kodex (= ge-
schriebenemRecht), dort in schwebendem Rechtsgefühl
liegt. Aufgeschriebenes Gewohnheitsrecht ist darum immer
nur Bruchstück. Die Nutzanwendung dieses Satzes werden
wir sogleich im mittelalterlichen Rechtsleben beobachten.
4. Altes Recht bricht jüngeres Recht.
Bei uns bricht selbstverständlich neueres positives
Recht das ältere. Das ist ja der Sinn und Zweck seiner
Setzung überhaupt. Es wäre ein Hohn, wollte das ältere,
mit der Heiligkeit größeren Gutseins umkleidet, Lebens-
ansprüche gegen das jüngere geltend machen. Der mittel-
alterliche Grundsatz wäre für uns ebenso unsinnig, wie wenn
mein Urahn mich beerben wollte. Für die mittelalterliche
Vorstellung aber paßt ein ganz anderes Gleichnis: wenn altes
Recht jüngeres bricht, so weicht ein junger Fant dem ehr-
würdigen Greis aus dem Wege, oder, noch genauer: der Ein-
dringling weicht, wenn der rechtmäßige Besitzer heimkehrt.
Es kann ja auch im modernen Rechtswesen vorkommen,
daß das jüngere Recht einen Rechtsirrtum enthält: dann
wird eben ein neues (drittes) positives Recht geschaffen,
welches zu dem ersten zurückkehrt. Aber in allen drei Zu-
1) Vgl. oben S. 9 f.
Historische Zeitschrift (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd.
18 Fritz Kern,
ständen ist dann das gültige Recht dasjenige, welches der
Staat zu der betreffenden Zeit gesetzt hat. Nach mittel-
alterlicher Vorstellung besteht das erste Recht einfach
auch während des zweiten Zustandes verdunkelt fort und
stellt im dritten Zustand sich selber wieder her.
Was heißt überhaupt älteres Recht? Unter der Herr-
schaft ungeschriebenen Herkommens ist das Alter zumeist
nicht in der Art festzustellen, wie bei kodifiziertem, da-
tiertem Satzungsrecht. Das „alte" Recht ist hier mehr eine
Qualitätsbezeichnung als eine genaue Zeitfeststellung. Das
Recht, welches man für das bessere hält, wird man bis zum
Beweis des Gegenteils auch immer für das ältere erklären.
Im übrigen liegen die Fälle sehr mannigfaltig, wovon schon
oben ein Beispiel aus dem Sachsenspiegel gegeben worden
ist.^) Ein andermal wird man das Recht eines soeben ge-
storbenen unbeliebten Herrschers in Gegensatz bringen zu
dem idealen Recht des mythischen Gesetzgebers, wird jenes
als neues, schlechtes Recht widerrufen und das Recht des
mythischen Gesetzgebers wiederherstellen, das indes viel-
leicht doch auch einigen zu achtenden Rechtsneuerungen
widersprechen würde, so daß man dann auch das mythische
Gesetzgeberrecht als vielleicht teilweise verderbt überlie-
fert und verbesserungsfähig hinstellt: kurz, man hilft sich,
wie man kann, um ohne Verletzung der Rechtstheorie doch
dem praktischen Bedürfnis des Augenblicks zu dienen. 2)
Jedenfalls wird man dem Recht, das man haben will, stets
möglichst die Eigenschaft ehrwürdigen Alters zusprechen. 3)
1) Siehe S. 4.
2) In diesem Sirin erklärt Heinrich I. von England 1100 (W.
Stubbs, Select Charters of English constitutional history, 8. Aufl., 1900,
S. lOOf.): Omnes malas consuetudines quibus regnum Angliae iniuste
opprimebatur, inde aufero . . . Legem Edwardi regis vobis reddo cum
Ulis emendationibus, quibus pater meus eam emendavit consilio baronum
suorum. Das Recht Eduards des Bekenners, d. h. die guten Gewohn-
heiten der angelsächsischen Zeit, sollen wiederhergestellt werden mit
Ausnahme der guten, d. h. von den Volksvertretern gutgeheißenen
normannischen Abänderungen oder „Verbesserungen". Über das Ein-
treten der Volksvertretung als Quelle des Rechtsgefühls vgl. unten
S. 52 ff. und zu dem angeführten Beispiel MSt. 1, 468.
») Darüber vgl. den nächsten Abschnitt.
Recht und Verfassung im Mittelalter. 19
Besonders leicht konnte man die heikle Theorie von dem
alten Recht, welches das neue bricht, mit den auch im Mittel-
alter nach neuem Recht verlangenden praktischen Verhält-
nissen dann in Einklang setzen, wenn weder das ,,alte**
noch das ,,neue" Recht bestimmt datiert waren. Es^ab indes
auch schwierigere Fälle; auch ihrer wurde die Praxis Herr,
die sich niemals von einer Theorie endgültig in Fesseln
schlagen läßt.
Im Jahr 819 entdeckten die Franken einen Widerspruch
zwischen einem gewohnheitsrechtlichen Ehebrauch und dem,
was die Lex Salica darüber bestimmte. Mußte man nun
nicht den lebendigen Brauch als eine schlechte Neuerung
gegenüber dem ausdrücklichen Zeugnis des ehrwürdigen
Volksrechtes, welches das alte Väterrecht sei, verwerfen und
rückgängig machen? Die Franken bestimmen einfach, der
Ehebrauch solle so gehandhabt werden, „wie es bis jetzt
die Altvordern gehalten haben*', und „nicht so, wie in der
Lex Salica geschrieben steht**.
Man könnte vielleicht denken, hier läge die Rechts-
regel zugrunde, daß Gewohnheitsrecht Gesetzesrecht breche.
Aber nichts wäre falscher als diese Auslegung. Jener Rechts-
grundsatz ist bezeichnend für das Zeitalter, welches zwischen
dem reinen mittelalterlichen Gewohnheitsrecht und dem
reinen modernen Gesetzesrecht geschichtlich und logisch
in der Mitte steht. In der Moderne ist dieser Satz unsinnig,
da das Gewohnheitsrecht theoretisch zum Bestandteil und
dienenden Glied des Gesetzesrechts geworden ist und nur
innerhalb des von diesem gezogenen Rahmens waltet.^)
Für das Mittelalter ist diese Rechtsregel überhaupt unvor-
stellbar, da ja Gesetzesrecht nichts ist als aufgeschriebenes
Gewohnheitsrecht. Jene Rechtsregel ist dagegen unent-
behrlich geworden für das gelehrte romanistische Pandekten-
recht, welches ein totes, wiederausgegrabenes Gesetzesrecht
cum gram salis auf eine veränderte Gegenwart wieder anzu-
wenden hatte. Für das Mittelalter dagegen ist, wie ge-
sagt, „Gesetzesrecht" nichts als Gewohnheitsrecht, aufge-
zeichnet, damit seine an sich stets vorhandene unbegrenzte
1) Vgl. oben S. 10.
2*
20 Fritz Kern,
Geltung vor dem Vergessenwerden gesichert sei. Eine
diesem „Gesetzesrecht", d. h. fixiertem ÜberHeferungsrecht,
widerstrebende neue Gewohnheit ist also Mißbrauch, Un-
recht.
Wenn dem aber so ist, mußten sich dann nicht die Fran-
ken des Jahres 819 dem wider ihre Gewohnheit zeugenden
Buchstaben der Lex Salica unterwerfen? Nein, denn sie
empfanden hier keinen feindlichen Gegensatz zwischen
freiem „modernem** Rechtsgefühl und aufgeschriebenem
„altem" Gewohnheitsrecht: vielmehr, auch hier brach gutes
altes Recht schlechtes neues. Wie wurde das dargestellt?
Nun, sehr einfach. Ein in lebendiger Überlieferung bewußt
gegenwärtiger Altvordernbrauch siegte über ein aufgeschrie-
benes totes Latein, über einen Schriftsatz, der für die Auf-
fassung der Franken von 819 weiß Gott wie in die Lex Salica
hineingekommen war, vielleicht durch einen Schreibfehler
oder eine Einschaltung oder möglicherweise auch durch eine
,, unrechte" Gewohnheit der Lex Salica-Verfasser, die ja
auch irren können, soweit ihnen nicht göttliche Eingebung
die Feder führt. Man sieht hier, wie sich die Praxis zu helfen
wußte, ohne die Theorie zu verletzen.
Schwieriger aber war dies, wo das aufgeschriebene Recht
einen authentischeren Charakter trägt, als dies bei einem
Volksrecht der Fall ist, also bei der Herrscherurkunde.
Hier wird in der Tat die Theorie zuweilen doch auch Herr
über die Praxis.
Es war unmöglich, eine aus dem Nichts plötzlich auf-
tauchende alte Königsurkunde beiseite zu setzen, wenn man
sie für echt halten mußte. Mochte sie auch in den jetzigen
Rechtsverhältnissen daliegen wie ein erratischer Block
und bereits altbestehende Rechtszustände umstoßen: sie
war und blieb Recht, und brach alle jüngeren Herrscherurkun-
den, die nicht ausdrücklich jene ältere ausnahmen. Was
haben z. B. mittelalterliche Fürsten von König Pipin ange-
fangen nicht alles verfügt und verschenkt, im Glauben,
gutes, altes Recht wiederherstellen zu müssen, wenn man
ihnen ein Stück wie die Konstantinische Schenkung vor
Augen hielt!
Recht und Verfassung im Mittelalter. 21
Man muß hier unterscheiden zwischen Rechtsbestim-
mungen, welche den Zustand Einzelner im Volke, z. B.
das Besitzrecht an einem Acker, und solchen, welche den
Zustand Aller oder doch generell Vieler betrafen, z. B. Erb-
rechtsbestimmungen oder Leistungen an den Herrscher.
Bei Fällen der ersten Art kann der Rechtszustand vertrag-
lich geändert werden, bei Fällen der zweiten Art wird er der
Theorie nach nicht geändert, in Wirklichkeit aber befindet
die Volksgesamtheit^) jederzeit frei, was rechtens sei. Herr-
scherurkunden, die im Rechtsleben herangezogen werden,
sind fast immer derart, daß eine interessierte Partei sie vor-
bringt. Da bricht nun die ältere Herrscherurkunde die
jüngere, wenn aus der jüngeren nicht ausdrückhch hervor-
geht, daß sie in Kenntnis jener älteren erlassen ist. Das
hängt mit der schlechten Aufbewahrung der Urkunden zu-
sammen: der Herrscher urkundet zwar mit publica fides,
aber lange nicht so zuverlässig wie ein modernes Grund-
buch: es ist verhältnismäßig leicht, von ihm eine Urkunde
unter ungenügender, parteiischer Kenntnis der Tatsachen
zu erschleichen. 2) Wird deshalb ein Rechtsverhältnis durch
Vertrag geändert, so muß sich die interessierte Partei für den
Fall, daß über den früheren Rechtszustand eine Königs-
urkunde bestand (und wer wollte mit Sicherheit wissen,
ob sie nicht bestand und irgendwoher auftauchte?), sichern,
indem sie eine Königsurkunde erwirkte, welche etwa ent-
gegenstehende ^ältere Urkunden ausdrücklich widerrief.
Auch dann lag es nicht so, daß man nun unbedingte Gewähr
dafür hatte, daß der Herrscher in voller doppelseitiger
Kenntnis des Tatbestandes urkundete; auch jetzt noch können
für die Rechtsgültigkeit des durch eine ältere Urkunde be-
zeugten Zustandes gegenüber dem durch die jüngere Ur-
kunde bezeugten unter Umständen Gründe angeführt wer-
den. Hoffnungsloser aber wird die Sache für die jüngere Ur-
kunde, wenn sie es versäumt, ältere Urkunden zu wider-
rufen, und am hoffnungslosesten steht das neue Recht dann
da, wenn die tatsächliche jüngere Rechtslage überhaupt
keinen urkundHchen Rückhalt aufweisen kann und ihr auf
1) Vgl. unten S. 52 ff.
2) Vgl. unten S. 32 ff.
22 Fritz Kern,
einmal ein ehrwürdiges Herrscherpergament einen anderen,
älteren Rechtszustand, der denn der eigentlich sein sollende
ist, gebieterisch entgegenstreckt. Im Zusammenstoß einer
älteren mit einer jüngeren Urkunde aber gilt der Satz:
ut praecepta facta, quae anteriora essent, firmiora et stabiliora
essent,^)
In diesen Verhältnissen berühren wir eine der Haupt-
krankheitsquellen des mittelalterlichen Rechtslebens, seiner
großen Unsicherheit, des Herumtappens im Nebel, sobald
eine alte Urkunde auftaucht, oft zur Wut, Verachtung und
zum deutlich ausgesprochenem Argwohn der damit Über-
fallenen Gegenpartei 2); hier berühren wir auch schon das
Gebiet der mittelalterlichen Fälscherindustrie. Wobei wir
jetzt ohne weiteres einsehen, daß dieses Gewerbe nicht
nur um deswillen möglichst alte Herrscher für seine Mach-
werke wählt, weil deren Urkunden sich der Nachprüfung
leichter entziehen, sondern vor allem um deswillen, weil
eine Urkunde um so kräftiger und vor Entwertung sicherer
ist, je älter sie sich gibt. So geht der Fälscher bis zu Kon-
stantin und Cäsar zurück.
Wir unterschieden vorhin der praktischen Deutlichkeit
(nicht um irgendeines begrifflichen Grundes) willen zwischen
Urkunden, die nur Sonderrechte, und solchen, die auch all-
gemeines Recht betreffen. Diese Unterscheidung müssen
wir nun wieder zuschütten, denn sie ist gänzlich unmittel-
alterlich. Nicht nur unterscheidet das Mittelalter nicht
zwischen objektivem Recht und subjektivem Recht. 3) Nicht
nur ist ihm jeder Stein des Rechtsgefüges, des objektiven
Rechts als Gefüge aller subjektiven Rechte, nach seiner
edlen, idealen Grundauffassung gleich heilig und wert, das
Äckerlein irgendeines Hörigen wie der Grenzstein des Reichs,
die Gefälle eines Burgmanns wie die Gerichtsverfassung des
Volkes. Sondern, um bei unserer Frage zu bleiben, die
„Privaten*' (wie wir sagen würden) lassen sich mit Vorliebe
1) Vgl. Breßlau, Urkundenlehre P (1912), 6451.
2) Lebhafte Äußerungen ebenda 651 f. Auf die hiermit ange-
schnittene Frage der Beweiskraft von Privaturkunden einzugehen,
erlaubt die Allgemeinheit unseres Gedankenganges nicht.
3) Siehe S. 31.
Recht und Verfassung im Mittelalter. 23
gerade auch solche Rechte verbriefen, die einen allgemeinen
Charakter an sich tragen, die wir als öffentlich-rechtliche
bezeichnen würden. i)
Taucht nun eine solche Urkunde auf, echt oder gefälscht,
welche dem tatsächlichen öffentlich-rechtlichen (wie wir
sagen würden) Zustand des Zeitalters widerspricht, in wel-
chem sie auftaucht, so entsteht die schwierige Frage: kann
man sie wegen dieses Widerspruchs zu offenkundig tatsäch-
lichen Zuständen als Fälschung abtun? Oder kann man die
Wiedereinführung des Zustandes der Urkunde beschränken
auf den Urkundenvorweiser selbst, ohne die allgemeinen
Zustände wieder zurückzuschrauben? Oder müßte man
eigentlich allgemein zurückreformieren? Hier, bei Gegen-
ständen von allgemeinerem Belang, entschieden natürlich
vielfach Gesichtspunkte der Politik, Macht und Opportunität
darüber, wie man sich zu der Urkunde stellte. 2) Ich erinnere
nur an das Privilegium Majas des Herzogs von Österreich.
Aber der allgemeine Grundsatz, von dem wir ausgegangen
sind, daß älteres Recht jüngeres bricht, wurde dabei niemals
bestritten, und er konnte ja auch so wenig abgeleugnet
werden wie der Satz, daß das Gute gut und das Schlechte
schlecht sei.^) Hieraus folgt nun ein weiterer Satz:
1) Vgl. unten S. 39 f.
*) Über Kompromißversuche zwischen altem und neuem Recht
vgl. unten S. 41.
3) Ohne auf das Kirchenrecht näher einzugehen, sei doch so viel
bemerkt, daß es durch seine Natur den allgemeinen Grundsatz be-
stätigt, daß altes Recht das jüngere bricht. Vgl. MSt. 1, 292, 272.
Denn das allerälteste Recht ist auch das gottnächste, stärkste Recht.
Nach der Offenbarung in den Evangelien folgen in absteigender Kraft
die weiteren Rechtsquellen: Apostel, vier alte Konzilien, jüngere Kon-
zilien, endlich die Dekretalen usf. In c. 21, C. 25 qu. 2 stellt Gratian
in Erörterung eines Wortes des P. Pelagius I. fest, daß der Papst ein
von einem seiner Vorgänger erteiltes Privileg nur pietatis vel necessi'
tatis intuitu abändern könne. Im übrigen aber wächst gerade aus
den Machtbefugnissen, die das Kirchenrecht dem Papst zuerteilt,
auch der jüngere Zustand heraus, daß neues Recht altes bricht. Vgl.
A. Hofmeister in Festschrift für Dietrich Schäfer (1915) 119, 1.
In MSt. 1, 289ff. und H. Z. 115, 507 f. hatte ich mit einigen Worten
auch die Rolle des Kirchenrechtes gestreift, ohne aber diese schwierige
Frage auch nur im entferntesten lösen zu wollen. Hier möchte ich mich
24 Fritz Kern,
5. Rechtsneuerung ist Wiederherstellung guten
alten Rechts.
Sehen wir einen Augenblick auf die mittelalterliche
Weltanschauung als Ganzes. Sie kennt nicht die Denkform
der Entwicklung, des Wachsens und sich selber Emporbauens,
sie betrachtet die menschlichen Vorgänge nicht biologisch
(trotz dem aus der Antike geerbten, aber rein morphologisch
erstarrten Organismusvergleich d.es Gesellschaftskörpers). Sie
kennt ein ruhendes, gradweis abgestuftes^) Sein. Das zeitlos
Starre, Apriorische der Ethik, nicht das Werden, sondern
das Soll beherrscht ihre Anschauung von menschlichen
Dingen. Diese Grundform des gebildeten Denkens im Mittel-
alter verbindet sich leicht der germanischen volkstümlichen
Gewohnheit, das Recht als alt und bleibend, als ruhend und
in seiner Ruhe zu schützend anzunehmen. Germanische Volks-
überlieferung und kirchlich-ethische Bildung vereinigen sich,
um einen beharrenden, rein verteidigungshaften, nicht voran-
treibenden, sondern in die Unveränderlichkeit des Zeit-
losen zurückgezogenen Rechtsbegriff zu schaffen.
Das Leben aber schafft auch im Mittelalter täglich Neues ;
nur muß es dies Neuschaffen vor seinem eigenen theoreti-
schen Gewissen mit dem beharrenden Rechtsbegriff in Ord-
nung und Gleichklang bringen. Änderung und Erneuerung
des Rechts ist möglich, ja geboten, sobald sie Wiederher-
stellung ist, bzw. als solche sich gibt: Kein Umsturz, keine
Entwicklung, aber fortwährende Enthüllung, Klärung, Rei-
zurückhalten in der Hoffnung auf Unterstützung von berufenerer
Seite. Das mittelalterliche Bewußtsein unterscheidet ja das Kirchenrecht,
wie auch das Lehnsrecht usw. lange nicht mit so bestimmter Abgrenzung
vom allgemeinen Recht, wie dies die spätere Jurisprudenz tut. Der
Rechtsbegriff des Mittelalters ist ein viel einheitlicherer als man gewöhn-
lich annimmt. Anderseits aber sprengt gerade das Kirchenrecht ma-
teriell den mittelalterlichen Rechtsbegriff durch seine antiken Bestand-
teile, seinen Offenbarungscharakter, seine Kirchenverfassung. Diese
Verwandtschaft wie diese Gegensätzlichkeit des Kirchenrechts zu dem
allgemeinen mittelalterlichen Rechtsbegriff kann nur ein Fachgelehrter
zutreffend darstellen. Auch die Auffassung bei A. J. Carlyle, Mediaeval
political theory ist noch recht lückenhaft.
1) Vgl. oben S. 12f.
Recht und Verfassung im Mittelalter. 25
nigung des wahren guten Rechts, das ewig im Kampf liegt
mit Unrecht, Trübung, Mißverstand und Vergessen. i)
Wenn ein Recht zweifelhaft geworden ist, so sagen die
zum Weistum aufgeforderten Weisen nicht, was als Recht
gesetzt werden soll. Sondern sie finden in ihrem Wissen
und Gewissen, was rechtens gewesen ist und folglich zu recht
besteht. Sie können sich darin täuschen: ihr Rechtsbewußt-
sein kann tatsächlich ein Recht finden, das noch nie bestan-
den hat. Ja, sie können vielleicht selbst ein Bewußtsein davon
haben, daß sie eine Neuerung vollziehen. Aber sie sagen es
nicht. Sie können es nicht sagen, daß sie neues Recht schaf-
fen, so wenig wie etwa ein moderner Gesetzgeber sagen
darf, daß er aus selbstsüchtiger Willkür, Klassengeist o. dgl.
Recht setze. Denn wenn auch das Mittelalter in Wirklich-
keit jeden Tag neues Recht schafft, so darf es doch unter
dem Zwang seiner Begriffswelt nichts anderes dafür aussagen,
als daß das vernünftige, billige Recht auch das alte ist. Die
„erste Anwendung eines Rechtssatzes'* bezeichnet sich
darum, wie wir sahen, im Mittelalter niemals als solche.^)
Zwar haben mittelalterliche Gesetzgeber häufig ausdrück-
lich, um mit Saxo Grammaticus zu reden, „ruchlose Gesetze
abgeschafft und heilsame gegeben". Dann ersetzten sie
aber für ihre Anschauung nicht positives Recht durch anderes
positives, sondern sie leiteten die Ströme des echten Rechts
wieder zurück in das zeitweilig vom Unrecht versumpfte
Bett. Der bezeichnende Ausdruck für mittelalterliche
Rechtsform ist legem emendare, das Recht von seinen Ver-
unstaltungen befreien. Man stellt Recht und Gesetz wieder
her, wie sie in den guten Tagen König Erichs (in Schweden),
Eduards des Bekenners (bei den Anglonormanen), Karls
des Großen (bei Deutschen und Franzosen) oder sonst eines
mythischen Gesetzgebers gewesen waren. 3)
fi) Weder Evolution, noch Revolution, sondern Reformation.
2) Vgl. oben S. 5 f.
3) Indem für das Reichsrecht der fromme Kaiser Justinian diese
Stellung überkommt, mündet das mittelalterliche Recht, zuerst das
(damit neuerstehende) Staatsrecht in das römische ein. Hier stößt man
auf die Erscheinung, daß das Römische Recht, welches zusammen mit
dem Kirchenrecht allmählich den mittelalterlichen Rechtsbegriff
sprengt, doch zunächst unter dessen Schutz und Hülle, sozusagen naiv,
rezipiert wurde, ja überhaupt nicht anders rezipiert werden konnte.
26 Fritz Kern,
Häufiger als im (wie wir es nennen) Privatrecht gab es
freilich in den öffentlichen Angelegenheiten Rechtsfälle,
für welche der Natur der Sache nach ältere Rechte weder
angeführt noch vorausgesetzt werden konnten. Aber auch
da kommt es vor dem Zeitalter der Rezeption kaum vor,
daß die Urteiler offen sagen, sie hätten beim Fehlen vor-
handener Rechtsregeln nach ihrem arbitrium entschieden.
Eine so unmittelalterliche Formel weist auf das Bestehen
einer gewissen gelehrten Jurisprudenz hin.^) Allerdings gab
es gewisse Fälle einer, auch von dem mittelalterlichen Rechts-
begriff geduldeten Rechtsneuschöpfung: der Herrscher kann
Privilegien frei erteilen, wenn dadurch niemand Unrecht
geschieht. Er kann z. B. von dem Seinigen schenken, so-
weit dadurch nicht die Gesamtheit Schaden erleidet. Das
(objektive) Recht wird aufgefaßt wie ein riesiger Knäuel
untereinander verknüpfter (subjektiver) Berechtigungen.
Keine Berechtigung darf außer durch freien Vertrag oder
Rechtsverwirkung beseitigt werden. Aber wo Leerräume
zwischen den Berechtigungen liegen, da darf der freie Wille
eingreifen und neue Fäden knüpfen. Diese Selbstverständ-
lichkeit durchbricht aber nicht die allgemeine Regel, daß
wo ein Recht streitig ist, der gute alte Brauch und nicht die
setzende Willkür Lebender maßgebend sein soll. Mit dem
Grundgedanken der Wiederherstellung des guten alten Rechts
gewann im allgemeinen die mittelalterliche Gesellschaft
schon die für ihre Bedürfnisse genügende Freiheit, das be-
stehende Recht nach ihrem jeweiligen Rechtsgefühl elastisch
fortzubilden. Man reformierte, indem man der Theorie
nach zurückreformierte, und hatte darin freie Hand, soweit
nur eben nicht beurkundete subjektive Rechte und Privi-
legien ein Rührmichnichtan wurden und starr die Entwick-
lung des objektiven Rechts hemmten. 2)
1) Vgl. Brie a. a. O. 263; für die langobardische Jurisprudenz
264, 29.
2) Nur mit einem Wort sei daran erinnert, wie sehr z. B. vom Kir-
chenrecht aus der Begriff der Reformatio ecclesiae, d. h. ihre Reinigung
und Zurückbildung auf den idealen Urständ, diese Denkgepflogenheiten
stützt, ebenso von der Philosophie her der Gedanke des paradiesischen
Naturrechts, wovon wir ja oben S,4f. ein Beispiel hatten.
Recht und Verfassung im Mittelalter. 27
6. Rechtsanschauung und Rechtsleben
in ihrem wechselseitigen Verhältnis haben wir schon oben,
z. B. in dem Abschnitt über das alte Recht, welches das
jüngere bricht, beobachten müssen. Wir dürfen nicht daran
denken, dies überwältigend große und schwierige Gebiet her
wirklich zu durchmessen. Nur ein paar vorläufige Wahr-
nehmungen seien noch angefügt.
Wäre das mittelalterliche Volksrecht auch nur in einiger-
maßen nennenswerter Vollständigkeit aufgeschrieben, auf-
bewahrt, nachgeschlagen und seine Aufzeichnung als echt
anerkannt worden i), so hätte sich nach dem, was wir gesehen
haben, der freie Fluß der gewohnheitlichen Rechtsentwick-
lung in ein starres und ultrareaktionäres Beharren verwandeln
müssen. Denn die Bestimmung König Pipins für Italien,
einmal urkundlich erlassenes Recht dürfe nicht mehr durch
Gewohnheit überwuchert werden^), gilt, obwohl sonst nicht
so ausdrücklich festgesetzt, dennoch theoretisch für alles
aufgezeichnete Volks- oder Königsrecht. Freilich wäre das
Gewohnheitsrecht durchweg aufgezeichnet und nach dem
aufgezeichneten Buchstaben beherzigt worden, dann hätte
es sich durch die vollkommene Erstarrung, die ihm gefolgt
wäre, selber ad absurdum geführt: oder anders ausgedrückt,
das Gewohnheitsrecht hätte dann wie Satzungsrecht be-
handelt, sich in solches auch begrifflich verwandeln müssen.
Man hätte dann notgedrungen zu dem Rechtsbegriff des
kodifizierten Rechts übergehen müssen, das durch jüngeres
kodifiziertes Recht aufgehoben wird. Für diesen Rechts-
begriff lag aber kein Bedürfnis vor, auch dort nicht, wo das
Volksrecht aufgezeichnet wurde. Denn immer weiß das auf-
geschriebene mittelalterliche Recht sich selbst nur als Aus-
schnitt aus dem allumfassenden Meer des Gewohnheitsrechts,
als Bruchstück, nicht als lückenlose Kodifikation. Die Ge-
setze, Kapitularien usf. weisen regelmäßig auf das unge-
schriebene Gewohnheitsrecht als das maßgeblich zu befol-
gende hin. Im Notfall aber, wie wir sahen, konnte man
immer die Gültigkeit, d. h. Echtheit des aufgeschriebenen
1) Zu letzterem Punkte vgl. oben S. 20.
2) Brie a. a. O. 255ff. Man vergleiche damit den entgegenge-
setzten Grundsatz, der oben S. 19 erwähnt wurde.
2S Fntz Kern,
Rechts anzweifeln, ja sogar die des beurkundeten Rechts in
sehr vielen Fällen; denn diese Aufschriebe und auch die
Beurkundungen waren kein unwegdeutbarer Kodex, son-
dern blieben bei der Art ihrer Aufzeichnung und Aufbe-
wahrung den mannigfachsten Anfechtungen ausgesetzt.
Dies alles haben wir oben schon erörtert.
Das mittelalterliche Recht zeigt theoretisch absolute
Beharrung, praktisch gemildert durch Vergeßlichkeit. Man
konnte, wenn ein „altes'' Recht wohlbezeugt in den Gerichts-
ring trat, doch fast immer annehmen, daß es, falls es dem
Rechtsgefühl der Urteiler widersprach, auch irgendwie
verfälscht, erschlichen, unzuverlässig und unvollkommen
überliefert sei. Und da die mittelalterliche Rechtspraxis
nicht wie das heutige Zivilrecht seinen Spruch absichtlich
mit Beschränkung auf das von den Parteien beigebrachte
Material fällt, sondern das wahre gute objektive Recht sucht,
so kann durch jenes (dank der mittelalterlichen Unordnung
nur zu wohl begründete) Mißtrauen gegen alles bezeugte
alte Recht, soweit es dem Rechtsgefühl widerspricht, das
urteilbestimmende Rechtsgefühl doch im ganzen beweglich
bleiben. So wußte sich auch im Mittelalter das Leben von
der Herrschaft des Buchstaben zu befreien und diesen für
tot zu erklären. Das blinde Veto des aufgeschriebenen Rechts
gegenüber dem lebendigen Fluß des nur gedächtnismäßig
überlieferten Gewohnheitsrechts taucht immer nur verein-
zelt auf, wo etwa eine vergessene alte Urkunde hervorge-
zogen wird, der man nicht zu widersprechen wagt; dann
allerdings konnte die Entwicklung des Rechts unter Um-
ständen rücksichtslos auf einen früheren Zustand zurück-
geschraubt werden, da ja das alte Recht das jüngere bricht.
Wir sondern hier wieder aus praktischen Gründen
(das Mittelalter sondert theoretisch nicht) die Fortbildung
des objektiven Rechts und die Behandlung der subjektiven
Rechte. Für das Gefundenwerden (oder Sichselberfinden) des
objektiven Rechts ist die bezeichnende Form des Mittelalters
das abstrakte Urteil des Weistums. Es wird häufig ohne
eigentliche geschichtlichen oder urkundlichen Nachfor-
schungen aus dem Gedächtnis und Rechtsgefühl Rechts-
erfahrener und Vertrauenswürdiger geschöpft. Es bildet
I
Recht und Verfassung im Mittelalter. 29
leicht das Recht unbewußt oder doch unausgesprochen
weiter, insofern die Schöffen tatsächHch oft mehr nach ihrer
ratio als nach einem vielleicht veralteten oder vergessenen
Herkommen urteilten. Wo das Weistum o. dgl. dagegen auf-
geschrieben wurde und unvergessen blieb, da konnte es wohl
das Recht starrer binden, länger in altertümlichem Gang er-
halten, als modernes kodifiziertes Recht. Denn zum Unter-
schied von letzterem konnte es niemals und durch nichts
förmlich aufgehoben werden. Veraltetes Satzungsrecht wird
ohne Zögern durch neue Satzung ersetzt, wenn nur wirklich
der Gesetzgeber von seiner Veraltung überzeugt ist. Das
Mittelalter hatte diesen Weg nicht, ererbtes, überständiges
Recht los zu werden. Es kann nicht rufen:
„Der Wald ist alt, man muß ihn nächstens fällen
Und neuen pflanzen an die alten Stellen."
Aber es hatte dafür den glücklichen Leichtsinn in der
Bewahrung, Überlieferung und Bewertung aufgeschriebener
Rechtssätze, und vermochte ein nicht mehr in die Zeit pas-
sendes Recht für die Praxis damit häufig unschädHch zu
machen.
Rechtsneuerung und Rechtsbeharrung können beide
nützlich und schädlich sein; auch im Mittelalter gewahren
wir praktisch den ewigen Kampf beider Grundstrebungen
miteinander. Dazu aber kommt hier hineinverflochten ein
zweites Ringen, um das wir Heutigen uns unter der Herr-
schaft des wohlgepflegten Satzungsrechtes nicht mehr sorgen
brauchen: das Ringen um die Rechtsbeständigkeit, um die
zusammenhängende Überlieferung, die Kontinuität des
Rechts. Je mehr der Rechtskreis hinauswächst über die
Nachbar- und Dorfgemeinde, desto weniger kann man sich
eben auf das bloße Gedächtnis verlassen. In Skandinavien
(nur dort) bestand der Brauch, das Recht in gemessenen
Zeiträumen mündlich vorzutragen, damit es sich fixiere.
Ähnlichen Dienst leisteten Aufzeichnungen kundiger Schöffen,
Niederschriften, die in Hand und Herz zu halten den Rechts-
männern freilich niemals zur Pflicht hat gemacht werden
können, die sich aber durch Zuverlässigkeit und Reichhaltig-
keit, ja vergleichsweise durch eine gewisse Systematik und
Vollständigkeit zum Massengebrauch empfahlen. Es ist
30 Fritz Kern,
bekannt, wie die Rechtsbücher des hohen und späteren Mittel-
alters einen solchen Dienst erfüllten. Auch diese privaten
Aufzeichnungen des Gewohnheitsrechts konnten beim Mangel
eines kodifizierten Rechts maßgebend, gesetzbuchartig und
nicht nur rechtsbewahrend, sondern, den Zeitgenossen un-
bewußt oder doch unausgesprochen, auch rechtsfortbildend
wirken. Dank dem Ansehen ihrer Verfasser wurden solche
Rechtsbücher als getreue Aufbewahrungsstätten des guten
alten Rechts angesehen, ebenso wie ja auch die geschrie-
benen Gesetze der Könige und Völker begrifflich nur Bekräf-
tigungen, nicht Schöpfungen des Rechts sind.
Nun ist aber die Hauptsache zu bedenken. Für uns
würde ein solches Bemühen um Rechtsbeständigkeit in jedem
Falle etwas schlechthin Löbliches und Nützliches bedeuten.
Es würde dem Streit um Rechtsneuerung oder Rechtsbe-
harrung in nichts vorgreifen, in diesem Streit neutral beiden
Grundstrebungen nur den zuverlässigen Stoff dessen, was ist,
übermitteln, ohne darüber zu befinden, was nun etwa sein
und werden soll. Der mittelalterliche Rechtsgedanke aber
setzt ja das Recht, das ist, gleich mit dem Recht, das sein
soll. Jedes Bemühen um Rechtsbeständigkeit ist also im
Mittelalter zugleich schon eine Parteinahme für Rechts-
beharrung^), und, wie ja nun klar ist, würde eine lückenlose
Rechtsbeständigkeit auch eine vollkommene Abriegelung
gegen Rechtsneuerung bedeuten. Darum ist jene Lässigkeit
der Bewahrung, die immer wieder die Anstrengungen um voll-
kommene Rechtsbeständigkeit gleichmütig vernichtet, auch
ein wohltätiges Übel, eine notwendige Luftschleuse für Rechts-
fortbildung. Diese Lässigkeit geht auch ruhig über Ge-
schriebenes hinweg; Artikel von Rechtsbüchern werden
vergessen, Gesetzesbestimmungen, wie die aus der Lex
Salica, werden verworfen, Urkunden für unecht oder durch
ausdrückliche spätere Urkunde abgeschafft erklärt, wenn
die Entwicklung sich nicht anders Luft zu machen weiß.
Es wäre nun mit die herrlichste Aufgabe mittelalter-
licher Rechtsgeschichte, das Spiel dieser Gegensätze in der
1) Soweit nicht der Rechtsaufzeichner, wie Eike, vielfach eigene,
d. h. neue Gedanken als geltendes Gewohnheitsrecht mitüberliefert.
Recht und Verfassung im Mittelalter. 31
Entwicklung der Rechtswirklichkeit zu beachten, aufzu-
zeigen, wie der beharrende Rechtsgedanke, die biegsame
Mündlichkeit des Gewohnheitsrechts, die Anläufe zur Rechts-
fixierung und die unbehilfliche Rechtstechnik ineinander-
wirken, fördernd oder schädlich, und wie aus alledem eine
bestimmte Reihe mittelalterlicher Eigentümlichkeiten im
konkreten Recht erwächst, neben den anderen Reihen von
Besonderheiten, welche aus Wirtschaft, Gesellschaft, Sitte,
Glauben und Politik des Mittelalters zu erklären sind.
So viel vom objektiven Recht. Auf dem Gebiet der sub-
jektiven Rechte aber drückt sich die geschilderte mittelalter-
liche Zusammenknüpfung von Theorie und Praxis zunächst
aus in einer hervorstechenden Rechtsunsicherheit, welche,
trotz vielen Bequemlichkeiten im einzelnen, doch den Über-
gang zur modernen Rechtstheorie als einen entscheidenden
Fortschritt empfinden läßt.
Nicht als ob die Rechte der ,, Privaten" irgendwie ge-
ringeren Ranges gewesen wären, verglichen mit der öffent-
lichen Rechtsordnung. Im Gegenteil, die Nichtunterschei-
dung von objektivem und subjektivem, von öffentlichem
und privatem Recht^) umkleidete auch den geringsten Rechts-
anspruch eines Einzelnen mit der ganzen Heiligkeit der unver-
brüchlichen Gesamtrechtsordnung, aus der kein Steinchen
losgebröckelt werden kann, ohne daß das Ganze wanke.
Die ethische Grundstimmung des Mittelalters verschmäht
politische Wichtigkeitserwägungen und nimmt Recht und
Unrecht immer gleich ernst, wie groß oder klein ihr Gegen-
stand. Also die Theorie des Rechts mußte die subjektiven
Rechte sicherer stellen als irgendeine andere Rechtstheorie,
z. B. als die moderne, in der öffentliches Recht das private
Recht bricht. 2) Aber es ist hier wie so oft mit dem Mittel-
alter: sein idealer Flug scheitert an der Unzulänglichkeit
der technischen Zurüstungen. Auch die theoretisch so felsen-
feste Rechtssicherheit, unerschütterlich für Groß und Klein,
unterschiedslos für Staatsgewalt oder Private, stellt sich
in der Praxis beim Mangel an Rechtsbeständigkeit weit
anders dar.
1) Vgl. oben S. 22 und unten S. 39 f.
*) Das nähere hierüber im Abschnitt von der Verfassung.
32 Fritz Kern,
Auch hier wie beim objektiven Recht entscheidet prak-
tisch die SpärHchkeit und Unsystematik der Aufzeichnung,
der Mangel geordneter und vollständiger Gesetzbücher,
das Fehlen registrierter Urkunden und Erlasse, das Nicht-
vorhandensein gelehrter Richter und Gesetzgeber, die un-
gleichmäßige Kenntnis und zweifelnde Benutzung des einmal
aufgeschriebenen Rechts durch die Nachfahren. Auch hier
steht das subjektive Recht am festesten im räumlich eng-
begrenzten Nachbarkreis, in zeitlich naheliegenden Abstän-
den der rechtserheblichen Ereignisse. Schwieriger wurde die
Bewahrung subjektiver Rechte über Raum und Zeit hinweg.
Nur die Interessenten selbst, die Träger subjektiver Rechte,
kümmerten sich innerhalb ihres engen Gesichtsfeldes um
die Rechtsbeständigkeit; nur sie taten etwas dafür, natürlich
in einseitiger, die Rechtssicherheit mit der einen Hand
stützender, mit der anderen Hand umbiegender Parteilich-
keit; nur sie legten Archive der Urkundentitel ihrer sub-
jektiven Rechte an, zu deren Nachprüfung überparteiliche
Archive mit öffentlichem Geschäftskreis meistenorts man-
gelten. Die ausgleichende Rechtsbewahrung des Staats
wird auch vom mittelalterlichen Herrscher mit lauten Tönen
gefordert; die Scholastiker preisen die justitia distribativa
des Herrschers: aber praktisch hatte er keine Hilfsmittel und
Handhaben, um unparteiisch und genau festzustellen, was
,, jedem das Seine'' sei. Praktisch war er auf die immer der
Parteilichkeit verdächtige justitia commutativa der Privaten
angewiesen. Die gebildetsten, technisch bestgerüsteten Pri-
vaten waren stets die geistlichen Anstalten, die Kirchen und
Klöster: die hatten Archive, Urkundenregister usf., sie haben
für das dem Zeitalter höchsterreichbare Maß von Rechts-
sicherheit gesorgt. Aber sie haben zugleich bei der Dürftig-
keit der Urkundenkritik, der technischen Hilflosigkeit der
öffentlichen Behörden auch erfundene Rechte am häufigsten
und am leichtesten erschlichen, indem sie z. B. Rechtsakte
früherer Herrscher fälschten. Die Versuchung der Rechts-
fälschung war aber nicht nur deshalb so groß, weil eine
Nachprüfung meist ausgeschlossen, dem kühnen Dieb also
der Erfolg so gut wie sicher war. Wir müssen der pia fraus
des Mittelalters eben aus der mangelnden Rechtsbeständig-
Recht und Verfassung im Mittelalter. 33
keit heraus noch einen gewissen Milderungsgrund zuge-
stehen. Ich bin überzeugt, wenn es sich auch mangels Fäl-
scherkonfessionen des Mittelalters schwer quellenmäßig be-
legen läßt, daß manch ein für sein Kloster Urkunden kompo-
nierendes Mönchlein, von Fälscherheiligen wie Pseudo-Isidor
ganz abgesehen, in seinem Maulwurfsbau sich den Himmel
verdient hat. War es denn nicht sozusagen aus Vernunft,
Rechtsgefühl, leisen oder lauten Überlieferungen usw. klar
und einleuchtend, daß jener Acker nicht dem bösen Vogt
gehören kann, da er doch so geschnitten ist, daß er zu dem
anstoßenden Klostergut ursprünglich gehört haben muß.
Ist nicht klar, daß Konstantin, als er nach Neurom ging,
in Altrom den Papst zum Erben einsetzen mußte? Ist
nicht die Kirchenverfassung des 9. Jahrhunderts ein uner-
träglich verunstaltetes Ding, gegenüber der reineren Form,
wie sie in der alten Kirche bestanden haben muß? Gewiß,
über all das fehlen schriftliche Belege, das hundertjährige
Unrecht hat sich breit gemacht und kann von dem älteren
und unveraltenden Recht erfolgreich nur noch angegriffen
und vertrieben werden, wenn dies alte, wahre Recht Zeug-
nisse für sich ins Feld führen kann. Ist es aber nun nicht der
reine Zufall, ob solche Zeugnisse noch da sind oder nicht?
Können sie nicht beim Normannenbrand vor hundert Jahren
zugrunde gegangen sein? Kann nicht Leichtsinn irgend-
eines Vorfahren ihre Ausstellung oder ihre Aufbewahrung
vernachlässigt haben? Kann nicht schließlich ein
älterer, vom Glück begünstigter Fälscher der Ge-
genpartei durch sein Werk das Recht verdrängt
und das Unrecht triumphierend gemacht haben?
So hilft man nun der Wahrheit und dem Recht durch eine
neue Fälschung zum Sieg. Man korrigiert den Zufall der
Rechtsüberlieferung, schafft wahre Rechtsbeständigkeit; in-
dem man die Zeugnisse herstellt, stellt man das Recht selbst
wieder her. So arbeiten in verborgener Minierarbeit und doch
mit beiderseits bestem Gewissen zwei Heere geschickter
Fälscherparteien gegeneinander, sie flicken die Löcher der
Überlieferung in der allein rechtswirksamen Weise. Sie
reden nicht über ihr Tun und doch ist ihr Gewissen gut,
wie dasjenige der Northcliffe-Agenten, wenn sie zum Nutzen
Historische Zeitschrift (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd. 3
94 Fritz Kern,
ihres Volkes unterirdische Bestechungsgänge in die öffent-
liehe Meinung graben: beidemal der Natur der Sache nach
geheime, aber beidemal auch selbstverständliche und be-
rechtigte Tätigkeiten. Wenn Pseudo-Isidor das Kirchenrecht
wieder herstellte, wie es hat sein müssen, und wenn jener
Acker für das Kloster zurückbewiesen war, dann durfte sich
der geschickte Urkundenstratege freuen als über einen un-
blutigen, wahrhaft rechtlichen Sieg, und man darf vermuten,
daß ihm die Absolution nicht schwer gemacht worden ist.
Die Rechtsunbeständigkeit des Mittelalters war ein zu be-
quemer und verführerischer Antrieb zum Fälschen.
Soviel über die zu vermutende Seelenkunde der mittel-
alteriichen Fälscher, die man ohne anschauliche Kenntnis
des mittelalterlichen Rechtsbegriffs nicht verstehen kann.
Die ganze vorstehende Abhandlung dient in gewisser Weise
zurErklärung der massenhaften Fälscherei ; als advocatus dia-
boli beweist sie, weshalb das Wasser, mit dem die Kirche
kochte, nicht immer rein sein konnte. Damit soll natür-
lich nicht geleugnet werden, daß auch das Mittelalter selbst
dies Mittel als ein fragwürdiges und bedenkliches emp-
fand. Nur wo der Zweck ein guter, ja heiliger, auch über-
persönlicher war, wo ein verbreitetes Rechtsgefühl Zustände
als einst wirklich vorhandene so annahm, wie man sie dann
fälschenderweise wieder in die Welt setzte, nur dort konnte
die Selbstrechtfertigung im obigen Sinne wirken.
Neben den Fälschungen sind es besonders die massen-
haften Urkundenbestätigungen des Mittelalters, deren
Hypertrophie eine gewisse Störung des Rechtskreislaufs
verrät.
Man sucht die Sitte der Bestätigungen daraus zu er-
klären, daß das Mittelalter im allgemeinen keine überper-
sönliche Staatsgewalt gekannt und deshalb auf die persön-
liche Bindung jedes neuen Herrschers so großes Gewicht ge-
legt habe.i) Wir werden aber im Abschnitt über die Ver-
fassung sehen, daß der jeweilige Herrscher zwar nicht im
Namen einer überpersönlichen Staatsgewalt, wohl aber im
^) So z. B. A. Hofmeister in der Festschrift für D. Schäfer, Jena
1915, S. 79f. Vgl. auch S. 74, 1. So wie Hofmeister die Bestäti-
gungssitte darstellt, ist die Erklärung nicht falsch, nur unvollständig.
Recht und Verfassung im Mittelalter. 35
Namen der Rechtsgemeinschaft und des überpersönlichen,
unvergänglichen Rechtes urkundet. Aus allgemeinen Ver-
fassungsanschauungen ist darum die Bestätigungssitte nicht
ohne weiteres ableitbar; wir müssen zu ihrer Erklärung
mehr ins Praktische, einfach Technische des mittelalterlichen
Rechtsganges hinabsteigen.
Jeder Herrscher war an sich, der Verfassung nach,
an seine eigenen früheren Herrscherhandlungen, sowie an die
rechtmäßigen Regierungsakte aller seiner Vorgänger gebun-
den. Hätte der mittelalterliche Staat ein gutes behördliches
Urkundenregister gehabt, mit Löschung der getilgten und
immerwährender Schauhaltung aller noch gültigen Urkun-
den, dann hätte das Mittelalter nicht eine einzige Bestätigung
gebraucht. Diese sind einfach technische Behelfe für Rechts-
beständigkeit, Vorsichts-, wenn man will, Angsterzeugnisse,
gegen die Rechtsunsicherheit. Wenn man ein verbrieftes
subjektives Recht besaß, so lebte man immer in der Erwar-
tung, daß der Gegeninteressent plötzlich mit einem das
Gegenteil bekundenden Herrscherdiplom anrückte. Zwar
war die ältere Urkunde besser, wenn nicht die jüngere Ur-
kunde ausdrückUch die ältere ausnahm. Aber wie leicht-
fertig wurde doch oft in mittelalterlichen Herrscherkanzleien
nach Gunst oder in flüchtiger Kenntnis der Sachlage entschie-
den^): Die Rechtsprechung war materiell mangelhaft, die
^) Eine kontradiktorische Verhandlung bei der Bestätigung
alter Urkunden war nicht vorgeschrieben, sondern nur freigestellt.
Die päpstliche Kanzlei marschiert hier an der Spitze der Sorgfalt
und vergleichsweisen Rechtssicherheit, wie auch in der Pflege der Re-
gister. Absolute Rechtsbeständigkeit darf man aber auch bei ihr noch
nicht voraussetzen. Vgl. Breßlau, Urkundenlehre 2, P, 30 f. Der höhere
Kredit und Kursstand päpstlicher Privilegien infolge dieser vergleichs-
weise besseren Ordnung in der Kanzlei ist ein Bestandteil der Über-
legenheit päpstlicher Politik. Bei strittigen Fällen fand allerdings
die Urkundenbestätigung auch im weltlichen Staat wohl durch ein
ordentliches Gerichtsverfahren statt. Breßlau a. a. O. 74f. Aber ab-
gesehen davon, daß dies keine Regel war, krankte auch das Gerichts-
verfahren an demselben entscheidenden Mangel einer absoluten öffent-
lichen Evidenzhaltung der mit publica fides ausgestellten alten Ur-
kunden. Eine besonders starke Gefährdung der Parteigegner durch
Urkundenbestätigungen mußte dort eintreten, wo (Breßlau ebenda)
dem Empfänger der Bestätigung noch außerdem ein besonderer Akt
erneuerter Besitzeinweisung zuteil wurde.
3*
36 Fritz Kern,
Urkundenausfertigung ein Teil dieser mangelhaften Recht-
sprechung; bei aller Erhabenheit des Rechtsbegriffs war
die Technik schwach. Man mußte also jeden Augenblick
gewärtigen, daß die gute alte Herrscherurkunde, die man
für sein subjektives Recht besaß, vom Gegeninteressenten
durch eine neuerdings gut- oder schlechtgläubig erschlichene,
formell einwandsfreie, vielleicht sogar die ausdrückliche
Widerrufung jener eigenen Urkunde enthaltende Herrscher-
verbriefung überrannt wurde. Wer bürgte dafür, daß nicht
in jedem Augenblick die Gegenpartei ein altes Diplom „fand",
welches dann der augenblicklich regierende Herrscher gut-
gläubig vidimierte?^) Kurz, in diesem Dorngestrüpp mög-
licher Gefährde im Rechtswirrwarr des Mittelalters gab es
nur ein verhältnismäßig sicheres Auskunftsmittel: man
beeilte sich von dem neuen Herrscher eine Bestätigung der
eigenen subjektiven Rechte zu erwirken. Dann war man für
dessen Lebenszeit gegen unerwünschte Zwischenfälle verhält-
nismäßig gesichert. Er hatte sich persönlich gebunden, und
würde diese Bindung nicht so leicht widerrufen können. Ge-
sichert hatte man sich nicht gegen eine (der Verfassung wider-
sprechende) materielle Willkür des Herrschers, Akte seiner
Vorgänger nach Belieben zu widerrufen; aber gegen sein
praktisches Unvermögen, den wirklichen Stand des Rechts,
den zu schützen er berufen und verpflichtet war, überall
einwandfrei zu erkennen; gesichert hatte man sich gegen
den so leicht zu befürchtenden Hereinfall des Herrschers
auf ihm vorgetragene, von ihm nicht wirklich nachprüfbare
Beweismittel der Gegenpartei. Auch war es wertvoll, neben
alten Urkunden, welche das ehrwürdige Alter und damit
die steigende Güte des betreffenden Rechtes verbürgten,
auch junge Urkunden für dasselbe Recht zu besitzen.
Gegen alte Urkunden hatte nämlich die Bestätigungsbe-
1) Es war wieder der päpstlichen Kanzlei vorbehalten, in Fällen,
denen sie selbst nicht traute, ihrem Vidimus die dispositive Rechts-
kraft vorzuenthalten (Breßlau a. a. O. 31, 2), ein bezeichnendes Über-
gangsverfahren zur „Sanierung" der bereits als überlebt empfundenen
mittelalterlichen Sitte, solche nur beim Empfänger überlieferte Ur-
kunden zu bestätigen, einer Sitte von der man sich ganz noch nicht
lossagen kann, da die behördlichen Register nicht genügen.
Recht und Verfassung im Mittelalter. 37
hörde ein berechtigtes Mißtrauen, weil die Prüfung ihrer
Echtheit so viel schwieriger war (Breßlau a. a. 0. 30), und
vielleicht noch mehr, weil die Rechtsverhältnisse jener alten
Zeit doch gar zu vielen Verschiebungen in der Zwischenzeit
ausgesetzt sein konnten, die eine einfache Bestätigung be-
denklich machten, wenn die Kanzlei es genau nahm.i) Die
Parteien hatten also allen Anlaß, die Kette der Bestätigungs-
urkunden durch alle Herrscher hindurch nicht abreißen zu
lassen. Man ließ gern einen Herrscher seine eigenen Ur-
kunden selber nochmals bestätigen, z. B. den deutschen
König, nachdem er Kaiser geworden war, nicht etwa deshalb,
weil er mit der Kaiserkrönung eine neue staatsrechtliche
Persönlichkeit an- und die alte ausgezogen hätte und für
seine früheren Herrscherhandlungen nicht mehr aufkommen
brauchte; sondern einfach deshalb, weil die Staatskanzlei
oft in der größten Hilflosigkeit war, festzustellen, ob eine
bestimmte Urkunde wirklich von ihr ausgegangen sei oder
nicht, selbst wenn es sich dabei um den noch lebenden
Herrscher handelt e^); und so konnte es unter Umstän-
den peinlich sein, wenn man nur eine Urkunde des Königs
Heinrich im Schreine hatte, während die Gegenpartei eine
solche des Kaisers Heinrich aufwies. Doppelt genäht hielt
besser.
So erklärt sich die Sitte der Bestätigungen aus dem unge-
heuren prozessualischen Wert der Herrscherurkunde,
innerhalb der fließenden Nebel mündlichen Gewohnheits-
rechts sozusagen des einzigen festen Pfeilers der Rechtsüber-
lief erung^), in Verbindung mit dem technisch hilflosen
Zustand der Aufbewahrung dieser Hauptbeweismittel nur
bei den Parteien. Die Kanzleigebühr, die man für die immer
wiederholten Bestätigungen erlegte, waren Versicherungs-
^) Bez. des Auskunftsmittels der Kanzlei, in bedenklichen Fällen
ir zu transsumieren, nicht eine neue dispositive Urkunde auszufer-
tigen, vgl. oben S. 36 Anm. 1.
2) Anschaulich bei Breßlau, Urkundenlehre P (1912), 644, 5.
^) Für die riesige, Urkundenfälscher geradezu privilegierende
prozessuale Vorzugsstellung des Urkundenbesitzers vgl. die ungelenk
frühmittelalterliche Bestimmung der Lex Ribuaria 60, 6, die den eine
Königsurkunde erfolglos Anfechtenden mit dem Leben bestraft. Breßlau
a. a. 0. 643f.
38 Fritz Kern,
Prämien nicht gegen eine staatsrechtliche Gefährdung der
eigenen Privatrechte (eine solche Gefährdung etwa durch
Herrscherwechsel bestand, wie bemerkt, verfassungsrecht-
lich nicht), wohl aber gegen eine rechtstechnische Ge-
fährdung; nicht gegen rechtlichen Absolutismus des Herr-
schers gegenüber früheren Regierungshandlungen, sondern
gegen die Anarchie seiner Kanzlei.
Wie die Herrscher selbst, und zwar in großen staats-
rechtlichen Fragen, unter dem technischen Unvermögen,
die Rechtsbeständigkeit zu sichern, und den daraus folgenden
schwankenden Zuständen litten, davon wäre an anderem
Ort zu erzählen. Diese Rechtsunbeständigkeit ist strecken-
weise so groß, daß man zuweilen gemeint hat, dem mittel-
alterlichen öffentlichen Leben den Rechtscharakter über-
haupt absprechen und darin nur ein Chaos der Machtkämpfe
sehen zu dürfen: in diesem mittelalterlichen Leben, dessen
eigene Anschauungswelt nicht nur das Recht, sondern
sogar die Politik so ehern in dem ewigen Grund der Moral
zu verankern strebt, wie kein Zeitalter vor oder nach ihm!
Das praktisch Entscheidende ist auch hier das technische
Unvermögen, die Idee in die Wirklichkeit überzuführen,
weshalb eben die Neuzeit, trotzdem sie dem Recht nicht mehr
solche theoretische Heiligkeit zuspricht, in all ihrer Nüch-
ternheit doch dem Recht eine viel größere praktische Er-
habenheit durch wirksamere Beständigkeit zu sichern wußte.^)
Wenn ein Barbarossa vom Papst zu Stallknechtsdiensten
aufgefordert wird, gewiß eine Frage hohen Belanges für das
Verhältnis von Papst- und Kaisertum, welche Hilfsmittel
hat er, um die Berechtigung dieses Verlangens nachzuprüfen
bzw. im Fürstengericht nachprüfen zu lassen? Die zufällige
mündliche Überlieferung, das Gedächtnis seiner Romzugs-
gesellen an frühere Kaiserfahrten, und zweitens Urkunden,
1) Hier wären Fragen zu erörtern, wie die, warum einschneidende
Gesetze und Verträge des mittelalterlichen Lebens, wie das Wormser
Konkordat oder die Goldene Bulle, so wenig befolgt worden sind;
weshalb bei derlei Vorkommnissen immer nur die Interessenten auf
Befolgung und Erinnerung dringen, aber die Gegeninteressenten keinem
allgemeinen Zwang dazu unterliegen usf. Doch wird dies besser einer
Studie über mittelalterliche Politik vorbehalten.
Recht und Verfassung im Mittelalter. 39
die der Papst, also der Gegeninteressent, ihm vorwies.^)
Begreiflich, daß der Fürst sich sträubte und gegen die Zu-
verlässigkeit dieses „Rechtes" auch dann noch sich innerlich
gesträubt haben mag^), wenn er aus politischen Gründen
sich ihm unterwarf.
Den Schaden, den in diesem Falle ein Herrscher in seinen
subjektiven Rechten erlitt, weil er den Urkunden der Gegen-
partei keine Urkunden entgegenzustellen hatte, erlitten
Untertanen noch viel leichter.
Je umsichtiger darum ein mittelalterlicher Rechts-
träger war, desto mehr hielt er nicht nur auf Bestätigungen,
sondern überhaupt auf einen möglichst vollständigen Ur-
kundenschatz. Man ließ sich vorsichtshalber mögHchst
alle seine Rechte verbriefen, nicht nur singulare, sondern
auch generelle und solche, die wir als von öffentlichrecht-
licher Natur bezeichnen. Ich führe hier die trefflichen Worte
Steinackers an, die an wenig zugänglichem Orte gedruckt
sind^): „Die Fähigkeit des römischen oder modernen Gesetzes,
dem Einzelnen das subjektive Recht, das ihm nach der ob-
jektiven Rechtsanordnung zustand, auch unmittelbar zu
sichern und zu verschaffen, fehlt dem Recht der ständischen
Zeit; und eben darum richtete sich damals die Aufzeichnung
des Rechtes so selten auf das objektive Recht und schon
gar nicht auf eine vollständige und systematische Kodifi-
zierung des objektiven Rechts, sondern zumeist auf die
Festlegung der subjektiven Rechte der einzelnen Personen.
Mit anderen Worten: sie nimmt überwiegend die Form des
,, Privilegs" an. Der Einzelne läßt sich sein subjektives
1) MSt. 1, 470. Wiesen beide Parteien Urkunden vor, konnte der
politische Streit sich entscheidungslos fortsetzen (Arnold von Lübeck
zu 1184).
2) Für das Mißtrauen gegen Urkunden vgl. oben S. 22.
3) H. Steinacker, Über die Entstehung der beiden Fassungen
des österreichischen Landrechtes, Jahrbuch des Vereins für Landes-
kunde von Niederösterreich 1916/17, Wien 1917, S. 261. Die Ab-
handlung, deren konkretes Ergebnis ich im übrigen zu beurteilen nicht
in der Lage bin, stützt sich für die allgemeinen Erwägungen z. T. auf
meine Ausführungen in H. Z. 115 und bestrebt sich, meine grundsätz-
liche Auffassung methodisch bei der Lösung eines Einzelproblems
2u verwerten. Vgl. S. 241 ff., 261 f.
40 Fritz Kern,
Recht unmittelbar von den Trägern der öffentlichen Gewalt
urkundlich verbürgen, und zwar nicht nur Vorrechte,
die andere Standes- und Rechtsgenossen nicht besitzen,
die also Ausnahmen von der allgemeinen Rechtsordnung,
„Privilegien" im eigentlichen Sinn des Wortes bilden, son-
dern auch Berechtigungen, die er auch ohne ausdrückliche
Privilegierung und Beurkundung beanspruchen durfte, weil
sie, wie die Urkunden selbst oft unmittelbar sagen, gewohn-
heitsmäßig kraft allgemeingültiger Rechtsanschauungen allen
Mitgliedern eines bestimmten Kreises, etwa allen Grund-
herren, allen Bürgern usw., zustehen. Und solche Urkunden
erwirbt der Einzelne für sich ganz ohne Rücksicht darauf,
ob und wie der betreffende allgemeine Grundsatz, kraft
dessen unter vielen anderen auch ihm jene Berechtigung
zustehen würde, als solcher aufgezeichnet war. In der Tat,
diese Form des Privilegs, die Beurkundung der subjektiven
Rechte einer bestimmten Person, boten dieser verhältnis-
mäßig noch am meisten Sicherheit. Denn die mittelalter-
lichen Aufzeichnungen der objektiven Rechtsordnung wur-
den immer wieder von gewohnheitsrechtlichen Bildungen
überwuchert, zersetzt, ausgeschaltet.**
Wieweit wir in kleinen Einzelheiten den Ausdruck anders
schattieren würden als Steinacker, geht aus den früheren
Darlegungen hervor. In allem Wesentlichen aber geben diese
Ausführungen Steinackers den Grund und die Eigenart
mittelalterlicher Privilegienjagd unübertrefflich an.
Es konnte also vorkommen, daß ein Einzelner, der sich
ein generelles Recht seines Standes verbriefen läßt, nach
Ablauf einer Zeit, während welcher jenes Recht als generelles
verschwand und neuen gewohnheitsrechtlichen Zuständen
Platz machte, nunmehr kraft der Urkunde dieses Recht
als singuläres Privileg trotzdem weitergenoß.
Es wäre nun noch der Übergang von der mittelalter-
lichen zur modernen Rechtsanschauung, vom Gewohn-
heits- zum Satzungsrecht darzustellen, doch müssen wir
dies berufenerer Hand überlassen und wagen nur vorläufige
Bemerkungen.
Einen besonders großen Anteil an der Entstehung des
modernen Rechtsbegriffs möchtenVir der oben dargestellten
Recht und Verfassung im Mittelalter. 41
und auch von den Zeitgenossen empfundenen technischen
Unvollkommenheit der mittelalterlichen Rechtspraxis zu-
sprechen. Aus der Praxis heraus mußte z. B. auch das Be-
wußtsein aufsteigen, daß neues Recht altes breche.^)
Schon das ribuarische Gesetz (60, 7) sucht einen naiven Ver-
legenheitsausgleich zwischen dem Grundsatz vom guten alten
Recht und dem Rechte „das mit uns geboren": beim Zu-
sammenstoß zweier Königsurkunden solle der umstrittene
Gegenstand geteilt werden, und zwar so, daß der Besitzer
der älteren 2/3, der der jüngeren Urkunde V3 des Streitgegen-
standes erhalte. Tatsächlich bricht ja auch im Mittelalter
fortwährend junges Recht das alte, nur daß dies nicht aus-
gesprochen und begrifflich klar werden kann. Erst im
Satzungsrecht gilt dann grundsätzlich die jüngste Satzung,
wie beim Gewohnheitsrecht das älteste Herkommen. Da-
mit aber der Grundsatz vom kräftigeren neuen Recht durch-
dringen könne, muß erst das Satzungsrecht mit dem Anspruch
der Ganzheit (Totalität) auftreten, dergestalt, daß es für
den Kreis der betreffenden Satzung oder Kodifikation alles
ältere Recht lösche oder zudecke.
Ein Übergang vom grundsätzlichen Gewohnheitsrecht
zum grundsätzlichen Satzungsrecht vollzog sich jedenfalls
durch das gelehrte Recht. Das Römische Recht spielt dabei
seine Rolle. Es wird vom Gewohnheitsrecht arglos wie ein
Stück seiner selbst aufgenommen, und sprengt dann als
treibender Kern die immer schwächer werdende Schale des
Gewohnheitsrechts. 2) Das Corpus Juris ist eine Sammlung
von Bruchstücken, keine Ganzheit von Satzungen. Aber
als totes Recht, nicht lebendes Herkommen, zwingt es zu
systematischer Durchdringung und zur Findung von Grund-
sätzen. Diese Grundsätze bzw. die wissenschaftliche Opera-
tion, die zu ihnen führt, macht das System des Römischen
Rechts zu einer Ganzheit, und gibt der Jurisprudenz ihre
Natur als Auslegekunst einer allumfassenden Satzung. Wie
aber das Pandektenrecht eine Ganzheit für das bürgerliche
Recht wird, so vollzieht die Wissenschaft, und auf ihren
Spuren auch die Kodifikation, dieselbe Totalisierung der
1) Vgl. auch oben 8.24 f.
*) Vgl. oben S. 25 Anm. 3.
42 Fritz Kern,
Bruchstücke auch für Strafrecht, Prozeßrecht, Staatsrecht usf.
Ist diese moderne Ganzheit des gesetzten Rechts nicht minder
eine Fiktion, wie die mittelalterliche Anschauung vom Recht,
so hat sie doch entscheidende technische Vorzüge und ist
bei der heutigen Größe der Rechtsgemeinschaften schlechter-
dings unentbehrlich; das Gewohnheitsrecht paßt nur für
Nachbarrecht. Die technischen Fortschritte aber, nicht die
ideellen, sind es, die den modernen Rechtsbegriff über den
mittelalterlichen stellen. Jedenfalls können wir geschicht-
lich diese fortwährende Überführung von örtlich begrenztem
und bruchstückhaftem Gewohnheitsrecht in allumfassendes
Satzungsrecht beobachten. Das Recht wird dabei zugleich
flüssiger und bestimmter, sowie sicherer. Es wird ein bes-
seres Verkehrsmittel: das Gewohnheitsrecht war zu unbe-
weglich und, wo es, seiner eigenen Idee zum Trotz, sich be-
wegte, da war es zu fraglich und schwankend, niemals über
große Räume und Zeiten hinweg zu gebrauchen.
Die neue Auffassung, daß das Recht lückenlos im
Kodex stehe, erwuchs aus dem allmählich sich durchsetzen-
den Bedürfnis, die privaten, zufälligen, lückenhaften Rechts-
niederschriften irgendwie authentisch zu fixieren. i) Tat aber
die Wissenschaft oder der Staat dem Rechtsleben diesen
Gefallen, dann mußte es schließlich zu der Ganzheit der
Niederschriften und zu der Fiktion von der Lückenlosigkeit
des positiven Rechtes kommen. Denn die als unfehlbar
befragte Autorität der Wissenschaft oder des Gesetzbuchs
antwortet auch dann, wenn sie schweigt. So ist der Staat,
seit er überhaupt als solcher Recht schreibt, ebenso wie
seine Vorgängerin hierin, die Wissenschaft, gezwungen,
der Idee nach auch lückenlos zu schreiben und alles im
Rechtsgefühl schwebende Recht in gesetztes Recht zu ver-
1) Nicht nur das tote Recht des Corpus juris, sondern auch das
lebende Gewohnheitsrecht des Mittelalters hat die Entstehung der
Rechtswissenschaft ganz anders angeregt als es ein bereits beste-
hendes totales geschriebenes Recht vermocht hätte. Verleitet dieses
einfach zur mechanischen Tradierung der Paragraphen, so mußten jene
zerstückelten Trümmer und fragwürdigen Bruchstücke der Überlie-
ferung zur Schöpfung einer gedanklichen Totalität, d. h. zu wissen-
schaftlicher Findung von Grundsätzen anregen. So z. B. bei der Ent-
stehung der englischen Jurisprudenz.
i
Recht und Verfassung im Mittelalter. 43
wandeln. Die natürliche Ganzheit des Rechtsbewußt-
seins wird dabei umgegossen in die künstliche Ganzheit
eines Rechtssystems, vermöge der Grundsätze, die die
Wissenschaft einführt, welche die Brücke schlagen zwischen
Kodex und Rechtsgewissen.
Diese Bemerkungen sind, wie gesagt, unzulänglich und
verlangen nach einer Ersetzung durch kundigere Hand.
Nur darauf sei zuletzt noch der Blick gelenkt, wie sich
die mittelalterliche Rechtsanschauung gegen die moderne
wehrt und ihr nur zögernd die Alleinherrschaft überläßt.
Für das naive Empfinden, in welchem ein Stück Mittelalter
fortlebt, ist es eine unheimliche Sache, daß alles Recht in
Büchern stehe und nicht dort, wo Gott das Recht hervor-
wachsen ließ, im Gewissen und der gemeinen Meinung, in
der Gewohnheit und dem gesunden Menschenverstand.
Das positive geschriebene Recht bringt die Rechtsgelehrten,
die vom Volk abgesonderten Studierten mit sich und um-
gekehrt. Obwohl in Wahrheit das Satzungsrecht genauer
und bestimmter arbeitet, wird für den Ungelehrten nun
immer unsicherer, was Recht sei. Er kann es nicht mehr
überschauen und fühlt sich den Juristen, den „Rechtsver-
drehern" und Advokaten mit nicht geringerem Mißtrauen aus-
geliefert als Ärzten und Apothekern. Die Krankheiten sind
nun einmal von Gott gesandt, aber diese unverständlichen
Gesetze scheinen willkürlich von Menschen gemacht, ja
sogar von dem alten Heidenvolk übernommen, wieder aus-
gegraben zu Bologna, in Hörsälen und Folianten. Der alte
Bauer glaubt recht zu tun, wenn er seinem Sohn, dem Stu-
denten, der in den Ferien das Corpus Juris mitbringt, wenig-
stens die Glossen ringsherum wegschneidet.
Oft erweist das positive, kodifizierte Recht sich in der
Tat auch schwerfälliger und unbehilflicher als das Gewohn-
heitsrecht. Dieses gleitet über veraltende Rechte still hinweg;
sie sinken in Vergessen und sterben geräuschlos wie von selber
weg; und das Recht selbst bleibt jung, immer unter der
Anschauung, daß es das alte sei, doch in Wirklichkeit ist
es ein unaufhörliches lebendiges Zusammenwachsen neuen
Rechts mit altem, ein frisches Hervorquellen zeitgemäßen
Rechts aus der Zeugungsstätte des Unterbewußtseins, meist
44 Fritz Kern,
nicht allzusehr abgezäunt durch starre Schranken aufge-
schriebenen urkundlichen Rechts. Das Satzungsrecht da-
gegen kann vom Buchstaben nicht los, solange nicht ein neuer
Buchstabe den alten getötet hat, habe gleich das Leben den
alten Buchstaben längst zum Tode verurteilt: der tote Buch-
stabe behält vorerst über das Leben Gewalt. Das Gewohn-
heitsrecht gleicht dem wuchernden Urwald, der, nie gefällt,
seinen äußeren Umriß kaum leise wandelnd, sich stets ver-
jüngt und in hundert Jahren ein anderer wird, obwohl er
von außen derselbe „alte** Wald bleibt, wobei das langsame
Wachsen auch ein unmerkliches Modern anderer Teile be-
dingt. Das positive geschriebene Recht dagegen gleicht in
seiner Verjüngung ruckweise einsetzenden Erdrevolutionen;
wenn Vernunft Unsinn, Wohltat Plage geworden ist, so be-
darf es einer einmaligen bewußten Abänderung, bis zu der
hin kein allmähliches Absterben des Alten erlaubt wird.
Das naive volkstümliche Bewußtsein aber erhebt dort, wo
ein Zustand seinem Rechtsgefühl widerspricht, noch heute
die echt mittelalterliche Frage, warum denn, was recht sei,
nicht auch Recht sein solle, heute, sofort und ohne alle Ver-
schleppung, Umständlichkeiten und unverständliche büro-
kratisch-juristische Bedenken. Der mittelalterliche Rechts-
begriff ist warmblütig, unklar, verworren und unpraktisch,
technisch unhandlich, aber schöpferisch, von einer nicht zu
übertreffenden Erhabenheit und Tröstlichkeit der Idee; zu
ihm kehren die Menschen besonders gern dann zurück,
wenn sich ungeschriebene Urrechte der menschlichen Brust
empören gegen die kalte Herzlosigkeit, wie es ihnen dünkt,
geschriebener Satzung (im verführerischen Urrecht der Re-
volution z. B.). Doch das werden wir näher sehen, wenn
wir uns nun dem zweiten Teil unserer Untersuchung, dem
Staatsrecht im engeren Sinne, zuwenden.
II. Verfassung.
Unter „Verfassung" begreifen wir Moderne denjenigen
Teil der allgemeinen Rechtsordnung eines Staates, welcher
die Zusammensetzung der Staatsgewalt sowie die wechsel-
seitigen Beziehungen zwischen Staatsgewalt und Unter-
Recht und Verfassung im Mittelalter. 45
tanen regelt. Gibt es in diesem Sinn im Mittelalter eine Ver-
fassung? Daß das Wort „Verfassung" modern ist, bedarf
ja keiner Darlegung.^) Wie aber verhält es sich mit der
Sache selbst?
Das Mittelalter kennt die Herrschaft der Volkssouveräni-
tätslehre nicht. 2) Der Herrscher ist keinen Menschen Untertan.
Aber er ist dem Recht Untertan. Daß dies souveräne Recht,
dem auch der Herrscher untersteht, kein geschriebenes
Recht ist, versteht sich nach dem Vorausgesagten von selbst.
Nicht einer bestimmten Verfassungsurkunde, sondern dem
Recht überhaupt, in seiner ganzen Weiträumigkeit, All-
gewalt und fließender, fast grenzenloser Unbestimmtheit
ist der Herrscher unterworfen, durch dieses Recht beschränkt,
an dieses Recht gebunden. Technisch wird diese Bindung,
das ahnen wir nun schon aus der Allgemeinheit des Rechts-
begriffes, vermutlich sehr unvollkommen und unfest sein.
Aber dem Gedanken und der Forderung nach läßt sich eine
vollständigere Bindung des Herrschers, eine Bindung ans
Recht bis zu dem Grad, welcher die Politik knebelt und die
Staatsräson ausschließt, gar nicht denken. Wir gewinnen
damit für das Mittelalter sofort den
1. Grundsatz der Rechtsschranke.
(Der Herrscher ist an das Recht gebunden.)
Man kann für diese Bindung des mittelalterlichen
Herrschers ans Recht drei Quellen namhaft machen, die
germanische, schon von Tacitus bezeugte Gewohnheit, das
stoische, durch die Kirchenväter überlieferte Naturrecht und
den christlichen Gedanken, daß jede Regierung Gottes
Stellvertreterin und Vollzugsorgan sei.^) Das Recht steht
über allen Menschen, auch über dem Herrscher:
Nieman ist so here, so daz reht zware.
1) Vgl. R. Schmidt, Vorgeschichte der geschriebenen Verfassungen,
[eipzig 1916, S. 89ff.
2) Für alles folgende finden sich die Quellenbelege, auch ohne daß
darauf ausdrücklich verwiesen wird, in meinen MSt. 1, 142ff., sowie den
entsprechenden Anhängen.
^) Wenn man die Entstehung des Verfassungsgedankens bis ins
letzte verfolgt, so stößt man außer auf die germanische Rechtsgebunden-
46 Fritz Kern,
Der Herrscher steht unter dem Recht: freiUch denkt
das Volk und die Kirche dabei an verschiedenes Recht.
Aber einig sind Volk und Kirche darin, daß es kein beson-
deres Staatsrecht gibt, sondern daß der Herrscher unter dem
Recht als solchem steht. Das objektive Recht umfaßt als
solches sämtliche subjektiven Rechte sämtlicher Volks-
genossen, oder vielmehr es besteht überhaupt aus ihnen.
Auch das Recht, kraft welchem der Herrscher regiert, ist
nichts Besonderes, nichts hiervon Verschiedenes. Der Re-
gent hat sein subjektives Recht auf Herrschaft, wie der
letzte Hörige sein Recht auf Bearbeitung der Scholle. Diese
Einheit und Unteilbarkeit aller (subjektiven) Rechte in
dem (objektiven) Recht ist der entscheidende Bestandteil
des mittelalterlichen Verfassungsgedankens, wie wir später
bei der Erörterung der Grundrechte sehen werden. Hier
haben wir nun vorerst besonders die Seite ins Auge zu fassen,
daß es kein besonderes Staatsrecht, keine Unterscheidung
von Staatsrecht und Privatrecht gibt. Wer die Einheit des
subjektiven und objektiven, sowie des privaten und des
öffentlichen Rechts im Mittelalter nicht beachtet, wird nie-
mals verstehen können, was mittelalterliche Verfassung ist,
oder wie sie sich zu moderner Verfassung verhält.
Bei uns ist das Recht teilweise eine unselbständige Funk-
tion der Politik. Der Staat setzt als Recht, was er für sein
Leben braucht, und dieses Staatsrecht bricht die privaten
Rechte. Wir söhnen uns damit aus, wenn wir in diesem pö-
belt des Herrschers, den germanischen Schutz der Untertanenrechte,
auch auf die kirchliche Versittlichung der Herrscherpflicht. Aber die
Vertreter der Kirche, z. B. die Fürstenspiegelverfasser, reden theore-
tisch doch immer nur von den inneren Schranken des Herrschers, wie
schon Plutarch, von dem Gesetz in seinem Gewissen; alles was sie sagen,,
kann auch der absolute Monarch des 18. Jahrhunderts, der der erste
Diener seines Staates sein will, unterschreiben. Insofern hat die kirch-
liche Lehre nirgends nachweislich die germanische Verfassungsgebun-
denheit des Herrschers gestärkt. In den einzelnen Fragen hat ja sogar
das Kirchen recht den Herrscher vielfach von der Rücksicht auf das
Volks recht entbunden. Aber bei alledem bleibt es doch wahr, daß
auch die Kirche unausgesetzt den Herrscher an eine Seite der ihm
gezogenen Schranken erinnert, und das nicht nur mit Worten, sondern
auch fühlbar mit Taten, wo er nämlich gegen die eigene Macht der Kirche
anstößt.
Recht und Verfassung im Mittelalter. 47
litischen Recht, dem Staatsrecht, die Willkür vermieden
und das Notwendige befolgt sehen. Und als Bürgschaft
hierfür fordern wir, daß das Staatsrecht nicht von einem Ein«-
zelnen nach Laune und Willkür, sondern von der Vertretung
der Gesamtheit geschaffen werde. Das Mittelalter aber,
mit seinem rein bewahrenden, erhaltenden Rechtsbegriff,
mit seiner Ablehnung der Politik, seiner Verschmelzung von
Moral und Recht, von idealem und positivem Recht kana
überhaupt kein Staatsrecht kennen, welches die privaten
Rechte verändert oder bricht. Die Rechtsgebundenheit des
selbstregierenden mittelalterlichen Fürsten oder Verwesers
ist dem Gedanken nach noch viel größer als in der Moderne
selbst beim verfassungsbeschränktesten Monarchen oder Prä-
sidenten. Denn dieser kann doch mit den übrigen Ver-
fassungsorganen zusammen neues Recht setzen: der mittel-
alterliche Herrscher aber ist dazu da, das gute alte Recht in
dem vollen, schweren Wortsinn, den wir kennen, anzuwen-
den und zu schützen. Für den Dienst am guten alten Recht
ist er eingesetzt : das ist seine justitia, und aus der Bewahrung
der subjektiven Rechte eines Jeden, des suum cuique, erfließt
die pax, der innere Rechtsfriede, der das vornehmste, ja
beinahe ausschließliche Ziel der inneren Herrschaft ist. .In
dieser Rechtsbewahrung im weitesten und konservativsten
Sinn empfängt der Herrscher auch die Sicherung seiner
eigenen Herrschaft: denn das heilig bewahrte Recht aller
Volksgenossen, bis hinab zu jener Scholle des letzten Hörigen^
bewahrt auch ihm selbst das Recht auf die Krone.
Bei seiner Thronbesteigung legt der mittelalterliche
Herrscher das Gelübde aufs Recht ab, er verpflichtet sich
persönlich auf das Recht. In diesen Throngelübden liegt
der Anfang zum modernen Verfassungseid. Wenn man die
Vorgeschichte der Verfassungen schreiben will, wird man diese
Selbstbindung des mittelalterlichen Herrschers zum Aus-
gangspunkt nehmen müssen: es ist die ausdrückliche
Bindung der Staatsgewalt an das über ihr stehende Recht.
Nun empfing allerdings die mittelalterliche Bildung mit
den überlieferten Resten antiker Kultur auch einzelne Sätze
und Schlagworte, die aus dem völlig entgegengesetzten Den-
ken des römisch-kaiserlichen Absolutismus stammten. Aber
48 Fritz Kern,
die mittelalterliche Wissenschaft wandte hier dasselbe Ver-
fahren an, das sie auch sonst zur Verfügung hatte, um un-
verdauliche Brocken antiker Überlieferung zu neutrali-
sieren. Sie machte den princeps legibus absolutus durch Aus-
legungskünste unschädlich. Die als eine Art von Rechts-
sprichwörtern aus der Antike entlehnten Sätze, welche von
«iner über, nicht unter dem Recht stehenden Staatsgewalt
Zeugnis ablegten, wurden so lange tunlichst ins Moralische
umgedeutet, bis in ihnen das Recht doch die Oberhand über den
Träger der Staatsgewalt zu behalten schien. Der rex wird
^Is animata lex bezeichnet, das heißt nicht: des Herrschers
Belieben ist Gesetz, sondern der Herrscher hat das Gesetz
in seinen Willen aufgenommen. Auch im Kirchenrecht be-
deutet die Formel, daß der Papst alles Recht im Schreine
seiner Brust trage, nicht absolutistische Willkür, sondern
die Rechtsvermutung für päpstliche Erlasse, daß sie in Kennt-
nis und im Einklang des älteren Kirchenrechts erflossen
seien. Ganz allgemein darf man die römisch-rechtlichen und
die absolutistisch klingenden Formeln nicht zu ernsthaft
nehmen, zumal da, wie wir im Abschnitt über die Konsens-
pflicht des Herrschers sehen werden, ein uns absolutistisch
berührendes Vorgehen des Herrschers das Mittelalter nicht
notwendig absolutistisch anmutet: das hängt mit der mangel-
haften Technik der Volksvertretung zusammen. Freilich,
€s kommt später ein Zeitalter, das mit den absolutistischen
Formeln auch den absolutistischen Geist einführt: aber das
ist dann eben das Ende des mittelalterlichen Staats- und
Rechtsbegriffs. 1)
Die Nichtunterscheidung von idealem und positivem
Recht, die wir kennen, bot dem Mittelalter die Handhabe,
um einer allzu starren Fesselung an überkommenes Recht
zu entgehen. Konnte das Überkommene nicht ein Miß-
brauch sein? Besonders die Kirche lockert hier die Ver-
pflichtung der Staatsgewalt auf das Volks recht. Wohl steht
auch für sie die Regierung unter dem Recht, aber doch nur
gnadenweise unter dem von der Staatsgewalt selbst ge-
^) Ganz verkehrt ist es, wenn E. Mayer, Ital. Verfassungsgesch.
2, 208, den consensus (s. unten S. 52 ff.) auf Grund absolutistischer
Theorien und des Corpus juris unter Barbarossa aufhören lassen will.
Recht und Verfassung im Mittelalter. 49
setzten Recht. Der Herrscher gilt ihr als zur Billigkeit ver-
pflichtet: das ist das ,, Recht**, dem er unbedingt untersteht.
Folglich, wo das strikte Recht etwas Unbilliges enthält, ist
es eben nicht ,, recht", die Obrigkeit nicht zu seiner Erhal-
tung, sondern zu seiner Beseitigung verpflichtet. i)
Die Meinung, die Erlasse mittelalterlicher Herrscher
hätten nur für deren jeweilige eigene Regierungszeit gegolten,
ist so unsinnig wie nur denkbar. Als unrechtmäßig erkannte
Herrscherhandlungen werden widerrufen, wie alt oder wie
jung sie sein mögen. Für recht anerkannte dagegen haben
Rechtskraft ganz unabhängig von Thronwechsel, ja, um so
heiligere Kraft, je älter sie sind.
Hier beginnt in der Regel die Verlegenheit des modernen
Historikers, der nicht vom mittelalterlichen Rechtsbegrif
ausgeht, über die Sonderbarkeiten der mittelalterlichen
Verfassungsgeschichte. Man findet, daß das Mittelalter gar
keine eigentliche staatliche Gesetzgebung kennt. Die Ver-
fügungen oder Gesetze der Staatsgewalt wollen nur das gel-
tende Volks- oder Gewohnheitsrecht wiederherstellen und
durchführen. 2) Das Recht führt sein souveränes Eigenleben.
Der Staat greift darin nicht ein. Er schützt nur sein Dasein
von außen her, wo es nötig wird. Ganze Jahrhunderte kommen
aus ohne die leisesten Ansätze einer Gesetzgebungs- oder
Verordnungstätigkeit in unserem Sinne. Der mittelalter-
liche Rechtsbegriff enthält die Erklärung dieser Erscheinung.
In ihm aber liegt auch schon die Frage der Grund- oder
Menschenrechte beschlossen. Fassen vv^ir mit Rücksicht hier-
auf noch einmal das Gesagte zusanmien.
Es gibt kein Staatsrecht. Das objektive Recht ist nichts
als die Summe oder das Geflecht aller subjektiven Rechte
der Volksgenossen. Das Recht ist vor und über dem Staat.
Die ganze Auffassung vom Staat oder der Obrigkeit hängt
davon ab: der Staat ist sozusagen der Leidtragende beim
mittelalterlichen Rechtsbegriff. Denn, daß der Herrscher
nicht vor, sondern unter dem Recht ist, darin jedem Ein-
^) Das Kirchenrecht ist hier vorbildlich. Der Papst ist den
Kanones enthoben, aber der aeqiiitas unterworfen, Carlyle 2, 172f.
2) Vgl. z. B. R. Holtzmann, Französ. VerfassuHgsgesch. (München
1910) 131 über die Ordonnanzen.
Historische Zeitschrift (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd. 4
50 Fritz Kern,
zelnen im Volke gleich und nur im Gegensatz zu den anderen
Einzelnen er verantwortlich für die Rechte Aller und für
alle Rechte allein haftbar: das klingt dem Gedanken nach
wunderschön und scheint die Rechte der Einzelnen sicherer
zu verankern als irgendeine andere Verfassungskonstruktion»
Es ist nur wieder die technische Ausführung, die mangel-
haft ist und die es bewirkt, daß die Vorzüge des Systems,
der Schutz der Privatrechte, in der Wirklichkeit weniger
hervortreten als seine Mängel, nämlich die verhängnisvolle
Knebelung der Staatsgewalt. Denn da der einzige Zweck
des Staates ist (germanisch), das vorhandene Recht oder die
vorhandenen Rechte zu beschirmen, bzw. (kirchlich) die gött-
lichen Gebote auszuführen, so ist es dem Staat verwehrt,
eigenen Staatsnotwendigkeiten nachzuleben und das Recht
der Gesamtheit wie der Einzelnen nach diesen Notwendig-
keiten (vermöge des modernen Begriffes vom Staatsrecht)
umzuformen. Der mittelalterliche Staat ist als bloße Rechts-
bewahranstalt nicht befugt, in die Privatrechte zum Nutzen
der Allgemeinheit einzugreifen. Nur Rechtlosen, z. B. den
im Kriege Unterworfenen oder den für friedlos Erklärten
gegenüber darf einseitig etwas bestimmt werden. Sonst
aber sind alle Privatrechte Einzelner dem Staat gegen-
über, wie ein späterer Naturrechtler sagen würde, Grund-
rechte, d. h. sie dürfen samt und sonders nicht durch ein-
seitig gesetztes neues Recht verdrängt werden. Den Volks-
genossen hat die Regierung alle subjektiven Rechte zu er-
halten, denn aus deren Summe besteht ja das ganze objek-
tive Recht, deren Teilglied auch die Obrigkeit, der Staat
selber ist. Der Staat hat kein Recht sui generis für sich,
keinen Nenner, durch welchen er jene Summe privater
Rechte dividieren dürfte. Er kann z. B. keine Steuern er-
heben; denn Steuer ist für die mittelalterliche Auffassung
eine Vermögensbeschlagnahmung. Diesen Eingriff in das
Privateigentum kann der Staat also nur im freiwilligen
Einverständnis aller Betroffenen (oder mindestens ihrer
Vertreter) vollziehen. Darum ist die mittelalterliche Steuer
„Bitte" (Bede). Nur wo eine Abgabe schon herkömmlich ist,,
hat der Staat bzw. der Herrscher auch seinerseits ein sub-
jektives Anrecht darauf. Die Vermögensrechte jedes ein-
Recht und Verfassung im Mittelalter. 51
zelnen Volksgenossen sind ein absolut heiliger Bestandteil
der ganzen absolut heiligen Rechtsordnung: die Vermögens-
rechte der Privaten wie des Staates. Maßstab für beides ist
das gute alte Recht.
An diesem Steuerbeispiel erkennen wir klar, warum das
Mittelalter keine einzelnen Grundrechte der Untertanen
absondern kann, aber auch nicht braucht. Denn alle sub-
jektiven Rechte sind eben, wie wir sagen würden, verfassungs-
mäßig geschützt, unantastbar umhegt durch das Recht an
sich. Abgesonderte Grundrechte gewinnen erst dann einen
Sinn, wenn sich ein besonderes Staatsrecht ausgebildet haben
wird, das dann im allgemeinen den Privatrechten souverän
gegenübersteht. Erst aus der Tätigkeit des absolutisti-
schen Staates, welcher auf den mittelalterlichen und stän-
dischen Staat folgt und rücksichtslos in die Privatrechte ein-
greift, verstehen wir das Verlangen nach verfassungsumhegten
Grund- oder Menschenrechten, d. h. nach der Anerkennung
gewisser Schranken der Staatssouveränetät beim Eingriff
in das Privatrecht, i) Für das Mittelalter liegt ein solches Be-
dürfnis nach begrifflicher Aussonderung von Grundrechten
nicht vor, wie aus dem Vorhergehenden klar geworden
sein dürfte. Man versteht nun auch, warum bei der mittel-
alterlichen Nichtunterscheidung von Staats- und Privat-
recht (ferner von Recht und Moral, positivem und idealem
Recht) theoretisch nur der Staat, nicht der Privatmann der
Leidtragende war. Die Staatsräson litt Not, die Politik.
In Wirklichkeit litt freilich auch der Einzelne unter der
Sache. Aber zunächst wurde doch der Staat in der Idee
geknebelt, und das wirkte aufs tiefste auch ins wirkliche
Leben zurück.
Die technische Mangelhaftigkeit der mittelalterlichen
Verfassung bei allem idealen Schwung kann erst in den näch-
sten Abschnitten besprochen werden, wenn wir der Volks-
^) Es bleibe außer Betracht, daß bei der technischen Natur des
modernen Rechts diese begrifflich über dem Staatsrecht stehenden
Grundrechte formell auch nur als Bestandteil des Staatsrechts selbst,
unter ihm, auftreten können. Es wiederholt sich hier, was oben be-
treffs der Stellung des idealen Rechts im modernen Rechtsbegriff
ausgeführt worden ist. S. oben S. 9 f.
4*
52 Fritz Kern,
Vertretung und den Sanktionen der Verfassung nähertreten.
Hier, wo wir zunächst nur den Verfassungsgrundsatz für
sich betrachten, fiel uns überhaupt erst ein Ansatz zur tech-
nischen Ausführung auf: das Throngelübde des Herrschers.
Wie wenig das in der Tat eine Bürgschaft für die Vollziehung
der mittelalterlichen Verfassungsidee (die in ihrem buchstäb-
lichen Umfang überhaupt nicht vollziehbar war) bot, das
liegt auf der Hand.
Woran erkannte man denn nun aber, ob der Herrscher
mit dem Recht im Einklang blieb, ob er, wie wir sagen würden,
verfassungsmäßig sich verhielt oder nicht? Bei dem unge-
schriebenen, flüssigen guten alten Recht war dies unendlich
schwieriger festzustellen als bei modernem geschriebenem
Verfassungsrecht. Es gab eben letzten Ortes nur Eine Ent-
scheidungsstelle: das Rechtsgefühl der Gesamtlieit. Damit
kommen wir zum
2. Grundsatz der Volksvertretung.
(Konsenspflicht des Herrschers.)
Die monarchische Ordnung des niiitelalterlichen Staates
kann in unserem Zusammenhang als etwas rein Tatsächliclies
hingenommen werden, obwohl auch sie ideelle Wurfein
und Begründungen hat.^) Auch bei republikanischen Ein-
richtungen verhält sich der mittelalterliche Staat in den grund-
legenden Verfassungsgedanken nicht anders als bei der
Monarchie; da Vorsteher und Genossenschaft verfassungs-
mäßig in einem ganz analogen Verhältnis stehen, wie Herr-
scher und Volk.2) Yiein tatsächlich gegeben nehmen wir ferner
1) über das monarchische F'rinzip vgl. MSt. 1, 149ff.
2) Man kann nicht von mittelaltcriicher Verfassung handeln,
ohne der ihr unvermeidlichen Einrichtung des Interregnums zu ge-
denken. Es entsteht aus der monarchischen Staatsform einerseits,
dem Mangel einer von der Verfassung vorgeschriebenen festen Thron-
folgeordnung anderseits. Nur durch die Vv'^ahl des Nachfolgers bei
Lebzeiten des Vorgängers konnte man der Unbequemlichkeit des
Interregnums entgehen. Vgl. im allgemeinen MSt. 1,461 ff. Hierzu
noch folgende Bemerkungen. Das Interregnum gilt als Unglück:
wenn die Tätigkeit des Monarchen in der Aufrechterlialtung von Recht
und Frieden besteht, so muß beim Fehlen des Monarchen notwendig
Unfriede und Unrecht überwuchern. Wäre dem nicht so, dann brauchte
Recht und Verfassung im Mittelalter. 53
hier die Vertretung der Gesamtheit durch die meliores
et maiGres, obwohl auch hierfür ideelle Wurzeln nachgewiesen
werden könnten. Nach dieser vorläufigen doppelten Ent-
lastung unseres Gedankengangs (wir fragen nicht nach Un-
terschieden zwischen Monarchen und Genossenschaftsvor-
stehern, fragen nicht nach den Regeln, wie das Volk sich ver-
treten läßt) können wir unmittelbar an die Hauptfrage heran-
treten: ist der Herrscher an die Zustimmung des Volkes ge-
bunden? Worin ist er gebunden, worin ist er frei?
Daß der mittelalterliche Herrscher materiell nicht abso-
lut ist, haben v/ir zur Genüge gesehen. Er ist an das Recht
gebunden. Aber formell erscheint der mittelalterliche Herr-
scher uns praktisch absolut: denn er ist nicht verpflichtet,
diesen von ihm erforderten Einklang mit dem Keucht auf
irgendeinem formvorgeschriebenen Weg zu trrciclien. Der
Einklang des Herrschers mit dem Recht vollzieht sich in
der Regel völlig formlos. Im Zweifel allerdings zeigt sich
sein Einklang mit dem Recht an der Zustimmung der Volks-
gesamtheit bzw. ihrer Vertreter. Aber es gibt keine bindende
Regel dafür, in welchen Fällen diese Zustimmung eingeholt
werden müßte. In gewöhnlichen Zeiten besteht für alle
Handlungen des Herrschers die Rechtsvermutung, daß sie
stillschweigend oder ausdrücklich im Einklang mit dem
Recht und dem Rechtsgefühl der Gesamtheit geschehen
seien.
Um dies verständlich zu machen, dazu müssen wir an
die eigentümlich unbestimmte und unbegriffliche Gemein-
schaftlichkeit erinnern, in welcher Herrscher und Untertanen-
schar im Mittelalter zusammen den Staat oder das Volk
bilden. Es gibt keinen Gegensatz zwischen Herrscher und
man ja den Herrscher nicht. Dies ganz schematisch bei Wipo, der ja
überhaupt für die Verhältnisse der Thronerlangung einer der typischsten
Schilderer des Mittelalters ist (Wipo, S.-A. der MG., 3. Aufl. 1915,
S. 9, Kap. 1). Zum rex justus gehört aber auch eine idonea electio.
Diese herbeizuführen, ist der einzige von Gott gewollte Inhalt des In-
terregnums. Die Wahl erfolgt nicht durch Mehrheitsbeschlüsse. Der
Zufall soll aus ihr möglichst ausgeschaltet sein: sie hat sich als göttlich
inspiriert darzustellen, darum auch einhellig. So umgeht wenigstens
die Theorie die Klippe der fehlenden festen Wahlkörper und Wahl-
regeln.
54 Fritz Kern,
Volk etwa im Sinne der Volkssouveränitätslehre oder der
Lehre vom Herrschaftsvertrag.
Was der Herrscher tut, tut er im Namen, im Sinne,
nach dem Willen des Volks; er redet als der Mund des Volks.^)
Herrscher und Volk hängen gemeinsam im Recht, sie fin-
den und bewahren es gemeinsam. Bis zum Beweis des Gegen-
teils ist alles, was vom Herrscher ausgeht, Recht in demselben
Sinne wie wenn es vom Volk, von der Gesamtheit ausge-
gangen wäre. Der Herrscher könnte bis zum Beweis des
Gegenteils als der ständige Vertreter des Volks bzw. seines
Rechts bezeichnet werden. Darum sind die Bestimmungen
darüber, wie sich der Herrscher der Übereinstimmung mit
der Gesamtheit und damit seines eigenen Einklangs mit
dem Recht versichert, so überaus verschwommen und unent-
wickelt.
Es gibt drei Stufen der Anteilnahme der Gesamtheit
(d. h. ihrer Vertreter, der maiores et meliores usf.) an den
Handlungen der Staatsgewalt. Die erste Stufe ist die schwei-
gende Zustimmung: hier handelt der Herrscher formell
allein, wenn man so will absolutistisch (der Form, nicht der
Sache nach). Die zweite Stufe ist beratende Zustimmung,
die dritte Stufe gerichtsförmlicher Urteilsspruch. Das
eigentümlich Mittelalterliche ist nun, daß für die Anwendung
dieser drei Stufen keine festen Regeln bestehen und daß sie
alle drei zu (unterschiedslos) gleich rechtsgültigen Staats-
handlungen führen können.
Unter der heutigen Herrschaft eines verselbständigten
Staatsrechts und eines geschriebenen Rechts unterscheiden
wir peinlich zwischen jenen drei Stufen der Volksmitwir-
kung und haben für jede von ihnen ihren Umkreis festgelegt.
Es ist genau bestimmt, welche Rechtsangelegenheiten in
Gerichtsform erledigt werden, und diese Gerichtsvorgänge
sind der persönlichen Einwirkung des Herrschers bzw. der
^) Man kann sich das allgemeine Verhältnis von Herrscher
und Volk in der mittelalterlichen Verfassung veranschaulichen durch
das gleichzeitige Verhältnis von Richter und urteilsfindender Ge-
meinde im germanischen Gericht, ohne aber die Analogie auf die Spitze
zu treiben.
Recht und Verfassung im Mittelalter. 55
Regierung im Verfassungsstaat entzogen. Es ist genau fest-
gelegt, in welchen Angelegenheiten die Regierung nicht ohne
den Rat der Volksvertretung handeln darf, und diese Kon-
senspflicht ist bis zu einem unerläßlichen Beschlußfassungs-
recht der Volksvertretung im Verfassungsstaat gesteigert.
Es ist endlich genau festgelegt, welches der Umkrejs der
freien Verordnungsgewalt der Regierung ist, für welche also
die schweigende Zustimmung der Gesamtheit mittels der
Verfassungsurkunde ein für allemal durch Satzungsrecht
erteilt ist. Nichts von allem dem ist im mittelalterlichen
Staat umschrieben und festgelegt.
Es steht dem mittelalterlichen Herrscher, vorausgesetzt,
daß er mit dem Recht im Einklang bleibt, vollkommen frei,
welchen der drei Wege er für die Erledigung eines Geschäftes
einschlagen will. Ob er mit persönlicher Verfügung oder
nach Anhörung, etwa auch unter Mitbeurkundung von Rat-
gebern, d. h. Vertretern der Gesamtheit, oder endlich durch
Erwirkung eines Hofgerichtsurteils oder Fürstenspruchs die
Angelegenheit regeln will, ist ihm völlig freigestellt. Ver-
fügt er allein und rein persönlich, aber im Einklang mit
dem Recht, dann besteht seine Verfügung zu Recht und der
durch Nichtauflehnung erteilte stillschweigende Konsens der
Gesamtheit ist völlig ausreichend. Anderseits aber kann es
auch vorkommen, daß der Rat bzw. die Volksvertretung,
ja selbst das feierlichste Gericht einen Fehlspruch tut:
dann muß die widerrechtliche Entscheidung, trotzdem sie
im ausdrücklichen Einklang von Herrscher und Volk
erfolgt ist, widerrufen werden. Die Form, in der eine staat-
liche Maßnahme geschieht, ist dem Mittelalter einerlei,
wenn sie nur inhaltlich mit dem Recht in Übereinstimmung
steht.
Immerhin haben sich gewisse Konsensgepflogenheiten
herausgebildet. Bevor wir jedoch auf sie eingehen, müssen
wir des Gegensatzes von Volksrecht und Königsrecht ge-
denken. Diese umstrittene Frage löst sich von dem jetzt
gewonnenen Standort aus von selbst. In der Rechtswirk-
lichkeit haben wir bestimmt zu scheiden zwischen volks-
rechtlichen und königsrechtlichen, volksgerichtlichen tmd
königsgerichtlichen Normen, z. B. in der fränkischen Zeit.
56 Fritz Kern,
Aber das Zeitalter selbst, seine Theorie, hat den Unterschied
nicht gekannt und nicht kennen können. Denn ob die Volks-
gerichte und das Königsgericht auch nach verschiedenen
Grundsätzen entschieden, es war doch beides einerlei Recht,
das Recht. Was der König mit der ausdrücklichen oder
stillschweigenden Billigung der Gesamtheit setzt, ist Recht;
insoweit es mit dem Rechtsgefühl der Gesamtheit überein-
stimmt, ist es selbst ein Teil des guten alten Brauches,
auch wenn es ganz neu ist. Königsrecht gilt als Volksrecht
und Volksrecht wird auch vom König ausdrücklich als für
ihn rechtsverbindlich und als Schranke für seine Verfügungs-
gewalt anerkannt. 1)
Wenn also der moderne Realienforscher Königs- (oder
Amts)recht und Volksrecht aus [ulen Gründen unterscheidet,
so muß er sich doch hüten, cicLcn Begriffsgegensatz in die
mittelalterlichen Anschauungen selbst hineinzusehen. Das
Volksrecht im mittelalterlichen Sinn ist das von Fürst und
Volk gemeinsam anerkannte aufgezeichnete oder nicht
aufgezeichnete Recht, zu dem auch die rein persönlichen
Handlungen des Königs gehören, soweit das Volk ihre Rechts-
kraft anerkennt. Das Recht des Königs, Urkunden auszu-
stellen, im Krieg zu befehlen, seine Banngewalt u. dgl. ist
ein Stück Volksrechtes selbst und findet seine Schranke
durchweg an dem vorgefundenen objektiven Recht, gleich
der Summe subjektiver Rechte aller Volksgenossen. Daß der
theoretisch ganz ans überlieferte Recht gebundene mittel-
alterliche Herrscher und das ebenso gebundene Volk praktisch
trotzdem in Gesetzen und Urkunden willkürlich und schein-
bar absolutistisch die Gesetze und Urkunden früherer Zeit
überspringen konnten, dieser grelle Widerspruch erklärt
sich eben aus den oben zur Genüge erläuterten technischen
Unvollkommenheiten in der Überlieferung und Festlegung
des Rechts. Theoretisch band jeder rechtmäßige Herrscher-
akt wie jedes wohlerworbene Recht die Nachfolger und die
ganze nachlebende Volksgesamtheit. Praktisch wußte m.an
sehr schlecht für die Rechtsbeständigkeit zu sorgen, und die
1) Z. B. von Chlotachar II. in einem Königsgesetz. MSt. 1^
485, 493f.
Recht und Verfassung im Mittelalter. 57
Erfordernisse der Politik, für die im Rahmen der Rechts-
und Verfassungstheorie des Mittelalters ein Raum überhaupt
nicht vorgesehen war, brechen sich wilde Bahn. Sie konn-
ten es, ohne die so feingewobene Theorie selbst zu verletzen,
da die Rechtspraxis weitmaschig genug war. Dieser
Widerspruch von Theorie und Praxis aber hat mit
der Frage der Konsensgebundenheit oder persön-
lichen Verfügungsgew^alt des Herrschers (der Re-
gierung) unmittelbar nichts zu tun. Praktische Will-
kür bei theoretischer Gebundenheit wird von der Volks-
gesamtheit ganz ebenso verbrochen, wie vom Herrscher.
Denn sie ist ja ganz ebenso theoretisch rechtsgebunden wie
er. Tatsächlich kehrt man sich eben an wirklich überlebte,
wenn auch dem Begriff des Gewohnheitsrechts gemäß nie-
mals abgeschaffte, ja nicht abschaffbare Rechte keinen Deut
mehr, wenn man nicht, etwa infolge auftauchender Ur-
kunden, sich darum kümmern mußte.
Hier ist nun aber doch ein Unterschied auch für das
mittelalterliche Denken zwischen der Rechtsgebundenheit
des Volks und der des Herrschers zu bemerken.
Wenn die Gesamtheit sich zum Recht in Widerspruch
setzte, so hatte das nichts zu besagen, wenn nur das Rechts-
gefühl der Gesamtheit oder ihres ausschlaggebenden Teiles
mit sich selber einig blieb. Anders, wenn sich der Herrscher
als ein Einzelner mit einem beachtbaren Teil der öffentlichen
Meinung in Widerspruch setzte. Dann war er sehr stark
gefährdet, einmal wegen des tatsächlichen Aufbaus miittel-
alterlicher Staatsmacht oder -Ohnmacht, worüber in einer
Abhandlung über mittelalterliche Politik mehr zu sagen
wäre, und anderseits wegen der auch theoretisch so starken
Verantwortlichkeit des Herrschers für seine Handlungen,
wovon wir im nächsten Abschnitt sprechen werden.
Darum sichert sich der Herrscher vielfach gegen etwa
zu gewärtigenden Widerspruch, indem er von vornherein
die Zustimmung der Gesamtheit bzw. ihrer Vertreter einholt
und beurkunden läßt. Auf die nähere Geschichte dieser
Konsensgepflogenheiten des Mittelalters hier einzugehen,
besteht kein Anlaß. Das Entscheidende bleibt immer, daß
es dem Herrscher freistand, ob er diese Sicherung einschalten
58 Fritz Kern,
wollte oder nicht, und daß auch ohne die vorher nachgesuchte
oder beurkundete Zustimmung (der bloße „Rat" gilt auch
als solche) rechtsgültige Verfügungen des Herrschers zustande
kommen konnten.
Niemals aber konnte die Gesamtheit, bzw. wer sie ver-
trat, und natürlich auch nicht der Herrscher, einseitig über
die wohlerworbenen Rechte anderer Volksgenossen ver-
fügen. An diesem Punkt wird die Bindung des mittelalter-
lichen Staates an das Recht besonders klar, eine Bindung,
die etwas unendlich viel Grundsätzlicheres an sich hat,
als irgendeine Bindung eines Staatsorgans innerhalb des
modernen Verfassungsstaats. Bei uns ist die Staatsgewalt
souverän. Nur eine gewisse letzte Sphäre privater Rechte
oder Freiheiten soll naturrechtlich auch heute dem Zugriff
des absolut souveränen Staates entzogen sein: dies eben ist
der Sinn der sog. Menschen- oder Grundrechte, die selbst-
verständlich erst unter der Herrschaft eines souveränen
Staatsbegriffs aufgebracht werden konnten (und auch da
zweifelhaft bleiben; denn, gesetzt den Fall, die Mehrheit
in einem modernen Staat beschlösse die Aufhebung der
Menschenrechte, wer wollte auf dem Boden des modernen
Staatsrechts dann noch ihre fortdauernde Gültigkeit be-
haupten? Indes: der Sinn der Menschenrechte ist eben,
daß nach der Naturveranlagung der Menschen sich niemals
€ine Mehrheit zur Aufhebung gerade dieser Bestimmungen
würde finden lassen). Im Mittelalter nun hat jedes wohl-
erworbene Recht, auch das Recht auf einen jährlichen Zins
in Gestalt eines Huhnes, ungefähr dieselbe Heiligkeit, wie
in gewissen modernen Verfassungen die Menschenrechte.
Es gibt nur den freiwilligen Verzicht des Berechtigten und
nichts anderes, was dieses Recht auf rechtlichem Weg be-
seitigen kann; keine Herrscherverfügung vermag das, und
wenn sie sich auch auf das breiteste Votum einer Volks-
vertretung stützte; gegen den Willen des Berechtigten kann
kein gültiger Staatsakt zustande kommen.
Bei strenger Auslegung (die allerdings dem von ihr Ge-
brauchmachenden persönlich übel bekommen konnte) war
es so einem Einzelnen möglich, die Bildung eines Staats-
willens gänzlich zu lähmen, denn auch die Erhaltung des
Recht und Verfassung im Mittelalter. 59
bestehenden Staatszustandes bis in kleine Einzelheiten hin
ist für diese mittelalterliche Auffassung letzthin ein Bestand-
teil der subjektiven Rechte jedes beliebigen Volksgenossen.
Der Staat, der bis zuletzt an diesem echt mittelalterlichen
Grundsatz festgehalten hat, wenigstens für seine adeligen
Volksgenossen, und darum an einerii auf die Spitze getrie-
benen liberum veto zugrunde ging, ist Polen. Aber auch bei
den Germanen gibt es verwandte Ansätze. Ein Beispiel
möge dies erläutern.
König Chlodowech wünschte aus einer Kriegsbeute
über den ihm rechtlich zustehenden Anteil hinaus eine kost-
bare Vase zu erhalten, um sie einer Kirche zu stiften. Alle
stimmen zu, nur ein Neider aus dem Volk widerspricht in
einer den König beleidigenden Weise und schlägt mit der
Axt auf die Vase. Er bleibt straflos, denn er erhärtet in
dieser Auflehnung gegen den allgemeinen Willen nichts als
sein unzerstörbares subjektives Anrecht auf das objektive
Recht der einmal festgesetzten Beuteteilung, die auch durch
Mehrheitsbeschlüsse nicht über den Kopf eines Einzelnen
hinweg verändert werden darf. Zwar rächt sich der König
ein Jahr später in einer Art von spiegelnder Rache^), durch
ähnlich rigoristische Übertreibung eines anderen Teiles der
objektiven Rechtsordnung, nämlich seiner militärischen
Kommandogewalt. Aber daß er sich rächen muß, bei gün-
stig scheinender Gelegenheit, und nicht strafen kann,
zeigt eben, daß der Franke auf gutem Grund stand, als er
leugnete, daß ein Recht, an welchem alle teilhaben, anders
als durch einhelligen Beschluß Aller geändert werden könne.
Er zog sich zwar durch die formalistische Übertreibung
seines Rechtes Rache zu, aber er war formal im Recht
auch gegen die Gewalt der Mehrheit: denn sein Recht auf
Wahrung der Beuteordnung konnte ihm durch keinen Mehr-
heitsbeschluß entzogen werden, weil es kein Staatsrecht gab,
welches private Rechte hätte brechen dürfen.
Hier haben wir also einen Fall des später zu besprechen-
den Widerstandsrechtes, der sich nicht sowohl gegen den
König als gegen das ganze Volk, ausgenommen einen Volks-
1) Die Axt war nicht die gleiche (gegen MSt. 1, 322, 323).
60 Fritz Kern,
genossen, richtet. Solange auch nur ein einziger Volks^
genösse auf ein subjektives wohlerworbenes Recht nicht
freiwillig verzichtet, kann der Staat das objektive Recht,
in welchem jenes subjektive Recht steckt, durch keinen
Beschluß abändern. Wir sehen hier die theoretischen
Schranken nicht nur des Herrschers, sondern auch des Volkes
selbst gegenüber dem Recht. Der Einzelne ist aus dem Recht
unvertreiblich: es gibt keine Majorisierung. Fiat justitia,
pereat mundus. Der politisch-staatsrechtliche Gesichts-
punkt wird von der gewaltig einheitlichen mittelalterlichen
Denkweise vollständig verdrängt.
Wir haben hier zweierlei gelernt: einmal, daß der Herr-
scher z. B. Steuern (vgl. oben S. 50) nur ausschreiben konnte
nach gütlicher Verständigung mit der Volksgesamtheit,
und zweitens, daß diese Verständigung der Theorie nach
wenigstens das Wesen eines Verhandeins mit jedem Einzelnen,
ob er gutwillig zahlen wollte, trug. Der Fürst konnte im Mittel-
alter noch nicht schreiben, wie Friedrich Wilhelm I. an
seinen Nachfolger betreffs der Stände: „Accordiren sie de
bonne grace, gut. Machen sie Difficultät, so hat euch Gott ja
Suverein gemachet." Solche Andeutung wäre im Mittel-
alter fast als Gotteslästerung herausgekommen. Auch der
Besitzstand, sowie der Rechtsstand des Reiches oder der
Volksgesamtheit gilt als ein Recht, das der König nicht ein-
seitig schmälern darf. So gibt es eine Reihe von Fällen,
wo der Herrscher von vornherein nicht einseitig verfügen
darf, sondern auf eine gütliche Verständigung mit der Ge-
samtheit angewiesen ist, der Theorie nach. In der Praxis
war es freilich nicht immer ganz einfach, diese Fälle eindeutig
zu bestimmen, und noch weniger leicht war es, einen mächtigen
Fürsten handgreiflich davon zu überzeugen, worin er etwa
seine Konsenspflicht verletzt habe. Die Macht entschied
auch hier. Wer die Macht hatte, dessen Auffassung bestimmte,
was Recht sei. Doch auch diese Ketzerei hätte das Mittel-
alter niemals aussprechen, ein solch nichtswürdiges Stück
der Wirklichkeit niemals beim Namen nennen dürfen.
Damit aber sind wir schon hinübergeglitten zum
Recht und Verfassung im Mittelalter. 61
3. Grundsatz der Verantwortlichkeit.
(Das Widerstandsrecht.)
Der Einzelne schützt das Recht gegen jedermann,
auch gegen die Staatsgewalt. Jeder Einzelne ist hierzu be-
rufen, berechtigt, ja verpflichtet. Das ist der Sinn des Wi-
derstandsrechts, über das ich an anderem Ort so ausgiebig
gehandelt habe, daß ich mich hier kurz fassen darf.^) Das
Widerstandsrecht ist aber nur die begrifflich und technisch
unbeliilfliclie mittelalterliche Ausführungsform für einen
viel allgemeineren Grundsatz, für den sich nachmals auch
technisch geeignetere Verwirklichungen fanden als das
(für unser Auge revolutionäre) Recht des Widerstandes.
Dieser Grundsatz ist der der Verantvv'ortlichkeit der Re-
gierung oder der Staatsgewalt, mittelalterlich gesprochen des
Herrschers und seiner Räte. 2) Da die Regierung eingesetzt
ist zum Schutze des Rechts, so verliert sie durcli den Bruch
des Rechts ihre eigene Befugnis. // n'est mie seignor de faire
fort. Der Herrscher, der das objektive Recht verletzt, zer-
stört auch zugleich sein eigenes subjektives Herrschaftsrecht,
das der objektiven Rechtsordnung als ein untrennbarer
Bestandteil angehört. Rex eris, si rede egerls. Oder: recte
faciendo regis nomen tenetur, peccando amittitur. Die- Nicht-
unterscheidung von idealem und positivem Recht macht
auch diese Herrschaftsverwirkung zu einem halb rechtlichen,
halb morahsch-innerlichen Vorgang. Ipso facto verliert der
Herrscher durch einen Rechtsbruch sein Herrschaftsrecht.
Er setzt sich selber ab. Der Spruch der Gesamtheit, der
formlose Abfall Einzelner, die Wahl eines neuen Königs
(Gegenkönigs): all das, und was sonst bei den unzähligen
Fällen der Anwendung mittelalterlichen Widerstandsrechtes
begegnet, hat alles eigentlich nur noch deklaratorische Be-
deutung, während die Herrschaftsverwirkung durch Selbst-
V
1) MSt. 1.
2) Der Ratgeber des Fürsten erscheint im Mittelalter in schil-
lernder Doppcleigenschaft als Volksvertreter gegen den Herrscher
und als mitverantwortlicher Korregent gegenüber dem Volk, was ja
auch die Nachfolger des unbestimmten mittelalterlichen consilium,
die spätmittelalterüchen Stände, noch übernommen haben.
62 Fritz Kern,
absetzung konstitutiv schon im Augenblick der fürstlichen
Rechtsüberschreitung vollzogen ist.
Wir treten hier nicht in die Betrachtung des praktischen
Verfassungslebens ein: diese Widerstandstheorie selbst, die
reifste Frucht des mittelalterlichen Rechts- und Staats-
begriffs, birgt die praktische Anarchie unter ihrer Schale.
Bedarf diese Theorie des Vertragsbegriffs? Nicht unbe-
dingt. Wer subjektive Rechte anderer verletzt, der setzt
sich selber außerhalb der Rechtsordnung und verliert seiner-
seits den Anspruch auf den Schutz seiner subjektiven Rechte.
Dem Träger der Staatsgewalt geht es dabei mangels eines
eigenen Staatsrechts nicht anders wie dem geringsten Volks-
genossen, und der Senator, den der Kaiser willkürlich ab-
setzt, antwortet in der mittelalterlichen Rechtsanekdote
dem Kaiser: ,,Wenn du mich nicht mehr als Senator be-
trachtest, betrachte ich dich nicht mehr als Kaiser." Der
rechtmäßig eingesetzte Herrscher hat ein Anrecht auf die
Herrschaft, wie der Bauer auf den ererbten Hof; ebenso
heilig ist sein Anspruch, aber ebensowenig unverwirkbar.
Es ist ein (wir würden sagen „privates") Recht wie jedes
andere.^) Dem Herrscher muß man gehorchen, dem Ty-
rannen nicht. 2) Im Augenblick aber, wo der Herrscher die
Anrechte anderer Volksgenossen einseitig ändert, wandelt
er sich selbst freiwillig von einem rex in einen tyrannus
um und verliert sein Anrecht auf Gehorsam in demselben
Augenblick, ohne daß es dazu noch ein rechtsförmliches
Verfahren seitens der Gesamtheit brauchte.
Wie man sieht, bedarf es der Einführung des Ver-
tragsbegriffes nicht, um das Widerstandsrecht zu erklären. 3)
Volles Verständnis des mittelalterlichen Rechtsbegriffs
sichert überhaupt gegen eine Überschätzung der rechts-
1) Das Mittelalter selbst kennt selbstverständlich kein privates
Recht, weil der es setzende Gegensatz des souveränen Staatsrechts
gegenüber dem Privatrecht fehlt.
*) Die ethisch-soteriologisch gerichtete Kirche läßt es nicht ein-
mal dabei bewenden, daß dem Tyannen nicht gehorcht werden braucht
Ihr zufolge darf man ihm gar nicht gehorchen.
*) Näheres in MSt. I. Ich freue mich, hier völlig mit R. Schmidt^
Vorgeschichte der geschr. Verf. 156, 3, übereinzustimmen.
Recht und Verfassung im Mittelalten 6$
theoretischen Bedeutung des Vertragsbegriffs. Immerhin
wird auf die eben geschilderten Verhältnisse vom späteren
Mittelalter auch das privatrechtliche Symbol des Herrschafts-
„Vertrages" angewendet, nachdem man es in der antiken
Literatur gefunden hatte. Altgermanisch ist dieser Vertrags-
gedanke nicht, aber für das gelehrte Denken bietet er sich
als passendstes Gleichnis, um die wechselseitige Verpflich-
tung von Herrscher und Volk auf das über beiden thronende
Recht zu veranschaulichen. Germanisch ist nicht der Ver-
tragsgedanke, sondern der Begriff der wechselseitigen Treue^
deren Schnittpunkt im objektiven Recht liegt. Durch Treue
ist die Staatsgewalt dem Volk verpflichtet, wie dieses jener.
In der Wirklichkeit aber kam die germanische Verwirkung;
des Treuanspruches seitens des selber Treubrüchigen auf
eines hinaus mit der kirchlichen Lehre vom tyrannus^
der sich selber absetzt, und mit der naturrechtlichen Kon-
struktion von der Auflösung des Herrschaftsvertrags durch-
Rechtsverletzung des Herrschers.
Um das mittelalterliche Widerstandsrecht ganz zu ver-
stehen, müssen wir es hier noch abgrenzen gegen das moderne
Notrecht der Revolution. Auch wir werden unter Umstän-
den es billigen, wenn sich irgendein „Naturrecht" „elementar**"
gegen ein noch so formell unanfechtbares Staatsrecht empört.
Denn das Recht (worunter wir nur noch positives Recht
verstehen) ist für uns nichts in sich Letztes und Alleiniges:
es wird, wie von der Staatsräson oder Politik einerseits, so
von der Sittlichkeit anderseits begrenzt, überwacht und
unter Umständen zertrümmert. Solch einen Einbruch
rechtsfremder, aber politisch oder sittlich begründeter
Materie in den Kreis des Rechts anerkennen wir unter Um-
ständen in dem (nicht Recht, aber) Notrecht des Umsturzes.
Das mittelalterliche Widerstandsrecht aber ist kein Revo-
lutionsrecht, sondern einer der klarsten Bestandteile des Ver-
fassungsrechtes selbst: eine wahre verfassungsrechtliche
Auflehnungsbefugnis des Untertans. Die Erklärung hierfür
liegt nicht sowohl in der Nichtunterscheidung von Staats-
recht und Privatrecht, als vielmehr in der Gleichsetzung von
idealem und positivem Recht. Jene für uns außerrecht-
liche Macht der Sittlichkeit (Politik oder Staatsräsoa
64 Fritz Kern,
wird im Mittelalter überhaupt nicht anerkannt) steckt eben
im mittelalterlichen Rechtsbegriff selber drin.
Da das Recht Recht schlankweg, nicht positives Recht
war, machte es für seinen Gehalt und seine Gültigkeit nichts
aus, ob die Staatsgewalt es kannte und anerkannte. Um so
schlimmer für die Staatsgewalt, wenn sie das Recht ver-
kannte! Es mochte also der Fall eintreten (und ist oft ein-
getreten), daß ein einzelner Volksgenosse das Recht erkannte
oder zu erkennen glaubte, während die Staatsgewalt es an-
geblich oder in Wahrheit verkannte. Da aber die Staatsge-
walt nur ist durch und für das Recht und nur Obrigkeit ist,
insofern sie das Recht spendet und verwaltet, so hört die
Obrigkeit, die sich an das Unrecht gebunden hat, auf, Obrig-
keit zu sein, für den Mann, der sich an das Recht gebunden
weiß. Das Recht ist der Souverän, und jene Obrigkeit Ty-
rannei, d.h. nichtig. Der Einzelne kämpft dann mit Fug und
Recht gegen den angemaßten Träger der Staatsgewalt,
der zu dem betreffenden besonderen Unrecht noch das all-
gemeine fügt, sich widerrechtlich als Obrigkeit aufzuführen,
während doch der aufhört rex zu sein, der das Recht (rectum)
nicht achtet. 1)
1) In vielem ähnelt der mittelalterliche Herrscher nach der Auf-
fassung der Zeit dem Abt. Dieser rein zu sittlicher Erziehung seiner
Brüder eingesetzte Vater ist Vorbild auch des Verhältnisses weltlicher
Herrscher zu ihren Untertanen, so wie das Kloster das ideale Vorbild
der menschlichen Gesellschaft überhaupt sein soll. Näher ist hierauf
nicht einzugehen; es gehört in die Geschichte der mittelalterlichen
Politik. Ich erwähne es hier nur, um des einen Umstandes willen,
daß der Abt trotz seinen typisch mittelalterlichen diskretionären Herr-
scherbefugnissen, trotz der Unbestimmtheit seiner Konsenspflichten usf.,
doch in einem mehr der modernen verfassungsbeschränkten Regierung
als dem mittelalterlichen weltlichen Herrscher ähnelt: er hat eine
geschriebene Verfassung, die Regel, über sich. Mit den entsprechen-
den Einschränkungen gilt ähnliches überhaupt von der geistlichen
Obrigkeit des Mittelalters.
In allem übrigen aber ist nach der Regel Benedikts der Abt das
Vorbild mittelalterlichen Herrschertums selbst, das monarchisch,
nichtabsolutistisch, aber ohne bestimmte Bindungen ist (mit Aus-
nahme eben der „Regel" als geschriebenen Rechts, an das der Abt
gebunden ist; aber die Regel läßt sehr vieles unbestimmt!). Der Abt
soll in wichtigen Dingen die Gesamtheit der Mönche, in unwichtigeren
die Seniores hören. Er selbst aber bestimmt, was wichtig und was
Recht und Verfassung im Mittelalter. 65
4. Übergänge.
Die nachmittelalterliche Verfassungsentwicklung hat
das hier gezeichnete Bild allmählich in allen seinen Einzel-
heiten verwischt. Vor allem hat der moderne Rechtsbegriff,
indem er das positive, das kodifizierte und das Staatsrecht
herausarbeitete, die Pfeiler des mittelalterlichen Gedanken-
gebäudes selbst zum Einsturz gebracht.
Noch bevor dies eintrat, hat das Spätmittelalter inner-
halb des alten Rechtsbegriffes selbst einige technische Neue-
rungen vollzogen, durch die verbesserten bzw. geregelteren
Konsensgepflogenheiten des Ständestaats.
Der Ständestaat bewahrt (im Gegensatz zum landes-
fürstlichen Absolutismus) den Grundzug des mittelalter-
lichen Verfassungsgedankens und verschärft ihn sogar noch:
nämlich den Schutz der Individualrechte und die Schwächung,
Bindung und Beschränkung der Staatsgewalt. Der im Früh-
mittelalter noch schwankende Kreis der konsensberechtigten
Personen wird abgegrenzt, der im Frühmittelalter noch
fließende Rahmen der konsenspflichtigen Herrscherver-
fügungen wird abgesteckt. Das wirkliche Volk tritt in seiner
Bedeutung freilich zurück, je mehr die Volksvertreter,
die Stände sich abzirkeln und damit auch zu einer Art von
Volk in oder über dem Volke, zu einer Art von Nebenstaats-
gewalt oder Korregenten werden. Auch das Widerstands-
recht, das dem Ständestaat infolge der unverrückt beibe-
haltenen mittelalterlichen Grundzüge noch unentbehrHch
ist, wird auf die Stände eingeschränkt und damit mehr und
mehr von einer fallweise repressiven zu einer ständig präven-
tiven Verfassungseinrichtung, die zu den modernen Formen
der Regierungsverantwortlichkeit, der parlamentarischen
Verantwortlichkeit hinüberleitet. In dieser Festlegung so-
wohl des Personenkreises wie der Geschäftsbefugnisse der
Volksvertretung vollzieht der Ständestaat entscheidende
Klärungen, zu denen noch als weitere technische Verbesse-
rung die Einführung des Mehrheitsgrundsatzes innerhalb
der Volksvertretung kommen konnte.
weniger wichtig ist; ebenso wer senior sei und wieviele seniores er hören
will. Endlich soll er diese Ratgeber nur hören, entscheiden und Beschluß
fassen soll er monarchisch-allein.
Historische Zeitschrift (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd. 5
66 Fritz Kerrt,
Das, was das Mittelalter nicht fertiggebracht hatte
und worauf es doch für eine praktisch gedeihliche Arbeit
der Staatsmaschinerie ankommt, die klare Abgrenzung der
Organe und ihrer Zuständigkeiten, das wird jetzt einiger-
maßen erreicht. Die wohltätige Fiktion kommt auf, daß
der Wille der einzelnen Volksgenossen für sie selbst rechts-
verbindlich ausgedrückt und zusammengefaßt wird durch
den Willen der Mehrheit der Volksvertreter. Der Herrscher
aber weiß jetzt genau, für welche Angelegenheiten er die Zu-
stimmung ganz bestimmter Persönlichkeiten einholen muß.
Diese Fortschritte des Ständestaats konnte das Mittel-
alter sozusagen noch aus seinem eigenen Geiste heraus an-
bahnen. Der Ständestaat ist Geist von seinem Geist: das
beweist er auch in der immer noch weiter getriebenen Kne-
belung der Staatsgewalt, dem Vordrängen der privatrecht-
lichen und privatwirtschaftlichen Gesichtspunkte. Infolge-
dessen konnte auch der moderne Staat nicht geradlinig aus
dem Ständestaat herauswachsen, sondern es mußte erst die
Staatsvernunft und Staatsnotwendigkeit sich gewaltsam
Bahn erzwingen durch den Durchbruch des absolutistischen
Fürstenrechtes, ausgehend von einem wurzelhaft unmittel-
alterlichen und gegenmittelalterlichen Staats- und Rechts-
begriff, Der Gedanke der Verfassung war im Mittelalter
infolge des moraldurchtränkten mittelalterlichen Rechts-
begriffs zu Staats- und machtfeindlich. Der rauhe Rück-
schlag des absolutistischen Fürstenstaats bringt den Ver-
fassungsgedanken völlig unter die kräftigen Klauen der
Politik, der Staatsvernunft. Und dann erst, als sich Privat-
recht und Moral unter der Hülle des Naturrechts wieder
dem nunmehr machtgesättigten Leviathan- Staat nähern,
entsteht nach langen Verfassungskämpfen aus dem billigen
Ausgleich zwischen Macht (Staatsrecht) und „Recht" (Natur-
und Privatrecht) der moderne Verfassungsstaat.
Man kann von einem „ewigen Mittelalter" sprechen,
das auch in der Neuzeit fortlebe. In einem doppelten Sinn
möchte ich hier diesen Ausdruck zugeben: einmal, indem
die Neuzeit mittelalterliche Grundgedanken in völliger tech-
nischer Umarbeitung beibehält und manchmal besser zum
Ziele führt als das Mittelalter selbst es vermochte. Und so-
Recht und Verfassung im Mittelalter. 67
dann : indem die verwickelte Technik des modernen Kultur-
lebens einen Zwiespalt aufreißt zwischen der gelehrt-gebil-
deten Kultur und dem volkstümlichen Denken, das viel-
fach bei mittelalterlichen oder halbmittelalterlichen Denk-
bräuchen stehen bleibt, die zu ihrer Zeit noch eine unge-
brochene Einheit zwischen Gebildeten und Ungebildeten dar-
stellten. Diese beiden Gesichtspunkte des Fortlebens des
Mittelalterlichen sollen hier fi|r das Verfassungsgebiet einer
nach dem andern erwähnt werden. Ich bemerke aber, daß
in diesem Zusammenhang, wie in unserer ganzen Studie
„Mittelalter** im rein zeitlichen Sinn, für die Kultur des
Jahrtausends von 500 bis 1500 gesetzt ist. Daß dies nicht
mit begrifflichem Mittelalter zusammenfällt, soll nachher
noch erörtert werden.
Betrachten wir die Erfüllung mittelalterlicher Zielgedan-
ken durch moderne Verfassungen. Es bedarf gar keiner langen
Beweisführung, um zu zeigen, daß die Grundgedanken des
modernen Verfassungsstaates: Rechtsgebundenheit der Re-
gierung, Mitwirkung der Volksvertretung, Verantwortlich-
keit der Regierung genau die Grundlinien auch der mittel-
alterlichen Verfassung sind. Außerordentlich groß aber
sind die technischen Veränderungen, durch welche die Neu-
zeit diesen übereinstimmenden Endzweck der Verfassung
scheinbar umständlicher, in Wahrheit sicherer und reibungs-
loser erreicht.
Die moderne Staatsgewalt ist nicht mehr an „das Recht",
sondern an positives Recht, an eine geschriebene Verfassung
gebunden. Moderne Verfassungen enthalten zwei gänzlich
verschiedene Bestandteile: naturrechtlich beeinflußte Grund-
oder Menschenrechte auf der einen, rein technische Bestim-
mungen auf der anderen Seite. Zu der ersten Reihe würde
z. B. auch die Trennung der Gewalten zu zählen sein, zu
der zweiten die Einzelbestimmungen über das Zustande-
kommen der Volksvertretung, Wahlgesetze usf.^) Aber beide
1) Soll der Begriff der Grund- oder Menschenrechte überhaupt
einen guten Sinn behalten, so scheint mir nötig, daß nur naturrecht-
liche Bestimmungen darunter verstanden werden. R. Schmidt beginnt
abweichend hiervon seine „Vorgeschichte der geschriebenen Verfas-
sungen" auf S. 81 damit, daß er alle diejenigen Verfassungsbestimmun»
5*
tS Fritz Kern,
Reihen von Bestimmungen erscheinen äußerlich als posi-
tives Recht. Jedes einzelne Organ des Staates, auch die
Regierung, steht unter diesem positiven Recht, aber die
Staatsgewalt als Ganzes steht darüber. Sie, nicht das po-
sitive Recht, ist souverän. Während also die Regierung
in ähnlicher Weise ans Recht, wenn auch an ein anderes
Recht, gebunden ist, wie der mittelalterliche Herrscher,
ist doch die moderne Staatsgewalt als Ganzes an kein
Recht gebunden, sondern steht darüber. Der Herrscher-
oder Regierungswillkür sind Schranken gezogen, aber nicht
mehr wie im Mittelalter auch dem Staatsermessen, der
Staats Vernunft.
Ob die Staatsgewalt das Recht beobachtete oder ver-
letzte, konnte im Mittelalter bei der Vieldeutigkeit des
Rechtsbegriffs einerseits, der mangelhaften Rechtsbestän-
digkeit anderseits fast in jedem einzelnen Fall strittig blei-
ben. Heute ist es sehr leicht festzustellen, ob irgendein Staats-
organ in Einklang mit dem Recht blieb oder nicht: diese
leichte Erkennbarkeit teilt die moderne geschriebene Ver-
fassung mit dem geschriebenen Recht überhaupt, dessen
Krone sie ist. Gesetzt also auch, es gäbe heute noch ein
Widerstandsrecht des Einzelnen, so würden doch die Fälle
seines Eintretens heute unendlich viel einwandfreier festzu-
stellen sein als unter der Herrschaft des mittelalterlichen
Rechtsbegriffs, und schon damit wäre für die Erhaltung
der Staatsmacht und Rechtssicherheit Entscheidendes ge-
wonnen. Aber es bedarf des Widerstandsrechtes gar nicht
mehr. Denn die moderne geschriebene Verfassung verzahnt
gen, welche das Verhältnis von Staat und Individuum berühren, als
Menschenrechte bezeichnet, also auch so rein technische und positiv-
rechtliche Einzelheiten, wie die Festsetzung des Wahl- oder Militär-
alters u. dgl. Auf der anderen Seite würden auch die wichtigsten Fest-
setzungen über die Organe der Staatsgewalt hiernach nicht unter
die Grundrechte fallen. Schutz des privaten Vermögens, der persön-
lichen Freiheit und des Lebens sind gewiß Menschenrechte. Aber ge-
hört hierzu nicht auch mein Menschenrecht auf Trennung der Justiz
von der Verwaltung? Die naturrechtliche Hoheit und damit die Ge-
burtsurkunde der Menschenrechte scheint mir bei der Schmidtschen
Auslegung verloren gegangen, und der Begriff einerseits zu eng, ander-
seits zu weit gefaßt.
i
Recht und Verfassung im Mittelalter. 69
die wechselseitigen Befugnisse der Staatsorgane so unter-
einander, daß ein seine Zuständigkeit überschreitendes Organ
wie von selbst durch eintretende Sicherungen gehemmt und
unschädlich gemacht wird. Freilich nicht unbedingt gilt
das: immer entscheidet zuletzt auch hier die Macht. Ver-
fassungsbrüche sind möglich, Staatsstreich und Umsturz.
Aber das sind außerrechtliche Vorgänge. Innerhalb von Recht
und Verfassung selbst ist das repressive Recht des Wider-
standes durch präventive gegenseitige Überwachungsmaß-
nahmen der Staatsglieder ersetzt worden. Die Geschichte
der Anarchie im Mittelalter zeigt, welch segensreiche Ent-
deckung die Wiederausgrabung des Begriffs „positives
Recht" und die Scheidung von Staats- und Privatrecht
gewesen ist; sie war manches Bataillon Soldaten wert. Im
Mittelalter durfte und mußte, um zu wissen, was Recht
sei, jeder das eigene Rechtsgefühl befragen. Wenn heute eine
Minderheit ihr von der Gewalt des Bestehenden abweichendes
Rechtsgefühl durchsetzen will, so muß sie streben, zur Mehr-
heit zu werden und den Willen der Staatsorgane zu be-
stimmen, welche festsetzen, was Recht sein soll. Im Mittel-
alter war das kein anerkannter Weg: denn das Recht wurde
nicht von Staatsorganen gemacht, am wenigsten von Mehr-
heiten, sondern es war vor allen Staatsorganen und un-
geachtet aller Mehrheitsbeschlüsse. Wohl fragte der Fürst,
um zu wissen, was Recht sei, wenn er wollte, auserlesene
Männer, die dann gewissermaßen als Vertreter der Gesamt-
heit galten. Aber ob er sie fragen wollte, wen er fragen
wollte, ob er sich an ihre Antwort kehren wollte, stand bei
ihm. Was aber die Meinungsbildung der Volksvertreter
anlangt, so bestand die moderne staatsrechtliche Fiktion
noch nicht (vielmehr sie kam eben erst im Kirchenrecht auf),
daß der Vertreterwille den Willen der Vertretenen, der Mehr-
heitswille den Minderheitswillen tötet, so daß aus ihm ein
Gesamtwille wird, der alle bindet. Da man nun im Mittel-
alter Minderheits- oder Individualanschauungen über das,
was Rechtens sei, nicht positivrechtlich vernichten konnte,
weil es kein positives Recht gab, und da auch die Herstel-
lung der theoretisch geforderten Einstimmigkeit praktisch
nicht einmal auf dem Weg des Niedersäbeins, wie im polni-
90 Fritz Kern,
sehen Reichstag, für die zahllosen Fälle des Rechtslebens
in Betracht kam^), so konnte man Minderheiten und Einzelne
niemals daran hindern, zu glauben und zu erklären, ihre
Kenntnis und Überzeugung vom Recht sei die echte, die der
herrschenden Partei aber Rechtsverdrehung. Und da nun
das Recht damals durch sich selber war und nicht durch
Satzung des Staates, so hatte jeder Volksgenosse das Recht,
wo nicht die Pflicht, Recht zu verteidigen gegen Unrecht,
und zum Michael Kohlhaas zu werden: er schützt das Recht,
an das jeder gebunden ist, gegen das Unrecht, an welches
sich die Staatsgewalt gebunden hat, ohne daß sie damit
die einzelnen Volksgenossen gleichfalls dem Teufel ver-
pflichten konnte.
Es liegt eben alles in der Nichtunterscheidung des
idealen und des positiven Rechtes: sie bestimmt das von
unserem modernen Leben so abweichende Verhalten des Ein-
zelnen zu Recht, Gesetzgeber und Staatsgewalt. Wenn heute
jemand ein positives Recht schilt, so kann er seine verfassungs-
mäßige Ersetzung durch das ihm vorschwebende ideale
Recht nur erreichen durch Umstimmung des Gesetzgebers,
der dann das geforderte ideale Recht in positives verwandelt.
Wenn aber im Mittelalter jemand ein Unrecht (und jede
„Ungerechtigkeit" ist damals gleichbedeutend mit „Unrecht-
mäßigkeit", ja „Gewalt"^) im Verhalten der Staatsgewalt
entdeckte, so durfte er erklären, das Recht sei durch Gewalt
unterdrückt: nicht neues Recht brauche erlassen werden,
sondern einfach das Nichtrecht sei zugunsten des bedrängten,
aber allein seienden Rechts wieder aufzuheben; das verlange
er, Michael Kohlhaas, und werde nötigenfalls den Staat
dazu zwingen, Gewalt wider Gewalt setzend.
Wir brauchen, wo wir die Gerechtigkeit gekränkt sehen,
glücklicherweise nicht mehr gleich „Gewalt'* zu rufen.
Begriffliche Verfeinerungen und technische Verbesserungen
haben den Zweck der mittelalterlichen Verfassung innerhalb
jies modernen Verfassungsstaats zu einer ruhiger und sicherer
arbeitenden Erfüllung gebracht, ohne ihn irgendwie zu ver-
1) Vgl. MSt. 1, 461.
2) Vgl. auch MSt. 1, 313, 307, zum Sprachgebrauch von vis.
Daß ius und iustitia wechselsweise gebraucht werden, ist bekannt.
Recht und Verfassung im Mittelalter. 71
flüchtigen. Aber unsere letzten Bemerkungen haben doch
auch schon auf jene zweite Seite des „ewigen Mittelalters*'
hinübergeführt, die oben bezeichnet wurde als das Festhalten
volkstümlicher Anschauungsweise an mittelalterlichen Denk-
bräuchen auch innerhalb der Moderne, die eben durch ihren
verwickeiteren Aufbau eine Spaltung zwischen gebildetem
und ungebildetem Denken erzeugen mußte. Wir haben das
schon oben am Ende unserer Ausführungen über das Recht
im allgemeinen betont, und müssen es hier nun für die Ver-
fassung wiederholen.
Dem naiven Volksempfinden wurde und wird es immer
schwer, einzusehen, daß etwas, was es für recht hält, dennoch
nicht Recht sein solle. Denn zu allen Zeiten empfängt der
Staat sein Daseinsrecht daraus, daß sein Walten dem Rechts-
gefühl entspreche: nicht immer aber sind Staatsnotwendig-
keiten ohne weiteres verständlich. Der Weg der gesetzmäßi-
gen Reform ist lang und für Minderheiten zudem meist hoff-
nungslos verschlossen. Wie segensreich und notwendig
die technischen Hemmungen, das langsame und verwickelte
Räderwerk des modernen Staats- und Rechtslebens ist,
das überblickt der gemeine Mann nicht. Er ahnt es vielleicht
dunkel, aber Michael Kohlhaas ist seinem rechtstrotzigen
Empfinden jedenfalls lieber. Freilich, die starken Staats-
gewalten der Neuzeit haben mit ihrem positiven, geschrie-
benen Recht und zumal Staatsrecht die Völker erzogen. Das
Murren des Volks blieb jetzt im allgemeinen davor bewahrt,
Widerstandsrecht wie in alter Zeit und so sich selber furcht-
bar zu werden. Ausgenommen bei unterdrückten Völkern, die
unter volksfremden Staatsgewalten seufzen und denen des-
halb das Widerstandsrecht auch heute als eines der ewigen,
in den Sternen geschriebenen Rechte gelten muß^), ist es
^) Man vergleiche z. B. folgende, beliebig herausgegriffene Mel-
dung der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" von 1918:
Die irischen Bischöfe und die Dienstpflicht.
Haag, den 27. April. (Privattelegramm.) Der „Telegraaf"
läßt sich aus London melden: „Der eigenartige Standpunkt, den die
katholische Priesterschaft Irlands zu der Dienstpflicht eingenommen
hat, wird durch die Erklärung Foleys, des Bischofs von Kildare, be-
leuchtet. Einem Bericht zufolge, den die „Times" aus Dublin erhielt.
72 Fritz Kern,
erloschen. Das ewig junge Verlangen nach einem idealen
Recht weiß heute, was es im Mittelalter noch nicht wissen
konnte: daß der Umbau des Rechts sich, wenn auch unter
Widersprüchen und Verzögerungen, doch gewisser durch ein
absolut bindendes positives Recht, Mehrheitsbeschlüsse und
Kodifikationen erzielen läßt als durch den Glauben an ein
durch sich selbst seiendes Recht mit dem Rechtszug an die
Souveränetät des Einzelgewissens, welches befugt ist, jenes
Recht wiederherzustellen, wenn es gekränkt wurde, und die
Staatsgewalt abzulehnen, welche es kränkte.
Völker, die staatlich gut erzogen sind und die Staats-
räson in den Willen der Einzelnen aufgenommen haben,
wie Franzosen und Engländer, töten sich nicht mehr so
leicht selbst durch Revolution wie mittelalterlich unpolitische
Völker in der Art der Deutschen oder Russen.
Freilich in einem Punkt wird es dem Privaten, dem
Untertan theoretisch nie wieder so wohl werden, wie im Mittel-
alter. Nie wieder wird das geringste seiner subjektiven
Rechte so heilig und unverbrüchlich werden wie das Grund-
gesetz des Staates, ja der Menschheit selbst! Aber dieser
schrankenlose Schutz des Privatrechts in der Theorie war
doch in der Praxis eher bedenklich, nicht nur für den Staat,
der, im Schlinggewächs überwuchernder Privatrechte ver-
strickt, keinen staatsnotwendigen Schritt tun konnte,
ohne das Recht zu übertreten^), sondern auch für den Privat-
mann oder Volksgenossen selbst. Denn wo mangels feinerer
begrifflicher Unterscheidungen das Kleinste dem Größten
hat der genannte Bischof in einer Rede in der Kathedrale von Carlow
gesagt, daß die Bischöfe der Meinung seien, das Dienstpflichtgesetz
sei kein Gesetz. Es liege außerhalb der Befugnisse der Regierung,
weil es einen Versuch darstellt, eine unerträgliche Last auf das Gewissen
des Volkes zu bürden. Darum ist ein Widerstand des Volkes gegen dieses
sog. Gesetz rechtmäßig und darum können alle Mittel angewandt wer-
den, die mit dem göttlichen Gesetz in Übereinstimmung stehen. Diese
These, so sagt die „Times", ruft zu einem öffentlichen Widerstand
gegen ein regulär vom Parlament angenommenes Gesetz auf. Es ist
klar, daß die katholische Kirche hier ein sehr gefährliches Spiel spielt,
denn der alte Religionsstreit wird dadurch wieder wachgerufen."
*) Hierüber künftig in einer Studie über mittelalterliche Po-
litik. Vorläufig vergleiche MSt. 1, 308ff.
Recht und Verfassung im Mittelalter. 7S
gleichgeachtet wird, da ist die Gefahr nahe, daß auch das
Große kleingeachtet werde. In der Nichtunterscheidung
des idealen und des positiven Rechtes lag vielfach Gefährde
sowohl für den Privatmann wie für die Staatsgewalt. Wenn
z. B. ein Fürst einem Untertan freies Geleit zum Konzil
zusagte, auf welchem dann durch die Stimme des Heiligen
Geistes jener als Ketzer anerkannt wird, so verliert der Ge-
leitsbrief ipso facto seine Gültigkeit, da jedes Recht und
jeder Staatsakt hinwegfällt, wenn sie dem Glauben schaden
(Hus). Gewiß, heute ist der Untertan bei keinem seiner
Privatrechte mehr ganz sicher, daß nicht der souveräne Staat
in seinen bitteren Staatsnotwendigkeiten und seiner uner-
sättlichen Machtgier sie ihm kürze. Nur zwei Sicherungen
sieht der Private heute, und diese beiden müssen ihm ge-
nügen. Das eine ist die Gewißheit, daß bestimmte Gebote
der Sittlichkeit so feststehen, daß sie auch durch keine
wie immer geartete Staatsnotwendigkeit angegriffen werden
können. Das andere ist die Teilnahme einer Volksvertretung
an der Staatsgewalt, wodurch die Sicherung jener sittlichen
Forderungen gegen Launen Einzelner verbürgt erscheint,
welche Mängel auch immer diese Volksvertretung sonst
haben möge. Ob aber jene sittlichen Forderungen ganz oder
teilweise in die geschriebene Verfassungsurkunde aufge-
nommen sind, als Grundrechte u. dgl., ist höchst gleichgültig
und für das Wesen des modernen Verfassungsstaates von fast
gar keiner Bedeutung. Denn ihre Unverbrüchlichkeit liegt
ja keineswegs in ihrer Aufnahme in das positive Staats-
recht, welches im Gegenteil formal als positives Recht gerade
das Merkmal der leichten Abänderungsfähigkeit trägt, son-
dern darin, daß sie ein ideales Recht darstellen, welches allen
Volksgenossen oder doch der überwältigenden Mehrheit
dauernd teuer und heilig ist, sowie darin, daß der moderne
Verfassungsstaat die Staatsorgane so gegeneinander ordnet,
daß keines von ihnen ungestraft diese sittliche Gemeinüber-
zeugung verletzen kann. Daß man die Grundrechte (d. h.
einen kleinen Ausschnitt jener sittlichen Grundforderungen)
im 18./19. Jahrhundert da und dort in die geschriebenen
Verfassungen aufnahm, ist nicht aus dem Geist des modernen
Verfassungsstaats zu erklären, sondern aus einem Stück
74 Fritz Kern,
„ewigen Mittelalters", hineingeworfen in die Kämpfe mit
dem absoluten Staat, unter einer Wesensverkennung des
geschriebenen Rechts, wofür eben die Haltung des Natur-
rechts zwischen Mittelalter und Moderne bezeichnend ist.
Doch hierauf soll nicht näher eingegangen werden.
Es genüge uns, nach den Verwandtschaftsbanden zwischen
mittelalterlicher und moderner Verfassungsidee auch ihre
Verschiedenheiten erwähnt zu haben. Die straffe Vollzie-
hungsgewalt des modernen Staats prägte den Völkern ein,
daß auch eine „ungerechte" Obrigkeit nicht aufhöre Obrig-
keit zu sein, und ein schlechtes positives Recht noch immer
Recht bleibe. Der mittelalterliche Rechtsbegriff ging unter
durch das gelehrte, geschriebene Recht und die Erstarkung
der Staatsgewalt. Der vieldeutige Rechtsbegriff des Mittel-
alters, dunkel und reich in seiner unklaren Tiefe, ausreichend
in altertümlich engen und begrenzten Lebensverhältnissen,
wo jeder jeden kannte und den ganzen Umkreis der für ihn
wesentlichen Rechtsordnungen überschaute, dieser einfache
und doch so unergründlich strudelnde Rechtsbegriff war
eines der wesentlichen Hindernisse für den Aufbau kräftiger
Staatsordnungen: er paßte für Markgenossen, aber nicht für
Monarchien.
Anhang.
Die entscheidende Wendung der ganzen begrifflichen Entwick-
lung trat ein, als die spätmittelalterliche Rechtsphilosophie es lernte,
zwischen positivem und Naturrecht zu unterscheiden. Fortan ist die
Staatsgewalt über dem positiven und unter dem natürlichen Recht.
Also nicht mehr jedes unbedeutendste individuelle Privatrecht, sondern
nur noch die großen Grundsätze des Naturrechts sind dem Zugriff
des Staates entzogen. Das Programm des Schutzes der Individual-
rechte gegen den Staat wird damit kleiner, aber auch gewichtiger.
Gleichzeitig setzt sich freilich der absolutistische Leviathan-Staat über
alle Individualrechte hinweg. In seiner Bekämpfung gewinnt die
Theorie der Naturrechtler den Wert einer praktisch wirksamen Waffe
und hilft den Verfassungskampf entscheiden. Das Naturrecht und seine
Grund- oder Menschenrechte stehen also mitten inne zwischen dem
mittelalterlichen und dem modernen Verfassungszustand, welch letz-
terer der Staatsgewalt dieselbe absolute Souveränetät auch gegenüber
den Privatrechten gibt, wie sie der absolutistische Fürstenstaat besaß,
aber durch die Zusammensetzung der Staatsgewalt Bürgschaften dafür
schafft, daß die sittlichen Forderungen (= iVlenschenrechte) nicht über-
schritten werden. Diese Bürgschaften sind der Schwerpunkt der
Recht und Verfassung im Mittelalter. 75
Verfassungen, die, wie jedes moderne Recht, geschriebenes Recht sind,
wenigstens auf dem Festland. Die Verkündigung von Menschen-
rechten aber ohne jene geschriebenen oder ungeschriebenen Bürg-
schaften, ist erst ein Programm, eine Vorstufe, eine Forderung. Die
proklamierten Menschenrechte wollen darum gewürdigt werden als
Kampf erzeugnis einer ganz bestimmten geschichtlichen Lage. Man
erweist ihnen zuviel Ehre, wenn man in ihnen selbst eine Bürgschaft
des Verfassungslebens sehen will. Denn entweder sind sie sehr allge-
mein gefaßt, und dann auch nichtssagend, oder sehr speziell, und dann
übertritt der souveräne Staat sie jeden Tag. Dem ausgebauten Verfas-
sungsstaat liegt an den Grundrechten wenig. Die Menschen wollen so
regiert werden, daß sie selbst einsehen, es sei gerecht und vernünftig.
Nach welchen Grundsätzen dies konkrete Gefühl ihnen erwachse,
kümmert sie weniger. Im 18. Jahrhundert aber, als die Menschheit dem
Fürstenabsolutismus entrinnen wollte, hatte das Aussprechen gewisser
Formeln, die das Recht der Privaten gegen den Staat betonten, um so
mehr Gewicht, je weniger noch Bürgschaften dafür bestanden, und im
Aussprechen dieser Formeln ruhte deshalb das politische Lebensglück
dieser Geschlechter zum großen Teile, so wie umgekehrt unter der la-
stenden Herrschaft des mittelalterlichen Moralcan/s der Fürstenspiegel
Machiavelli es für seine geschichtliche Aufgabe halten mußte, das un-
verjährbare, aber vom Mittelalter verkannte Eigenrecht der Politik
zu betonen.
Das Mittelalter hatte einzig das Eigenrecht der Seele und ihres
Erlösungswillens verkündigt, dem Staat nur den Zweck, dabei mitzu-
helfen, zuerteilt und die Politik als solche überhaupt verneint. Der
moderne Staat ging im Rückschlag gegen das Mittelalter zunächst
rücksichtslos auf Macht aus: das ist der absolutistisch-zentralistische
Staatstypus, für den Machiavelli oder Hobbes bezeichnend sind. Dann
aber kommt der absolute Staat auf dem Umweg der Machtpolitik
doch auch zu einer neuen Wohlfahrtspolitik, da es als unerläßliches
Mittel der Machtpolitik erkannt wird, auch den Einzelnen zu fördern
und zu bilden. So erwächst die Wohlfahrtspolitik des aufgeklärten Ab-
solutismus nicht wie die mittelalterliche aus Erlösungs-, sondern aus
Machtzwecken. Es ist Beglückungs-, nicht Erlösungspolitik. Der
Fortschritt vom brutalen, machtzusammenfassenden Ur-Absolutismus
zum aufgeklärten Absolutismus führt dann in derselben Linie der
Befriedigung des Individuums weiter zum Verfassungsstaat mit Men-
schenrechten, in deren Besitz sich der Einzelne „fühlen" darf. Aber
auch der moderne Verfassungsstaat zielt auf Macht, und das ist sein
grundlegender Unterschied von der mittelalterlichen Rechts- und
Staatstheorie.
In seinem Buch über „die Vorgeschichte der geschriebenen Ver-
fassungen" (Leipzig 1916) hat R. Schmidt den Grundrechten eine
Darstellung angedeihen lassen, welche durch die obige Darstellung
in wesentlichen Punkten zurechtgerückt erscheint. Schmidts Haupt-
gedanke, daß die Aufnahme der Grundrechte in die geschriebenen
Verfassungen nur formell etwas Neues sei, „die universalhistorisch
76 Fritz Kern,
epochemachende Tat" aber, nämlich die materielle Auffindung der
Grundrechte, „dem Zeitalter zum Ruhm angerechnet werden müsse,
das die schwierige Beziehung zwischen Staatsform und Einzelsphäre,
das Aufeinanderangewiesensein von Staatsgewalt und Untertan unter
der Autorität der Rechtsordnung zu entdecken und bewußt formuliert
zum Gemeingut des staatsrechtlichen Denkens zu machen verstand",
dieser sein Hauptgedanke führt Schmidt selbstverständlich zur
scholastischen Rechtsphilosophie. Er unterschätzt aber deren Ab-
hängigkeit von dem allgemeinen mittelalterlichen Rechts- und Ver-
fassungsgedanken. Die mittelalterlichen Theoretiker verlangen, mit
dem Schlüssel der wirklichen Verfassungsverhältnisse ihrer Zeit ge*
lesen zu werden, wie dies z. B. K- Wolzendorff in seinem Buch über
„Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht..."
(Breslau 1916) tut, indem er die Widerstandslehre z. B. noch der
Monarchomachen abgezogen zeigt vom Staatsrecht des Ständestaats.
Eine Vorgeschichte der geschriebenen Verfassungen aus einigen Lese-
früchten aus Thomas, Marsilius und Bartolus aufbauen zu wollen,
heißt soviel, wie einen antiken Tempel aus einer Säulenbasis, einer
halben Metope und einem Akroterion zu rekonstruieren, . . während
doch der Tempel selbst unversehrt vor aller Augen daneben steht.
Allerdings wäre so viel zu sagen gewesen, daß die Rechtsphilosophie
der Hochscholastik dank ihrer antiken Quellen zur Unterscheidung
von natürlichem und positivem Recht vordringt und damit die Mög-
lichkeit schafft, Grundrechte und positiv-subjektive Rechte der Pri-
vaten zu trennen. Die bei den Scholastikern naturrechtlich geheiligten
Privatrechte sind dann freilich wieder im wesentlichen dieselben, für
welche auch die frühmittelalterliche Verfassung ein Konsensrecht der
Beteiligten ausgebildet hatte. Daß das naturrechtliche System des
Mittelalters und des Nachmittelalters solche geheiligten Privatrechte
enthielt, war natürlich altbekannt. Es sind nur noch keine kodi-
fizierten Grundrechte, und diese Kodifizierung ist und bleibt das
Werk der amerikanischen und der französischen Verfassungsurkunden,
Alles Wesentliche ist in den wenigen Sätzen O. Gierkes, Althusius
(1913) 265 f., 346, 381, gesagt. Für das Moment der geschriebenen
Verfassung, daß sich die jeweiligen Organe der Staatsgewalt ausdrück-
lich auf sie verpflichten, Hegt die „Vorgeschichte" in den mittel-
alterlichen Throngelübden. Das Stärkste an geschichtlicher Verzer-
rung findet sich bei Schmidt in dem „Die Umbildung der kano-
nistischen Rechtsgedanken in die Prinzipien des weltlichen Territorial-
staatsrechts (!)" überschriebenen Kapitel, worin (S. 138) „Marsilius
die von Thomas geschaffenen (!) Schutzmaßregeln gegen ungerechte
Regierungsakte von den klerikalen Beisätzen des Scholastikers reinigt".
5. Zeitliches und begriffliches Mittelalter.
Die Geistesgeschichte unterscheidet den mittelalterlichen
Kulturtypus vom früh- wie vom spätzeitlichen Typus. Das
Recht und Verfassung im Mittelalter. 77
Kennzeichen des Mittelalterlichen ist für sie der Erlösungs-
gedanke, und damit der folgerichtig aus Einem Punkt ent-
wickelte Versuch, die Materie hinwegzuvergeistigen.
Die vorstehende Untersuchung bildet eine Warnung für
Geistesgeschichtler, zu einheitlich konstruieren und etiket-
tieren zu wollen. Denn Vieles von dem, was wir darstellten,
ja das Meiste ist ein wesentlich frühzeitliches Anschauungs-
gewebe.
Gewiß fanden wir namentlich überall dort, wo die Kirche
sich fühlbar machte, begrifflich mittelalterliche Elemente
eingesprengt. Aber daneben ragen andere, völlig unsoterio-
logische, gegen den mittelalterlichen Grundgedanken gleich-
gültige Elemente. Nicht alle, die mittelalterlich scheinen,
sind es wirklich. Die Gemengelage des Rechts mit dem
Guten z. B. ist trotz dem ethischen Beigeschmack nicht
mittelalterlich, sondern typisch frühzeitlich.
Der begriffliche Leitgedanke des Mittelalters, die Er-
lösung vom Materiellen, hat sich auf dem Rechtsgebiet
keineswegs rein durchgesetzt. Am reinsten natürlich in der
wirklichkeitsferneren Buchspekulation der mittelalterlichen
Theologen, die sich mit Rechtsphilosophie beschäftigen.
Aber kaum in den Werken rechtskundiger Schöffen, ob-
wohl sie gute Christen waren. Das Rechtsgebiet liegt eben
dem Zentralgebiet des mittelalterlichen Fühlens vergleichs-
weise ferne und läßt sich immer nur gradweise spirituali-
sieren. Diese Grade sind freilich verschieden hoch. Wir
streiften mannigfach den Einschlag des kirchlichen Gedan-
kens: ihn vollständig nachzuweisen würde das Ziel einer
schönen Sonderuntersuchung sein. Nur nebenbei sei er-
wähnt, daß die rechtlichen, wirtschaftlichen und gesell-
schaftlichen Zustände und Anschauungen der christlich-ger-
manischen Epoche von 500 bis 1500, obwohl in sich keines-
wegs rein vergeistigt oder auch nur annähernd vergeistig-
bar, doch von den Theologen bis zu einem hohen Grad in
den Dienst des mittelalterlichen Leitgedankens eingespannt
worden sind. Man braucht nur an Thomas denken.
Diese Affinität frühzeitlicher Zustände mit mittelalter-
licher Denkweise, ebenso beider Gegensätzlichkeit kann hier
aber nur gestreift, nicht entwickelt werden. Die mittel-
78 Fritz Kern,
alterliche Weltanschauung ist nicht nur einheitlicher, son-
dern auch intensiver als die andern. Die Frühzeit denkt
naiver, die Spätzeit blasierter über den Wert einer logischen
Geschlossenheit des Weltbildes* Infolgedessen hat das Früh-
zeitliche (und Spätzeitliche) unter sich weniger zwingenden
Zusammenhang als das Mittelalterliche.
Will man für das Gebiet der Rechtsanschauungen das
leitende Merkmal der drei typischen Epochen angeben, sa
würde für die Frühzeit die Vorherrschaft des Gewohnheits-
rechts, für das Mittelalter die Einspannung des Rechts in
die pädagogische Heilsanstalt, für die Spätzeit die Techni-
sierung des Rechts als geschriebenes und staatliches Recht
und seine Verselbständigung gegenüber dem Herkommen
und dem Guten zu nennen sein. Die Antike der Mittel-
meerkultur durchlebte einen Kreislauf von Frühzeit, Mittel-
alter und Spätzeit, der in Vielem Ähnlichkeit mit dem Ver-
lauf der drei Phasen in der christlich-germanischen Welt
hat, wenn diese Analogie auch nicht übertrieben werden
darf. Die antike Frühzeit wie die Frühzeit anderer Kultur-
kreise weist mit dem von uns geschilderten Typus des ger-
manischen Gewohnheitrechts Ähnlichkeiten auf. Das antike
Mittelalter formt ethisch-religiöse Erlösungsgedanken, die
innerhalb der Rechtsanschauung vor allem in Gestalt der
stoischen Philosophie sich auf das christliche Mittelalter ver-
erben.
Es ist hierbei zu beachten, daß sich die Kulturzeitalter
nicht reinlich ablösen, sondern übereinanderschieben und
daß in jedem Mittelalter viel Frühzeit, in jeder Spätzeit
Frühzeitliches und Mittelalterliches aus demselben Kultur-
kreis sowie vielfach auch die Überlieferungen einer älteren,
abgelaufenen Kulturfolge fortleben.
Die Geistesgeschichte wird, wenn sie vom „ewigen
Mittelalter" spricht, darunter den fortwirkenden Einfluß
des Erlösungsgedankens verstehen, nicht, wie wir es oben
taten, das Fortleben des frühzeitlich-mittelalterlichen Ge-
spinstes von Anschauungen der christHch-germanischen
Epoche von 500 bis 1500.
Aber ist es dann nicht richtiger, den Doppelsinn von
„Mittelalter'' durch neue Wortbezeichnungen auszuschalten
Recht und Verfassung im Mittelalter. 79
und das zeitliche Mittelalter (die Epoche von 500 bis 1500)
und das begriffliche Mittelalter (Erlösungskulturen) unmiß-
verständlich voneinander zu unterscheiden?
Die Frage ragt über unsere Untersuchung weit hinaus^
Jedenfalls ist die Epoche von 500 bis 1500 in den Geistes-
gebieten, die von ihr selbst als die vornehmsten empfunden
werden, und überhaupt in ihrer Rangordnung der Werte
völlig soteriologisch. Darum kann sie apotiori als Mittel-^
alter schlechthin bezeichnet werden. Sie hat eben durch
ihren Charakter dem „begrifflichen Mittelalter" zu seiner
wissenschaftlichen Prägung verholten und ist noch heute
für die Abendländer das bei weitem wichtigste Anschau-
ungsgebiet für Erlösungskultur« In dem Doppelsinn von
„Mittelalter" liegt also etwas logisch Störendes, aber an-
schauungsmäßig Gesundes. Die Sprache, die als sinnliches^
Wesen langsamer wird und wechselt als wissenschaftliche
Logik, verteidigt ihr gegenüber durch ihre beharrliche Hem-
mung reinlicher terminologischer Scheidungen die geistig-
geschichtlichen Anschauungszusammenhänge, die zuweilen
gehaltvoller sind als logische Schemate.
Alles hier Angedeutete wird erst dann klar heraus-
treten, wenn einmal ein Kundiger in dem zeitlichen Mittel-
alter der christlich-germanischen Epoche die frühzeitlichen
Elemente und die soteriologischen gesondert sowie in ihrer
Durchdringung dargestellt, ein anderer aber vielleicht die
Methode gefunden haben wird, das dem Begriff nach
mittelalterliche Recht, d. h. das Recht unter der Herr-
schaft des Erlösungsgedankens, aus den verschiedenen Kul-
turkreisen zu sammeln und zu vergleichen.
Die Entstehung von Sturdzas
„Etat actuel de l'AlIemagne^^
Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen
von
Carl Brinkmann.
Zweimal, am Anfang und am Ende des 19. Jahrhunderts,
hat die eigentümliche Mittelstellung des modernen Rußland
zwischen mittelalterlicher und neuzeitlicher Kultur es mit
sich gebracht, daß gerade hier, am Schauplatz der trieb-
haftesten innen- und außenpolitischen Leidenschaften, gegen-
über dem neuzeitlichen Grundsatz nationaler Machtentfal-
tung die Idee der internationalen politischen Norm zu vor-
bildlicher Verkörperung gelangte. Sowohl die Politik, die
sich 1899 von der modernen pazifistischen Bewegung zur
ersten diplomatischen Anregung der Haager Friedenskon-
ferenzen bestimmen ließ, als diejenige, die aus dem Kampf
gegen Napoleon den damaligen Kosmopolitismus zu dem
Völkerbund der Heiligen Allianz ableitete, stellen sich zwei-
fellos zunächst unwillkürlich von der Seite des Doppelspiels,
der bewußten Ausnutzung ideeller Strömungen zu ganz
realpolitischen Zwecken dar. Aber wie man auch über das
historisch noch unzugängliche Ereignis von 1899 denken
möge, die russische Politik der Allianzzeit dürfte nachgerade
eine breitere, vor allem auch sozialgeschichtliche Betrach-
tung zulassen und erfordern.
Neben den Völkern West- und Mitteleuropas, die im
Gefolge der Französischen Revolution große bürgerliche Be-
Die Entstehung von Sturdzas ȧtat actuel de l'Allemagne". 81
wegungeti zur Erneuerung ihrer Rechts- und Staatsverfas-
sungen entwickelten, erschien und erscheint mit einem ge-
wissen Recht die russische Monarchie als eine politische
Größe, deren innere Einheitlichkeit ihr allein schon ein erheb-
liches Übergewicht über jene Mitbewerber sicherte. Indes
dabei wird leicht vergessen, daß gerade auch die Verflech-
tung in die ,, europäischen** Entwicklungen, unorganisch und
unstet wie sie von jeher Rußlands Schicksal gewesen war,
damals wie vor- und nachher die Züge des Revolutionszeit-
alters teils zwar abgeschwächt, teils aber desto gesammelter
und bewußter widerspiegelte. So wenig der Stammbaum
der russischen Aufklärung auf den zwei Augen der Katharina
stand, würde man die Regierung Alexanders I. aus weiter
nichts als seinen Anlagen und westlichen Bildungseinflüssen
verstehen. Beide waren gesteigerte Vertreter eines kultu-
rellen und politischen Typus, der in Rußland vielleicht nur
je schwächer an Zahl desto stärker an Eigenschaften auch
den Absolutismus zum gesellschaftlichen Problem machte.
Sieht man so das Rußland von vor 100 Jahren nicht als
reinen Gegensatz zu, sondern als Grenzfall in der Reihe der
europäischen Staaten, so öffnet sich auf der andern Seite
auch der Blick für sein eigentümliches Verhältnis zu Deutsch-
land innerhalb dieser Reihe. Befreundet und verfeindet zu-
gleich, wie stets der nächste Lehrmeister und Vermittler der
Gesittung, stand Deutschland nicht bloß geographisch, son-
dern geistig zwischen Rußland und dem Westeuropa, das
gerade um die Zeit der ersten russischen Kulturdämmerung
die Führung der europäischen Gesellschaftsentwicklung über-
nommen hatte. Das bedeutete für die deutsch-russischen
Beziehungen des Revolutionszeitalters eine Art von Brüder-
lichkeit, die sich sachlich in manchen Übereinstimmungen
der sozialen und konstitutionellen Machtverhältnisse, per-
sönlich in der engen Gemeinschaft des deutschen und russi-
schen Konservatismus einer- und Liberalismus anderseits
fast bis vor die Tore des Weltkriegs entfaltet und erhalten hat.
Die besondere Prägung dieser großen historischen Linien
während der Jahrzehnte der Napoleonischen Kriege und
der Restauration besteht nun darin, daß diese Zeit auch hier
im Drang der politischen und gesellschaftlichen Verschie-
Historische Zeitschrift (120. BcL) 3. Folge 24. Bd. 6
82 Carl Brinkmann,
bungen die späteren und auch wohl früheren Gegensätze
des europäischen Geistes- und Staatslebens, Klassizismus
und Romantik, Weltbürgertum und Nationalismus in den
verschiedensten Klarheitsgraden miteinander verwirrt, ver-
knotet oder wahrhaft vermählt. Und durch Zusammen-
drängung in Zeit und Persönlichkeiten noch verwickelter ist
der Anteil Rußlands an dieser Epoche. Der rätselhaft
schillernde Charakter Alexanders I. ist lediglich das sicht-
barste Symptom davon, daß seine Zeit die ganze zerspren-
gende Keimfülle aller nachherigen europäischen und russi-
schen Gesinnungen und Strebungen in einem Schoß zu hegen
hatte. Man überlege, daß der junge Kaiser, der wenige Jahre
nach Friedrich Wilhelm III. oder Max Joseph seine revo-
lutionären Mächten auch äußerlich ungleich tiefer verpflich-
tete Regierung antrat, neben den staatlichen Reformauf-
gaben jener deutschen Herrscher auch die noch schwerere
und gefährlichere antrat, die geistigen Besitztümer der
europäischen Aufklärung ernsthafter als das Rokoko seiner
Großmutter seinem Lande einzuverleiben. Wie es sachlich
merkwürdig ist, in dieser alexandrinischen Rezeption Rüst-
zeug, wenn nicht Rohstoff aller russischen Denkerschulen,
der Westler und Volkstümler, Marxisten und Heroisten,
vorgebildet zu finden, so liegt eine ganz persönliche Tragik
in der Art, wie auch der Zar als Treibhausgärtner, als Urheber
z. B. der Übersetzungsflut der Jahrhundertwende^), als
Anbeter dann des französischen Geistes zu Beginn der so
verhängnisvollen Okkupation von 1815 — 1818 mit eigener
Hand die Waffen bereiten hilft, die sich noch zu seinen
Lebzeiten deutlich genug gegen die absolutistische Form
seiner Gaben kehren sollten.
Freilich war gerade dieser Absolutismus noch viel
weniger als der der Aufklärung der bloße theoretische Aus-
druck der hergebrachten Staatsgewalt, sondern zugleich
neben der an England geschulten organischen Staatstheorie
eine zweite, mächtige und selbständige Gegenwirkung des
europäischen Denkens gegen die Spannungen des revolu-
tionären Rationalismus. Nichts ist bezeichnender für die ge-
1) Pypin, Istoriceskija ocerki* 110 f. (Minzes 105 f.).
Die Entstehung von Sturdzas „l^tat actuel de rAllemagne*. 83
schilderte Interessengemeinschaft Deutschlands und Ruß-
lands, als daß sich diese monarchische, religiöse Fassung
des politischen Traditionalismus dort in Franz Baader ihren
ersten bedeutenden Verkünder auf den Grundlagen der
klassischen Philosophie und des Katholizismus, hier in
Alexander I. ihren ersten Anwender auf dem Gebiet des
Selbstherrschertums und der orthodoxen Kirche schuf. Das
seltsame Vexierspiel, daß nun die Russen in Alexanders
Innenpolitik den deutschen Neuerer, die Deutschen in seiner
Außenpolitik den asiatischen Despoten zu sehen glaubten,
war deshalb eine in der Tat naheliegende Täuschung durch
einseitige Anschauung: Das natürliche Übergewicht der
Theorie in Deutschland, der Praxis in Rußland verschleierte,
daß in beiden Ländern nicht ganz ungleich aufgebaute
Gesellschaften um dasselbe geistige und politische Problem
beschäftigt waren.
Erst diese allgemeinen Erwägungen können die Gestalt
des Mannes lebendig machen, der inmitten des alexandri-
nischen, des ewig russischen Gegensatzes fremder oder fremd-
bestimmter Bildungskräfte und einheimischer Trägheits-
massen fast allein ein früher und etwas blasser Vorläufer
des vergeistigten russischen Nationalismus ist: Wie andert-
halb Jahrhunderte früher der große slawische Erwecker
Krizanic aus der ethnischen, kam der ungarisch-walachische
Bojari) Alexander Demetrius Sturdza aus der kirchlichen
Diaspora nach dem russischen Mutterland mit allem sehn-
süchtig leidenschaftlichen Idealismus solcher Abstammung.
Der europäischen Öffentlichkeit wurde er nach Vollendung
seines deutschen Hochschulstudiums zuerst durch ein Buch
bekannt, das, am Mittelpunkt des deutschen Klassizismus
erschienen und in der Form deutlich von ihm beeinflußt,
die Urchristlichkeit, Staatsfreundlichkeit und Duldsamkeit
der griechischen Kirche dem Westen rühmte — die litera-
rische Begleitung von Alexanders I. damaliger Wendung
gegen die Propaganda der Jesuiten in Rußland.^) Weniger
^) Nach der Nouv. biogr. gin. 4^, 529 stammt die Familie von
den als Teilhaber der Fugger bekannten Turzo.
*) Considirations sur la doctrine et l'esprit de VEglise Orthodoxe
(Weimar 1816), besonders S. 183 ff. Zitiert werden von Zeitgenossen
6*
84 Carl Brinkmann,
bekannt war, daß er schon im Vorjahr für den Kaiser die
Urkunde des Völkerbundes entworfen hatte, in dem die
christHchen Monarchen aller Bekenntnisse den religiösen
Absolutismus zum weltpolitischen Gesetz zu erheben ver-
suchten: der Heiligen Allianz.^) Auch bei jener ,, Feindes-
liebe** Alexanders zu Frankreich hatte Sturdzas Mystik im
Verein mit der deutschen mitgewirkt: Die Bekanntschaft
des Kaisers mit Juliane v. Krüdener wurde durch Sturdzas
Schwester Roxandra, die Hofdame der Kaiserin Elisabeth
und Freundin Jung-Stillings, vermittelt.^)
Hier ist jene Verflechtung der russischen und europä-
ischen Idealismen, von der ich sprach, mit Händen zugreifen:
Während ein, zwei Jahrzehnte später Caadaev wesentlich
auch aus der katholischen Romantik Frankreichs die nega-
tive Haltung gegen das eigene Volks- und Kirchentum ab-
leitet und der russischen Intelligenz hinterläßt, ist in der
Allianzzeit auch der religiöse Widerspruch gegen den Westen
und die Revolution weltbürgerlich, nicht schon national
unterschieden. Und ebenso nach innen: Die Hochflut des
russischen Nationalismus 1812 war doch lange nicht stark
genug gewesen, das Gefühl der Einheit zwischen dem pa-
triarchalischen Fortschritt der Regierung und dem auto-
nomen der führenden Gesellschaftsschichten völlig zu zer-
reißen; eben in die Jahre 1813" — 1818, als auch Slurdza mit
pädagogischen Entwürfen beschäftigt erscheint^), fallen
Alexanders 1. Bestrebungen zur Einführung der englischen
und schweizerischen Lehrmethoden von Lancaster-Bell und
nur Herders Ideen (S. 9) und Baaders unten (S. 86) genannte Schrift
(S. 16).
i) Öilder, Aleksandr Pervyj 3, 3, 44. Bei Eylert, Friedrich
Wilhelm III. 2,2,249 bezeichnet Alexander 1. den König nicht, wie
Gagern, Mein Anteil 5, 1,422 f. will, als Verfasser des Textes, sondern
nur als Anreger des Gedankens. Ebenso irrig die Auffassung Alex-
anders als Verfasser bei Metternich, Nachgel. Pap. 1, 215 und Muhlen-
beck, Sainte-AUiance 245. Gegen die Krüdener als Verfasserin : Cape-
figue, La baronne de K. 98, 108.
') S. Sturdzas Biographie seiner Schwester Souvenirs et portraits
{Oeuvres posthumes 3, Paris 1859) 49 f. Vgl. Baur A. D. B. 17, 205.
*) Unten S. 97, Souvenirs et portraits 8 f.
Die Entstehung von Sturdzas „iStat actuel de rAlIemagne". 85
Pestalozzi-Fellenberg im russischen Volk und sogar Heer^),
der erste russische Tugendbund von 1816 aber war noch viel
mehr, als seine deutschen Paten und Vorbilder^) eine bis in
die Kreise der Regierung reichende Organisation zu ihrer
Unterstützung und erst in zweiter Reihe zu ihrer Bekämp-
fung. Die endgültige Trennung der amtlichen Reaktion und
der populären Opposition erfolgte in Rußland wie in Deutsch-
land, und dort eher noch später und zögernder als hier, erst
im Zuge der großen europäischen Ereignisse des dritten
Jahrzehnts: Des ehemaligen Reformators Novosil'cov bru-
tales Vorgehen gegen die polnischen Universitäten, gleich-
sam die Mittelglieder zwischen den gefürchteten deutschen
und den noch sehr harmlosen russischen^), gehört bereits zu
der Atmosphäre der werdenden Dezemberrevolution von
1825. Sturdza selbst ist noch 1835 in seinen ,,Notions sur
la Russie'' für die Aufhebung der Leibeigenschaft eingetreten.*)
Das bisher Gesagte wird genügen, um gegen die land-
läufige, obwohl bereits zeitgenössische Auffassung bedenk-
lich zu machen, als handle es sich bei Sturdzas drittem und
bekanntestem Hervortreten in die politische Literatur, der
Denkschrift für den Aachener Kongreß über den gegen-
wärtigen Zustand Deutschlands, lediglich um die bestellte
Arbeit eines sachunverständigen Angebers. Weder die Zeit
noch der Mann war danach angetan und so einfach zu
nehmen. Um jedoch an die Stelle falscher oder leerer Vor-
stellungen die Anschauung zu setzen, muß die Art und die
äußere Entstehung der Schrift näher beleuchtet werden.
1) Pypin 333 ff. (Minzes 472 ff.) Nur mit diesem Vorbehalt gilt
m. E. das von Schiemann, Alexander I. 4I6f. über Alexanders „neue
Gesinnung" Gesagte.
2) Daß neben der Erinnerung an den Königsberger Tugendbund
auch der lebendige Verkehr mit den deutschen Geheimbünden nach
1815 (vgl. über sie jetzt Ulmann H. Z. 95, 435 ff. und Meinecke,
Quell, u. Darst. z. Gesch. d. Burschensch. 1, 1 ff.) entscheidend war,
macht die Darstellung bei Pypin 371 (Minzes 527), obwohl er diese
Bünde nicht kennt, doch unzweifelhaft.
^) Vgl. meinen Aufsatz über Joachim Lelewel Internationale
Monatsschrift 1918, Sept.
*) Oeuvres posthumes 2 (Paris 1858), 108. S. auch seinen warmen
Nachruf für Stein (vgl. unten S. 90 Anm. 1) Souvenirs et portraits 206 ff.
86 Carl Brinkmann,
So fern davon, die berühmte Anklage der deutschen
Universitäten bloß äußerlich zu verbrämen, stellt ihre ge-
schichtsphilosophische Einleitung erst den zu ihrem Ver-
ständnis unentbehrlichen Rahmen auf. Es ist die keines-
wegs unklare, sondern sehr bestimmt formulierte Stimmung
der Heiligen Allianz, die als Idee der übernationalen politi-
schen Organisation zugleich Antrieb und Berechtigung zur
Kritik fremdvölkischer Einrichtungen gibt. Ein großes
gemeinsames Schicksal, die revolutionäre Erschütterung und
wirtschaftlich-soziale Auflösung, droht den alten Staats-
ordnungen Europas. Es erinnert ganz unmittelbar an die
frühen soziologischen Beobachtungen der deutschen Philo-
sophie, etwa eines Jakob Friedrich Fries (des Wartburg-
redners!) und besonders Franz Baaders^), wenn mit eigen-
artiger Mischung von Naivetät und Scharfblick die Ver-
drängung und Verschiebung der einzelnen, der Klassen und
der Autoritäten von ihren alten Plätzen in der Gesellschaft
(das sei der wahre Grund des falschen Scheins einer Bevöl-
kerungsvermehrung!) als erste Ursache der fein erfühlten
Unruhe Europas bezeichnet wird (S. 24 n., 29 ff.).^) Nur
in christlichen Staatsordnungen liegt die Rettung vor dem
Untergang. Zugespitzt, aber im Grunde wahr und tief, wird
bemerkt, daß nur zwei gläubige Völker wie das spanische
und das russische auch tatsächlich das Joch des Napoleo-
nischen Universaldespotismus brechen konnten (S. 21);
überall betont ja die Lehre des Legitimismus die Beschrän-
kung der Monarchie wie des Völkerbundes durch das gött-
liche Recht. Und von da aus wendet sich nun die Betrach-
tung der besonderen Lage Deutschlands zu. Hier hat die
Revolution die alte Staatsform des Reichs bereits zertrüm-
mert, und die neue „Kollektivautorität" des Bundes droht
1) Vgl. etwa des ersten Bekehret Euch (1814, Neuausg. von
H. Mühlestein, München 1915), des zweiten Über das durch die fran-
zösische Revolution herbeigeführte Bedürfnis einer neuen und inni-
geren Verbindung der Religion mit der Politik (1815, auch im schlechten
Neudruck der Sozietätsphilosophie von 1837, Hellerau 1917).
2) Ich zitiere die französische Veröffentlichung, Paris November
1818. Auf dem Aachener Kongreß war ein Privatdruck in 50 Exem-
plaren umgelaufen. Biogr. Univ. 40, 287.
»
Die Entstehung von Sturdzas „ßtat actuel de TAllemagne*. 87
die Teilstaaten nach innen und außen widerstandsunfähig
zu lassen (S. 24, 30 n.). Damit ist dem europäischen Völker-
bund eine natürliche Schützeraufgabe, aber auch zugleich
ein Vorbild im kleineren Maßstab erwachsen. Denn, heißt
es mit äußerst treffender Empfindung für die Verwandt-
schaft des nationalen und des übernationalen Staaten-
bundes: „Cest sur les auspices de ce systime tutelaire que
VAlkmagne a regu son nouveau pacte jeder al . . . (cette loi
fondamentale) represente en raccourci ce grand pacte politique
qui associe entre eux les divers memhres de la famille euro-
p^enne'' (S. 22). Gewiß lag es dem wachsenden deutschen
Volksbewußtsein hier sehr nahe, wie das Weimarer „Oppo-
sitionsblatt" 3) sich für die aufgedrungene Bevormundung
zu bedanken und dahinter nur die Furcht des Reaktionärs
vor den europäischen Wirkungen einer freien deutschen
Staatsentwicklung zu wittern. Für das historische Urteil
über Sturdzas guten Glauben ist es indes wohl kaum
nötig, darauf zu verweisen, wieviel näher seine Einschätzung
der gesamtdeutschen Staatsform gerade bei beginnender
einzelstaatlicher Reaktion leider den politischen Tatsachen
(und übrigens doch auch der Einschätzung von Deutschlands
eigenen weltbürgerlichen Staatsmännern um 1815) kam.
Auch in den sachlichen Anregungen der Denkschrift,
der deutschen Hochschul- und Preßreform, braucht man das
religiös-politische Glaubensbekenntnis des Verfassers nicht
zu teilen, um ihm wiederum zuzugeben: Bei der unabseh-
lichen Wichtigkeit von Unterricht und Presse für die Volks-
erziehung bildete die ungeheure Steigerung und schon rein
zahlenmäßige Vervielfachung der deutschen literarischen
und Universitätsbildung in dem damaligen politischen
Schwebezustand eine Frage von größtem Ernst, und diese
Frage mußte nach allem oben Berührten, das dennoch
hierbei ganz vergessen zu werden pflegt, in Sturdza nicht
bloß den Europäer, sondern unmittelbar den russischen
1) In dem in seinem Verlage herausgegebenen Examen critique
du mimoire sur Vetat prisent de VAÜemagne (1819) S. 86. Dazu ver-
dient angemerkt zu werden, daß der frühere Leiter des Oppositions-
blattes, der Ausländer F. L. Lindner, seine Stellung wegen eines puoli-
zistischen Streichs gegen Kotzebue (1817) verloren hatte (u.S. 101 n.3).
S8 Carl Brinkmann,
Sozialpädagogen selbst beschäftigen, der ohne besondere
Prophetie die eigene nationale Entwicklung noch auf lange
hinaus auch auf diesem Gebiete durch die Einrichtungen
des vermittelnden Nachbarvolks bestimmt sehen konnte.
Es ist manchmal, als hätte sein geistiges Auge durch die
deutschen Burschenschafter hindurch bereits die revolu-
tionäre russische Studentenschaft des späten 19. Jahrhun-
derts vorausgeschaut. Dieser Interessengemeinschaft ent-
sprechend fehlt es weder seinen Anklagen noch seinen Bes-
serungsvorschlägen neben einem gewissen weltfremden Radi-
kalismus, der indessen ja auch den politisch ganz entgegen-
gesetzten Gedankengängen des Zeitalters durchweg eignet,
an bisweilen überraschendem Scharfblick. Neben der Unter-
drückung des vermeintlichen. Schadens steht ihm auch
pädagogisch stets die positive Aufgabe der Schaffung einer
monarchischen Staatserziehung, für die er unbefangen genug
ist ein Muster in den Demokratien des Altertums, eine
Warnung in der moralischen Laxheit des aufgeklärten
Polizeistaats anzuerkennen (S. 37, 41, 52). Sowohl die
gesellschaftliche wie die wissenschaftliche Verfassung der
deutschen Universitäten, von denen er mit Recht die poli-
tisch bedeutsamste, die periodische Presse (S. 56), völlig
abhängig glaubt, erfahren manche kaum unberechtigte
Kritik.^) Der sozial beherrschende Zug ist im System der
allgemeinen ständischen Gärung der Andrang aller Klassen
zu den Hochschulen: „tout aspire ä äudier en Allemagne"'
(S. 38). Um diese Hochkonjunktur meint Sturdza unter
den Anstalten und ihren Staatsregierungen einen grob
wirtschaftlichen Wettbewerb wahrzunehmen, in dem die
bedenklichen akademischen Freiheiten des Lehrens und
1) Es gibt doch zu denken, daß auch ein Mann wie Gneisenau
(am 8. Jan. 1813 von London Pertz 2, 483) an seine Frau schreibt:
„Möchtest Du ihn (den Sohn August) wchl dieses Vorteils (des Stu-
diums in Genf) entbehren lassen, besonders da die in Geneve herrschende
Reinheit der Sitten für die seinigen daselbst weniger befürchten läßt
als sonst irgendwo, besonders auf unseren deutschen Erziehungs-
anstalten, sowohl Gymnasien als Universitäten." Vgl. auch die Äuße-
rungen des klassischen russischen Aufklärers Admiral Mordvinov gegen
die deutsche Studentenfreiheit bei Bilbassov, Ardiv Mordvinovych 4^
XLVII und 428 "f.
Die Entstehung von Sturdzas »fitat actuel de l'Allemagne". 89
Lernens die Rolle der lockenden Bedingungen zu spielen
neigen (S. 40, 47). Und noch deutlicher ist der richtige
Kern in der Schilderung der Wissenschaftsentwicklung, deren
ungehemmter Individualismus die Theologie zum Ratio-
nalismus, die Medizin (man denke an Schelling, Eschen-
mayer, Windischmann) zur Psychologie, die Jurisprudenz
(fast eine Divination des Allianzgründers!) zur Lehre vom
Recht des Stärkeren mache (S. 42 f.).
Soweit wird der Meinung des Kritikers ein nicht un-
edler und dazu in sich folgerichtiger Idealismus schwer ab-
zusprechen sein. Aber mit der Zweideutigkeit und Un-
fruchtbarkeit der Heiligen Allianz ist auch er behaftet.
Das zeigt auch hier die politische Praxis und Therapie in
fast tragischer Weise. Gerade das Schöpferische der mon-
archischen Staatsphilosophie findet in Sturdzas Programm
keine selbständige Gestaltung und verdorrt in einem Sche-
matismus rein negativer Maßregeln: Beschränkung der Preß-
freiheit durch Bundesgesetz, Aufhebung der akademischen
Privilegien, vor allem der Sondergerichtsbarkeit^), Ein-
führung strenger Fachkurse und Sittenzeugnisse, Trennung
des Studiums von In- und Ausländern (ein frommer Wunsch,
der abermals viel spätere Erscheinungen wie die auslän-
dischen Studienanstalten oder die Studentenüberwachung
der russischen Unterrichtsverwaltung fast verblüffend anti-
zipiert), Unterordnung des Vorschlagsrechts der Fakultäten
unter die Ernennung durch die Regierungsbehörden (S. 58,
44 ff.). Was hier nicht der Rüstkammer des alten Polizei-
staates entstammt, gehört wider Willen einem politischen
Luftkreis an, von dem sich Sturdza im Grundsatz durch
Welten für getrennt hielt: Schon der Weimarer Rezensent
konnte schadenfroh feststellen 2), daß er im Drange des
frommen Reformeifers ahnungslos die Unterrichtspolitik des
Erzfeindes Napoleon übernehme. Die Ähnlichkeit geht in
der Tat bis an die Grenze der unbewußt noch möglichen
^) Gerade diese hatte selbst der Kgl. westfälische Göttinger
Professor C. Viliers in seinem berühmten Coup d'oeil sur les univer^
sitis de VAllemagne protestante (Cassel 1808) S. 63ff. besonders ge-
rechtfertigt.
2) Examen critique S. 41 ff.
^ Carl Brinkmann,
Nachahmung: Das yjnstitut national Germanique'' (diese
„geistige Turnanstalt", wie ein anderer deutscher Beurteiler,
€S ist heute schwer zu sagen, ob unbefangen oder mit dann
sehr boshaftem Witz, sich ausdrückte^)), worin Sturdza das
deutsche Bildungswesen nach sehr unbestimmtem Plan
gleichsam zusammenfassen und sozialisieren wollte (S. 47,
62), ist der unverkennbare Abkomme der Krönung des
Napoleonischen Unterrichtssystems, des Institut de France,
Noch eine andere Schwäche der Denkschrift darf schließ-
lich nicht unerwähnt bleiben. Ich habe bisher absichtlich
das zeitgenössische und das danach ausgerichtete geschicht-
liche Urteil nach der Seite des Günstigen und Bedeutenden
zu ergänzen versucht. Um so schärfer muß hervorgehoben
werden, was anderseits die mitlebenden Gegner, namentlich
die deutschen, zweifellos als das Widerwärtigste an der
Arbeit empfunden haben: Es ist ein kaum faßbares, gleich
einem Geruch auch dem Ausdruck der bezeichneten guten
und klugen Gedanken anhaftendes Element von Verzerrung,
Hinterhältigkeit, Gereiztheit und Persönlichkeit, das mit
der Stellung und Vergangenheit des Verfassers zu verein-
baren, wenigstens nach den hier zusammengestellten Nach-
richten schwer fällt. Daran hauptsächlich knüpft vielleicht
schon der Verdacht der Zeitgenossen, billig jedenfalls der
der Forschung, daß hier eine Spur auf geheimnisvolle fremde
Beeinflussung und Anstiftung des Autors führe. Die neben
Breslau und Göttingen als Veranstalter des Wartburgfest
besonders (S. 27) gebrandmarkten Jenaer Burschenschafter,
die im März 1819 durch Heinrich von Gagern eine Beschwerde
darüber beim Senat einreichten^), werden Sturdza als Freund
1) In der deutschen Übersetzung der Denkschrift (Frankfurt,
Andrea, 1819) S. 49. Der unparteiische Verfasser steht anscheinend
<S. 24, 32) Hans v. Gagern nahe. Vgl. Steins Briefe an diesen
Frankfurt, 18. Dez. 1818 und 2. Jan. 1819 Mein Anteil an der Politik
4, 68 f.: „Man schimpft über Stourza, über die Anmaßung eines
Fremdlings, uns zurechtweisen zu wollen. Da unsere Pamphletisten
aber doch über alle europäische Angelegenheiten entscheiden und
aburteilen, warum soll es Stourza nicht erlaubt sein, ein Wort zu
sprechen." „Allerdings weiß der Fremdling, was er tut, man hätte
ihn daher mit Gründen und nicht mit Spott widerlegen sollen, der
alle Teilnehmer erbittert."
2) Wentzckein Quell, u. Darst. z. Gesch. d. Burschenschaft 1, 168.
il
Die Entstehung von Sturdzas „iStat actuel de rAllemagne*. 91
Kotzebues, der seine Betrachtungen über die Orthodoxe
Kirche noch soeben (1817 bei Brockhaus) deutsch heraus-
gegeben hatte, Schwager des weimarischen Außenministers
Edling und Schwiegersohn Hufelands^) in erster Reihe mit
den seit Maria Paulowna zwischen Weimar und Petersburg
spielenden höfischen Intrigen zusammengebracht haben.
Einen anderen Fingerzeig wagte der Hamburger Deutsche
Beobachter (Nr. 724) vom 9. April 1819, den Gentz darauf-
hin sofort aufgeregt an Metternich übermittelte^), im An-
schluß an den thüringischen Vorfall: ,,Aus Weimar vorn
8. März heißt es: ,Man sagt hier, daß unser Großherzog den
Staatsrat Schweitzer^) in Angelegenheit des russischen
Staatsrats v. Sturdza nach Jena geschickt und durch eine
Vorladung der Burschenschaft durch den Akademischen
Senat einige sehr laute und bestimmte Ausbrüche des Un-
willens gegen des besagten Staatsrats ungünstige Urteile
über die deutschen Universitäten, die er in seiner Denk-
schrift über den gegenwärtigen Zustand Deutschlands aus-
gesprochen hat, zu beschwichtigen und in ihre Schranken
zurückzuführen gewußt habe. Wie verlautet, hat Herr
V. Sturdza selbst über den Ursprung jener Denkschrift
an das großherzogliche Staatsministerium sehr bestimmte
Erklärungen mitgeteilt, daß sie aus Papieren und Memoiren
geflossen, welche ein großer Deutscher Hof einem
zweiten nicht Deutschen beim Kongreß in Aachen
unterlegte, wobei kein Verdacht entstehen konnte, daß
die Verfasser jener Aktenstücke der wahren Lage der Dinge
unkundig seyen'.*'
Fast klingt in dem mit Hardenbergs Vertrautem Benzen-
berg so eng verbundenen hanseatischen Organ*) die Zusam-
1) Wittichen-Salzer, Gentz 3,1,397. Rühl, Staegemann 2,357.
2) Wittichen-Salzer 3, 1, 384. Wenn das Datum 8. April stimmt,
muß ein durch die Zensur oder sonst beschaffter Korrekturbogen
beigelegen haben. Da er den Herausgebern nicht mehr vorlag, gebe
ich die angezogene Stelle aus dem (einzigen nachweisbaren) Exemplar
der Universitätsbibliothek Halle oben voll wieder.
^) Über ihn als Freund der Burschenschaft (nicht „Burschen-
schafter") s. Petersdorff, Motz 2, 162.
*) Heyderhoff, Benzenberg 72 ff.
92 Carl Brinkmann,
menstellung der beiden Nachrichten wie ein absichtlicher
Vergleich des liberalen Weimarischen mit dem deutlich genug
bezeichneten Wiener Hof. Jedenfalls ist auch Preußen
von der um Sturdzas Denkschrift ausgebreiteten Geheimnis-
krämerei nicht unberührt geblieben: Im Augenbhck, da im
Schoß der preußischen Regierung der Streit um die Erfül-
lung des Verfassungsversprechens der Entscheidung nahte
und die Gründung der Bonner Universität die sich messen-
den Parteien auch auf pädagogischem Gebiet in Spannung
hielt^), geriet der preußische Legationsrat Scholl in den
von Sturdza und der russischen Regierung geteilten Ver-
dacht, die erste Veröffentlichung des Mimoire in Paris ver-
anlaßt zu haben. Scholl war der ehemalige Besitzer der
Verlagsfirma, der sog. Librairie grecgue-latine-allemande, die
er zwar 1814 beim Eintritt in den preußischen Dienst ver-
kauft hatte, der er aber noch immer nachweislich nahestand. *>
Nach seiner eigenen, später an Hardenberg gerichteten und
von diesem Nesselrode übergebenen Verteidigung kam er
in Aachen bei einem ungenannten Freund, also außeramt-
lich, in den Besitz des amtlichen Drucks des M^moirCr
schickte es als aeinen eigenen Überzeugungen entsprechend
an einen royalistischen Freund in Paris, von dem es dann
durch Vermittelung von Deputierten dieser Parteirichtung
seinen Weg in die Öffentlichkeit nahm.^) Selbst wenn maa
Scholl seine Unschuld an diesem letzten glaubt, so sieht
man jedenfalls hier noch eine neue Spielart der europäischen
Reaktion in die Sache verflochten. Daß ihr Eingreifen
Sturdza und Rußland so schwer bloßstellte, konnte aber
leicht Hardenberg, dessen sehr kühle Beziehungen zu Scholl
1) Sturdza S. 63 n. setzt eigne Hoffnungen auf die neue Hoch-
schule (dagegen s. unten S. 99); vgl. jetzt allgemein Haake in Forsch.
z. Brand. -Preuß. Gesch. 30, 337 und Platzhoff in Die Rheinprovinz
1815—1915 2, 109 f.
2) Die dem Exemplar der Kgl. Bibliothek in Berlin beigebun-
denen Bücheranzeigen umfassen mehrere Werke von ihm. „Ändert
agent dela police frangaise" nennt ihn Pozzo di Borgo an Lieven
20. Sept. 1817 Corr. avec Nesselrode 2, 211.
3) Geh. St.-A. A. A. II Rep. 4 Polizei Nr. 24 vol. 2: 16. (nicht
wie bei Stern, Gesch. Europas P, 478 Anm.: 10.) Okt. 1820.
Die Entstehung von Sturdzas »6tat actuel de rAllemagne". 93
unbekannt waren, den Argwohn einer Verschwörung zum
Schaden Rußlands eintragen,^)
In alle diese Verhältnisse bringt neues Licht ein
Schriftstück, das sich unter den Akten der damaligen preu-
ßischen Staatsverwaltung an ziemlich verstecktem Ort er-
halten hat. Neben den durch die Missionen versehenen,
eigentlich politischen Beziehungen zwischen Preußen, und
Rußland lief in den Jahren zwischen der Heiligen Allianz
und dem Aachener Kongreß eine sehr wichtige handels-
politische Verhandlung. Die Wiener Verträge vom 5. Mai
1815 zwischen Rußland und Preußen-Österreich hatten dem
neubegründeten Königreich Kongreßpolen als Patengeschenk
das Recht des freien Handels innerhalb der Grenzen des
ungeteilten Polens von 1772 mitgegeben. Dies den drei
Teilungsmächten im Grunde gleich lästige Privileg, das,
Aveniger bekannt, doch zu den typischsten politischen Schöp-
fungen der Kongreß- und Allianzzeit und ihrer internationa-
listischen Denkweise gehört, konnte, wie begreiflich, erst in
äußerst langwierigen und verwickelten Verhandlungen^) zwi-
schen jenen Mächten auch nur einigermaßen in die Wirk-
lichkeit umgesetzt werden. Das Ergebnis dieser Verhand-
lungen auf preußisch-russischer Seite war die wenigstens
vorübergehende Durchbrechung des russischen Schutzzoll-
systems im Handelsvertrag vom 19. Dezember 1818. Ent-
scheidendes Verdienst um den Abschluß gebührt dem preu-
ßischen Sonderbevollmächtigten in Petersburg, Regierungs-
rat Karl Wilhelm Salomon Semler vom Finanzministerium.
Das Wenige, was wir über das Vor- und Nachleben dieses
Beamten wissen, ist doch gerade in dem gegenwärtigen
Zusammenhang überaus bezeichnend. Als Sohn eines Re-
gierungsrats in Halle und Enkel des berühmten Theologen
1) So erklärt sich der gereizte Ton des von Alopeus an Bern-
storff vertraulich mitgeteilten Erlasses von Nesselrode u. S. 95 Anm. 2.
Daß die Ernennung Schölls ins Oberzensurkollegium 1819 Hardenberg
aufgedrungen war, will Dorow, Erlebtes 2, 107 wissen.
2) Vgl. darüber bis zum Erscheinen der von mir vorbereiteten
Publikation der Preußischen Staatsarchive über die Preußische Han-
delspolitik vor dem Zollverein, wenn auch mit Vorsicht, Treitschke,
D.O. 1,660 f. und 3, 474; Bernhardi, Gesch. Rußlands 3, 622 ff.,
Zimmermann, Preuß. Handelspol. 13 ff., 59 tf.
94 Carl Brinkmann,
Johann Salomon Semler 1788 geboren, stand er von Haus
aus in den Überlieferungen der geistigen und politischen
Aufklärung, in deren Nachblüte während der preußischen
Reformzeit er dann, schon seit 1815 an der russischen Ver-
handlung maßgebend beteiligt, früh eine glänzende Lauf-
bahn versprochen haben muß. Unglücklich für ihn fiel
jedoch sein Petersburger Erfolg gerade mit dem Beginn der
Reaktion zusammen. Das erlaubt wenigstens eine Ver-
mutung über sein alsbaldiges Verschwinden aus den Vorder-
gründen des Staatslebens. Schon einige Jahre vor seinem
1838 in Berlin erfolgten Tode nahm er den Abschied als
Geh. Oberfinanzrat, um sich seinem hauptsächlichen Privat-
interesse, der Förderung religiöser und pädagogischer, z. B.
temperenzlerischer Vereine und Bestrebungen ungestörter
zu widmen.^) Man sieht: ein echter Mann seiner Zeit und
höchstens durch das rationalistische Vorzeichen von den
sie beherrschenden ähnlichen Bewegungen der Romantik
abgerückt. Seine Kommissionsberichte 1817 — 1819 an das
Ministerium des Auswärtigen sind neben den gleichfalls bis
jetzt unveröffentlichten Depeschen des Petersburger Ge-
sandten, Generalleutnants v. Schöler, mit dem er bei
sehr verschiedener politischer Gesinnung auf dem besten
Fuß zu stehen wußte, trotz ihres fachlichen Gegenstandes
eine ausgezeichnete allgemeine Quelle für die der näheren
Erforschung noch dringend bedürftigen damaligen Be-
ziehungen zwischen der preußischen und der russischen
Politik. Darunter ist auch der unten (S. 97 ff.) abgedruckte^
seinem Verfasser selbst offenbar als eine Art Wagnis aus
Herzensbedürfnis bewußte Sonderbericht über die Sturdzasche
Denkschrift, der sich wie eine letzte halb verzweifelte Mah-
nung vom Ausland her der drohenden Ebbe der preußischen
Reform in den Weg zu werfen versucht.
Er ist natürlich weit davon entfernt, eine erschöpfende
authentische Darstellung vom Ursprung des Memoire zu
bieten. Muß schon sein einnehmend warmer und offener,
1) Neuer Nekrolog der Deutschen 16,2 (1840), 1132. Als eifri-
gen Sammler der zeitgenössischen philosophischen und staatswissen-
schaftlichen Literatur zeigt ihn der in der Kgl. Bibliothek Berlin be-
wahrte Auktionskatalog seiner Bibliothek (Berlin 1839).
Die Entstehung von Sturdzas »fitat actuel de rAllemagne*. 95
aber unverhüllt Partei nehmender Ton vorsichtig stimmen,
so fallen auch im einzelnen kleine (in meinen Anmerkungen
näher bezeichnete) Ungenauigkeiten in ihm auf. In der
Hauptsache aber kann keine Frage sein, daß er den bisher
weitaus klarsten EinbUck in die Sturdzaepisode überhaupt
gewährt. Namentlich ein Umstand geht, wie ich meine,
daraus mit zwingender Deutlichkeit hervor: Die Unruhe der
öffentlichen Meinung in Deutschland über das plötzliche
Auftreten des exotischen Kritikers war nur zu berechtigt,
denn die letzten Urheber dieses Auftretens saßen nirgend
anders als — im deutschen Volke selbst. Und zwar zunächst
noch zugespitzter: Als unmittelbare Quelle jener gehässigen
Kleinlichkeit, die wie das Flüstern eines Souffleurs durch
Sturdzas idealistische Gedanken klingt, zumal wo von den
deutschen Hochschulen die Rede ist, erscheint wieder, wie
in Preußen 1815 Schmalz, ein deutscher Universitätsprofessor,
der bekannte Anatom Justus Christian Loder, der, schon
früh durch den Glanz von Kotzebues Laufbahn verlockt^),
damals auf dem Gipfel seiner eigenen als Generalarzt des
Feldzugs von 1812 und Mitglied höchster medizinischer und
sogar legislativer Behörden des russischen Reichs angelangt
war. Aber während er durchaus nur selber geschoben, be-
stellter Gutachter und höchstens allgemein der Vertreter der
rückschrittlichen Minderheit innerhalb des deutschrussischen
Beamtentums bleibt, wird nicht minder überzeugend der
leitende Geist der ganzen Aktion aufgewiesen, wo der Schrift-
wechsel Capodistrias mit der Wiener Staatskanzlei und
ihrem auswärtigen Dienst über das Wartburgfest erwähnt
wird: Der indiskrete „Beobachter'* (oben S. 91) war nicht
so schlecht unterrichtet; derselbe Metternich, der nach dem
Ausbruch des Skandals Wert darauf legte, Alexander I. als
Auftraggeber Sturdzas darzustellen 2), hatte zwar nicht in
1) Waitz- Schmidt, Karoline 2, 110; die (auch sonst reichlich
an ihm geübte) Bosheit der Jenaer Romantiker und der offizielle
Lebenslauf A. D. B. 19, 75 ff. ergänzen einander vortrefflich.
*) An Kaiser Franz 1. 27. April 1819 Stern, Gesch. Europas
P, 478. Österreich als Anstifter der Aachner Aktion vermutet übri-
gens schon Ilse, Geschichte der polit. Untersuchungen 1 f. Auch
Nesselrode schreibt in dem Stern P, 478 Anm. erwähnten Erlaß an
% Carl Brinkmann,
Aacfien, doch früher die Mine gelegt, die ihm nun so un-
zeitig und eigenmächtig aufgeflogen war.
Denn wenn es außer dem bekannten Liberalismus Capo-
distrias und der hier einleitend geschilderten ganzen Lage
der damaligen russischen Regierung noch eines Beweises
dafür bedarf, daß Sturdza in Aachen nicht etwa als Teil-
nehmer in eine Verschwörung der gesamten europäischen
Reaktion zur Besiegung des „preußischen Jakobinertums"
eingriff, so zeigt die Korrespondenz Gentzens mit Metter-
nich und Adam Müller schlagend die Zusammenhanglosig-
keit zwischen dem österreichischen Druck auf Berlin, der ja
ebenfalls von zwei in Aachen überreichten Denkschriften
Metternichs ausging, und der parallelen russischen Politik.
Nicht nur Enttäuschung über Alexanders mangelndes Ver-
ständnis wird hier ausgesprochen, sondern im Rückblick
auf die erste geheime Zirkulation von Sturdzas Denkschrift
geradezu bedauert, daß man ihr seinerzeit nicht mehr Auf-
merksamkeit geschenkt habe: „Aber wer konnte damals
voraussehen, daß diese Schrift so wichtig werden würde."*)
Wie so oft ergibt also die Forschung Unordnung und
„Zufall", wo Zeitgenossen Absicht und Plan vorausgesetzt
hatten. Die in Aachen verpaßte, von Rußland mindestens
möglicherweise auch nicht gesuchte Gelegenheit einer Ver-
ständigung mit Österreich über bereits zusammen Erwogenes
verkehrte sich infolge des Bekanntwerdens des Memoire
in ein verlegenes Hin- und Herwälzen der Verantwortung.
Allein daß der Hauptschuldige vor der Öffentlichkeit es nicht
auch in Wirklichkeit war, kann heute nicht mehr bezweifelt
werden. Es gibt doch zu denken, daß Semlers Klage, die
deutschen Sympathien wendeten sich jetzt erst von Ruß-
land ab (u. S. 99), schon in der polemischen Literatur über
Chanikov vom 5./17. März 1819 (nicht 1817), übrigens einem Rund-
erlaß an sämtliche russ. Gesandtschaften zum Schutze Sturdzas: „Les
cours de Vienne et de Berlin avaient elles-memes cru devoir adresser
ä la nötre des Communications au sujet de ces iv^nements (des Wart-
burgfests).*' Geh. St.-A. A. A. 11 Rep. 4 Polizei Nr. 24 vol. 1.
1) An Metternich 8. April, dazu an und von Adam Müller
15. März und 3. April 1819 Wittichen-Salzer 3, 1, 384, 361, 399.
Auch Scholl maß nach seiner oben S. 92 erwähnten Verteidigung
<lem Mimoire auf dem Kongreß gar keine politische Bedeiitung bei.
Die Entstehung von Sturdzas »6tat actuel de TAllemagne". 97
Sturdza fast wörtlich wiederkehrt.^) Gewiß urteilt Treitschke
mehr im Vorübergehen und auf Grund seiner allgemeinen
politischen Ansicht von der Heilsamkeit der verleumdeten
russischen, der Schädlichkeit der gepriesenen österreichischen
Nachbarschaft für Deutschland, wenn er (DG. 2, 486) schreibt:
„Seitdem wähnten die Studenten allesamt, daß die deutsche
Reaktion von Petersburg ausgehe . . . Der Verdacht der
jungen Leute entbehrte jedes Grundes." Und gewiß ist das
auch nicht die volle Wahrheit. Aber es kommt ihr auf alle
Fälle näher als die Rolle, die gerade die Sturdzaepisode in
der fortan wachsenden Entfremdung des deutschen Volkes
vom russischen Staat hat spielen müssen.
Bericht des Regierungsrats Semler an die 2. Sektion des
Ministeriums des Auswärtigen in Berlin.
19. ,^ ^ Geh. Staatsarchiv Berlin A.A. II
St. Petersburg 3j- Januar 1819. p^p g Yiumnd 10 vol. 4
Das Mimoire sur Vitat actuel de VAÜemagne hat in so
vielen Beziehungen die Aufmerksamkeit draußen teils er-
regt, teils vermehrt, daß es Einer Hochlöblichen Section
vielleicht nicht unangenehm sein möchte, auch über den
Eindruck, den es hier gemacht hat. Einiges aus dem Stand-
punkte eines unbefangenen Privatmannes zu vernehmen.
Ohnehin fühle ich mich, da mir die erwähnte Schrift nur
nach Auszügen daraus schon beachtenswert genug schien,
einer von ihrem Verfasser hauptsächlich herrührenden Ge-
neralinstruction für einen Teil des öffentlichen Unterrichts
im Russischen Reiche zu erwähnen (Bericht vom 19ten
vorigen Monats und Jahres) und diese Instruction in einer
Übersetzung unter dem 26ten vorigen Monats und Jahres
nachfolgen zu lassen^), — gegenwärtig, nachdem ich das
Schriftchen ganz gelesen habe, besonders veranlaßt, auf
beide Berichte zurückzukommen, und zwar aus dem Grunde,
weil die von mir eingereichte Übersetzung in diesem Augen-
^) In der Gegenschrift des Leipziger Philosophen W. C. Krug,
Auch eine Darstellung über den Zustand von Deutschland (Leipzig
1819) S. 42.
*) Nicht mehr bei den Akten.
Historische Zeitschrift (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd 7
98 Carl Brinkmann,
blick nach Deutschland geschickt und mit einem kurzen,
aber bedeutenden Vorworte durch die allgemeine Zeitung
bekannt gemacht wird.^) Ich möchte nämlich nicht gerne
dafür angesehen werden, als sei diese Bekanntwerdung durch
mich veranlaßt; nicht etwa, daß ich die ihr zum Grunde
liegende Absicht tadelnswert fände, welche im Gegenteil
ich zu billigen mich gedrungen fühle, sondern weil ich auch
nicht entfernt in den Schein einer Unschicklichkeit gegen
Eine Hochlöbliche Section geraten mag und es nach meinem
Gefühl mindestens eine solche sein würde, einen höhern Orts
einmal vorgelegten Aufsatz nachher ohne Vorwissen auf dem
bemerkten Wege zur allgemeinen Kenntnis zu bringen.
Ein Österreichischer Diplomatiker, der hiesige Geschäfts-
träger Graf Thurn, — ein höchst ausgezeichneter Offizier,
von dem auch die interessanten Mitteilungen über das
Russische Militair und das Armee-Colonisationswesen in der
Österreichischen Militair-Zeitschrift^) herrühren — hat diese
Bekanntwerdung — für sich — veranlaßt. Die Übersetzung
wird in einigen Stellen verbessert erscheinen und wahrschein-
lich auch die besseren Köpfe in Deutschland ungleich mehr,
als das Memoire selbst, darauf zurückzukommen einladen.
Unter dem Russischen Publicum, das mehr als Zeitungen
liest, — und ein solches giebt es hier nicht allein unter den
Gelehrten, besonders den Deutschen und den Beamteten,
son(;iern vorzüglich auch unter dem zahlreichen General-
stabe — , hat Sturdzas Werk, so weit meine und anderer
Beobachtungen reichen, entschieden einen widrigen Effect
gemacht. Die Gesellschaft der Kreise, welche überhaupt
durch Dinge der Art bewegt werden, beschäftigt sich fort-
dauernd mit diesem Gegenstande auf eine hier ganz unge-
wöhnliche Weise, und hin und wieder hat man sich mit
einer Dreistigkeit darüber ausgelassen, welche so zu be-
1) Nr. 30 u. 33 Wittichen 3, 1, 361.
*) Die anonyme „Darstellung der Streitkräfte Rußlands während
der Kriege von 1812 — 1815 und ihrer bisherigen Reduktion" in der
Osterreichischen Militairischen Zeitschrift 4 (1818), 208 — 231 behan-
delt die Militärkolonien kurz S. 224 f. Stern, Gesch. Europas 3,21
n. 1 erwähnt eine Denkschrift des Grafen Heinrich Bombelles (s. u.
S. 100 n. 2) darüber. Vgl. auch Schiemann, Alexander I. 450 ff.
Die Entstehung von Sturdzas „ttat actuel de rAIleraagne". 99
merken auch diejenigen bisher kaum Gelegenheit gehabt
haben wollen, die ungleich mehr als ich in der Gesellschaft
sich befinden. Geborne Russen haben unverholen ihr Be-
dauern geäußert, daß des Kaisers Majestät, dem dieses
Erzeugnis doch gewiß vorher mehr als bekannt gewesen sei,
sich unfehlbar um einen großen Teil der Liebe und des Ver-
trauens des deutschen Volkes bringe und dessen Blicke
nun vollends von Rußland abwende, und es ist Tatsache,
daß, als die dortige Vossische Zeitung der Sturdzaschen
Schrift ausführlich und, wie man bemerken wollte, billigend
erwähnte^), ich mit Fragen gleichsam bestürmt wurde, ob
es denn wohl möglich sei, daß die Ideen des Herrn v. Stourdza
Eingang in Berlin gewinnen könnten. Bei dieser und so
mancher andern Gelegenheit, ich darf wohl sagen, bei der
neuesten pohtischen Emancipation von Frankreich ist mir
das Vertrauen gar erhebend gewesen, womit hier so viele
Männer von Gediegenheit — ich will nur einen nennen,
aber er zählt für viele, den General-Lieutenant Klinger^) —
auf Preußens Regierung schauen und fest daran glauben,
daß sie die freisinnigen Ideen ernsthaft pflegen und besonnen
darzustellen bemüht [sein], überall aber an Deutschland nie
und unter keinen Umständen verzweifeln werde. Als ob der
Gedanke eines gemeinschaftlichen Gesamtvaterlandes erst
außerhalb desselben Stärke bekäme, habe ich keinen Deut-
schen in der Gesellschaft hier getroffen, der sich wie so viele
wahrheitliebende Eingeborne (die einem Karamsin den Beruf
eines Historikers des Russischen Volks nicht zugestehen) 3)
nicht mit Innigkeit gefreut hätte, als die Zeitungen so volle
Bürgschaft in der Stiftung und Ankündigung der neuen
Hochschule am Rhein trostreich verkündeten. — Russische
Beamtete, die in hohen Ämtern stehen, z. B. ein Wirklicher
1) Die Anzeige der Vossischen Zeitung Stück 153 f. vom 22.
und 24. Dezember 1818 ist fast ausschließlich Referat und wendet
sich nur anfangs gegen die Nationalzeitung der Deutschen, die Sturdzas
Urteil über Deutschland im vorhinein die Zuständigkeit bestritten
hatte. Vgl. Steins Urteil oben S. 90 Anm. 1.
2) Der Dichter Friedrich Maximilian KUnger, schon, seit 1780
am russischen Hof.
•) S. z. B. Turgenev, La Russie I, 462 ff.
7*
ICO Carl Brinkmann,
Etatsrat v. Turgeneff^), einer der ersten im Ministerium des
öffentlichen Unterrichts, haben laut und unzweideutig ihre
Mißbilligung über die Darstellung des Herrn v. Stourdza
zu erkennen gegeben. —
Wie wehe es aber auch tut, so erfordert eine treue Er-
zählung, bei diesem Anlasse eines deutschen Gelehrten zu
erwähnen, der auf Stourdzas Ansichten bedeutend gewirkt
und schon im Winter vorigen Jahres, durch den Minister
Fürsten Gallizin aufgefordert, eine Darstellung des deut-
schen Universitätswesens berichtlich geliefert hat; eines
deutschen Gelehrten, der selbst viele Jahre hindurch deut-
scher Lehrer in Jena und Halle gewesen und bei dem nach
seinen frühern Verhältnissen eine genaue Kenntnis des
deutschen Universitätswesens vorausgesetzt werden konnte;
es ist dies der Wirkliche Etatsrat v. Loder zu Moskau. Als
nämlich im Winter 1817 von Wien aus offizielle Darstel-
lungen der Vorgänge auf der Wartburg zu Moskau einliefen;
als diese Darstellungen der gewandten Feder des Grafen
Capodistrias zu Antworten Veranlassung gaben, die Graf
Mombelles^) so gut als den Inhalt jener Darstellungen ver-
antworten mag, richtete sich die Aufmerksamkeit hier
schärfer auf die deutschen Universitäten, und der Minister^)
Fürst Gallizin trug Herrn v. Loder, bei dem man Kenntnis
der Sache überhaupt, des Weimarschen Landes und vieler
dortigen Beamteten insbesondere voraussetzte, auf, seine
Äußerungen über die Vorgänge mit einem Urteile über den
Unterricht auf Universitäten überhaupt und ihre Verfas-
sungen abzugeben. Die große Eitelkeit des Herrn v. Loder
fand sich dadurch nicht wenig geschmeichelt, und er über-
gab jene Darstellung, über deren unwürdigen Inhalt ich aus
*) Der große Politiker Nikolaj Ivanovic Turgenev (s. vor. Anm.);
vgl. Stern, Gesch. Europas 3, 25, Schiemann, Alexander I. 475 ff.
*) Zweifellos phonetische Verschreibung für Bombelies, entweder
Graf Heinrich, Thurns Legationssekretär in Petersburg, Wittichen-
Salzer 3, 2, 282 n. 1 und oben S. 98 n. 2, oder wahrscheinlicher
Graf Ludwig, 1817 — 20 österreichischer Gesandter in Dresden (und
damit an den thüringischen Höfen), Wittichen-Salzer 3, 1, 37 n. 2,
auch Mitglied der Christlich-deutschen Tischgesellschaft 1811 Steig,
Kleists Beriiner Kämpfe 622, 65a
^) Der Unterrichtsminister. Vgl. über ihn Schiemann 415 f.
Die Entstehung von Sturdzas „Etat actuel de rAUcmagne*. 101
den besten Quellen unterrichtet worden bin. Herr v. Stourdza,
im frühen Alter dem frischen Leben schon halb entfremdet,
ist dadurch sehr influenzirt worden, so wie sein tief religiöses
Gemüt ihn früher schon drängte, die Sache des Glaubens
und besonders der griechischen Kirche, gewiß glücklicher,
obgleich nicht minder einseitig, zur Sprache zu bringen.*) —
Von der Aufmerksamkeit übrigens, welche von Seiten
der hiesigen Regierung der Flut von Tagesschriften und
Zeitungen, welche Deutschland erzeugt, gewidmet wird,
erlaube ich mir zum Schlüsse etwas beizubringen. Es sind
bei der besondern Canzlei des Polizeiministerii (so heißt die
Behörde, welche das, was von der geheimen Polizei noch
übrig geblieben, verwaltet und wie das gesamte Polizei-
ministerium nächstens eine totale Umgestaltung erfahren
wird2), mehrere Beamtete, und darunter einige von aus-
gezeichnetem Kopfe, besonders dafür angestellt, alle diese
Schriften zu lesen und nach gewissen Regeln zu excerpiren,
aus welchen Excerpten hiernächst an die Person des Re-
genten Zusammenstellungen gemacht werden. 3) Ich habe
mehrere Monate hindurch Bücher und Tagesschriften aus
dieser Quelle zu erhalten gewußt und aus den darin zum
Excerpiren angestrichenen Stellen oft selbst beurteilen
können, wie mißlich und wie ganz irreleitend diese Art der
Beobachtung des öffentlichen Lebens in einem so viel schrei-
benden Lande als Deutschland werden kann und wie oft
sie dies beinah notwendig werden muß. Diese Einrichtung
und ähnliche Arbeiten, welche das Russische Ministerium
von seinen diplomatischen und Civilbeamteten draußen
machen läßt, müssen erklären, wie ganz falsch oft die An-
sichten der obersten Personen über die Stimmung und Vor-
gänge in Deutschland und den einzelnen deutschen Staaten
sein müssen, und schon aus diesem einzigen Grunde bin ich
geneigt, die Idee, eine Preußische Staatszeitung dorten
1) Vgl. oben S. 83.
*) Vgl. über diese Reform Schiemann, Alexander I. 362 ff.
') Vgl. über die Entdeckung eines solchen „Bulletins" Kotze*
bues durch F. L. Lindner und Luden Dezember 1817 H. Ehrentreich
in Quell, u. Darst. z. Gesch. d. Burschenschaft 4, 89 f. und E. Fehre,
Balt. Monatsschr. 42, 549 ff.
102 C Brinkmann, Entstehung von Sturdzas „ßtat a. de TAUA
erscheinen zu lassen^), für eine der glücklichsten und ihre
consequente Ausführung ganz geeignet zu halten, den gerade
bei nicht selbst lesenden Personen recht möglichen schäd-
lichen Effect haltungsloser Darstellungen, Auszüge und
Bulletins, so weit sie Preußen berühren, bedeutend zu
schwächen.
Eine Hochlöbliche Section bitte ich ganz gehorsamst,
diese anspruchslosen Bemerkungen mit nachsichtsvoller Güte
aufzunehmen.
1) Vgl. über sie Rühl, Staegemann 3, XV ff.
Literaturberidit
! Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Vernunft in der Geschichte.
Einleitung in die Philosophie der Weltgeschichte. Auf
Grund des aufbehaltenen handschriftlichen Materials neu
herausgegeben von Georg Lassen, Pastor an St. Bartholo-
mäus, Berlin. Leipzig, Felix Meiner. 1917. (Philos. Bibl.
171a.) Xu. 264 S. 5,50 M., geb. 7 M.
Die Einleitung in die Philosophie der Geschichte ist vielleicht
die geeignetste Einführung in Hegels Philosophie überhaupt,
wenigstens für den, dem es mehr auf Hegels Weltanschauung,
Grundwertungen, Denkart als auf den systematischen Zusammen-
hang, die Methode, die logischen Theorien ankommt. Sie ist
bekanntlich nicht von Hegel selbst, sondern zuerst von Eduard
Gans, dann mit Hilfe reicheren Materials vermehrt von Karl
Hegel herausgegeben worden. Für die Einleitung lag außer den
Kollegheften eine Ausarbeitung des Philosophen zugrunde. Aber
diese ist von den Herausgebern recht willkürlich behandelt
worden, und ihr Text macht nirgends kenntlich, wo die Hand-
schrift aus den Kollegheften ergänzt und unterbrochen wird.
Es kam Gans und Hegel dem Sohne eben darauf an, ein lesbares
Buch zusammenzustellen, und diese für die erste Ausgabe be-
rechtigte Absicht mag ihre Willkür entschuldigen. Dem neuen
Herausgeber aber lag es ob, das ursprüngliche Wort überall herzu-
stellen, außerdem standen ihm Kolleghefte zur Verfügung, die
seine Vorgänger nicht benutzen konnten. Auch den Kolleg-Nach-
schriften gegenüber wahrte er im Gegensatze zu jenen den Grund-
satz vollständiger Wiedergabe. Hegels Handschrift ist durch
größeren Druck hervorgehoben, kann also vom Leser ausgesondert
werden. Wenn es vielleicht vorzuziehen gewesen wäre, sie für
«ich im Zusammenhange abzudrucken und dann das Kolleg-
104 Literaturbericht.
heft folgen zu lassen, so hielt den Herausgeber wohl die begreif,
liehe Scheu vor Wiederholungen davon ab. Jedenfalls besitzen
wir nun einen treuen und inhaltlich vollständigen Abdruck
dieses vielleicht wichtigsten Versuches einer Geschichtsphilosophie.
Wievieles dadurch neu gewonnen ist, kann man z. B. erkennen,
wenn man die Ausführungen über den Volksgeist S. 36f. 42f. 93.
105 mit den entsprechenden Stellen der 2. Auflage, S. 62 und
64 — 66, vergleicht. So schulden wir Georg Lasson für seine
hingebende treue Arbeit unsern Dank und bedauern mit ihm,
daß er nur spärliche Mußestunden ihr widmen kann. Es ist ein
schwere Anklage gegen die Verantwortlichen, wenn Lasson (VIII)
sagen muß*: „Es gibt im Preußischen Staat anscheinend keinen
Weg, um Arbeiten zu fördern, wie sie der Herausgeber im Dienste
der Wissenschaft leistet."
Freiburg i. Br. Jonas Cohn.
(1) „Durch Armenien eine Wanderung und** (2) „Der Zug Xeno-
phons bis zum Schwarzen Meere, eine militär-geographische
Studie«. Von E. v. Hoffmeister, Generalleutnant z. D. Mit
5 Vollbildern, 96 Abbildungen meist nach Originalaufnah-
men des Verfassers, 2 Kartenskizzen Im Text sowie 2 Kar-
tenbeilagen. Leipzig und Berlin, B. G. Teubner. I91I.
Das äußerst anziehend und frisch geschriebene Buch des
bekannten Verfassers zerfällt in zwei getrennte Teile. Die
lebensvollen Reiseschilderungen des ersten (S. 1-— 168) sind mit
wohlgelungenen, trotz kleinen Maßstabes sehr deutlichen Illu-
strationen (meist Landschaften und Typen) versehen. Da die
bereisten Gebiete während des gegenwärtigen Krieges ein be-
sonderes Interesse beanspruchen, so wird sich diese durch ver-
schiedene widrige Umstände verspätete Besprechung vielleicht
auch jetzt noch rechtfertigen lassen. Von besonderem Werte
sind einerseits die Abschnitte, in denen der Militärschriftsteller
speziell zu Worte kommt, anderseits die Schilderung von Gegen-
den, die von den letzten Reisenden, die umfangreiche Berichte
über Armenien veröffentlicht hatten, — Lynch und dem Refe-
renten — nicht berührt worden waren.
Dem kundigen Militärschriftsteller folgen wir bei der Schi^
derung der Operationen und Kämpfe bei Kars im Russisch^
Türkischen Kriege. Sie gipfelten in der Schlacht am Aladja-
Alte Geschichte. 105
Dagh, wo trotz heldenmütiger Verteidigung Muchtar Pascha von
den Russen vernichtend geschlagen wurde. (Abschn. IV, S. 41
bis 59.) Neuerdings nicht Geschildertes bringen besonders die
Strecken (Baiburt^Gümüschchaneh — Djivizlik (S. 134 — 144)
und das Höhlenkloste rSumela. Dieses erinnert in seiner Anlage
an das auf russischem Gebiete belegene georgische Höhlenkloster
Wardzie, das zuletzt genau von Lynch geschildert worden ist
(vgl. Ref., Armenien einst und jetzt, Bd. 1, 1910, S. 89 ff.). Der
Abschnitt V, „Die Ruinenstadt Ani", bildet eine erfreuliche
Ergänzung zu der eingehenden Behandlung dieser geschichtlich
und kunsthistorisch so bedeutsamen Stätte bei Lynch.
Was den Weg Xenophons angeht, so „darf sich der Ver-
fasser zu denjenigen Forschern rechnen, die dem Zug der Zehn-
tausend am weitesten gefolgt sind". Es fehlen „ihm aus eigener
Anschauung nur die Anfangsstrecken des Vormarsches und von
dem Rückzuge das Stück von Mosul bis zur Ebene von Pasin".
Denn auf seiner ersten Reise Kairo — Bagdad — Konstantinopel
war er, nachdem er den Euphrat von Damaskus her erreicht^
den Spuren Xenophons auf dem jenseitigen Ufer über 600 km
weit gefolgt, hatte oberhalb der Stätte von Kunaxa den Strom
überschritten und war dem Zuge der Zehntausend bis Mosul
(Ninive-Mespila) gefolgt. Die im vorliegenden Buche beschrie-
bene Reise galt der Erforschung des Stückes von der Pasin-
ebene bis zum Meere. Gerade das dem Verfasser persönlich un-
bekannt gebliebene Gebiet aber ist vom Referenten und seinem
Reisegefährten auf der deutschen Expedition nach Armenien
zum großen Teile bereist worden, so daß überhaupt nur das
Stück von der Abbiegung vom Tigris oberhalb Djezireh bis zur
Durchgangsstelle durch den Kentrites, d. h. der Marsch durch
das Rarducheniand , in neuerer Zeit nicht speziell verfolgt
worden ist.
Die Darstellung, der eine Einleitung über die Veranlassung
und die Gesamtumstände des Kyros-Zuges vorausgeht, zerfällt
in drei Abschnitte, l. Der Aufmarsch von Sardes bis Issos.
II. Der Vormarsch von Issos nach Babylonien bis zur Schlacht
bei Kunaxa. III. Der Rückzug aus Babylonien und zwar bis
a) zu den kurdischen Bergen, b) in die Ebene Pasin, c) zum
Schwarzen Meere. Nur zu dem den Referenten aus obigem
Grunde besonders angehenden Abschnitt III mögen einige Be»
1D6 Literaturbericht.
merkungen folgen. Die Namen Larissa und Mespila für Kalach
(heute Nimrud) und Ninive stammen, wie Referent gezeigt hat,
aus dem Aramäischen; sie bezeichnen die beiden Ruinenstätten
als die oben (lä-resä), gelegene und die untere (meSpilä), was
freilich nicht, wie Referent früher versehentlich geäußert hatte,
der wechselseitigen Lage am oder zum Tigris entspricht. Eher
wird in Betracht kommen, daß für die Ruinen von Kalach der
große auch von Xenophon (Anab, 111,4, 9 als eine Stein-
pyramide) beschriebene Turm charakteristisch ist (Referent,
Armenien einst und jetzt Bd. 2, S. 251 Abbildung), während
Niniveh aus zwei durch den Chausser getrennten Teilen be-
steht, von denen der südlichere Nebi Jünus erheblich höher
Hegt als der umfangreichere nördlichere Kojundjyk (Armenien
Bd. 2, S. 230/1 Abb.), welch letzterer daher mit einem auch im
Assyrischen nachweisbaren Worte muspalu als die „untere Stadt*'
bezeichnet werden konnte. Diese Ausdrücke hörten und miß-
verstanden die Griechen von ihren Führern, — das Aramäische
war bekanntlich damals im persischen Reiche die gangbare Ver-
kehrssprache. Zu archäologischen Forschungen blieb den Griechen
Iceine Zeit. Immerhin bleibt es „wunderbar", daß der Name
Ninive, der „doch einer ganzen Welt bekannt" war, schon da-
mals, zwei Jahrhunderte nach der Zerstörung, so ganz verschol-
len war.
Die Stelle des Durchgangs durch den Kentrites hat sich
an der Hand von Xenophons Schilderungen an Ort und Stelle
genau bestimmen lassen, wie ausführlich vom Referenten, „Ar-
menien einst und jetzt" Bd. 1, Kap. 11, dargelegt. Sie liegt
etwas oberhalb von Till, wo sie schon Shiel und Karbe ge-
sucht hatten, genauer beim Dorfe Mutyt, alle Einzelheiten von
Xenophons Schilderungen beider Ufer finden sich dort wieder.
Hoffmeister nennt das genannte Buch des Referenten auch unter
seinen Quellen. Gleichwohl verfällt er in den Fehler, die Zehn-
tausend den Kentrites zu weit oberhalb überschreiten und dann
von Söört nach Bitlis gelangen zu lassen. Dabei wären sie aber
durch gebirgiges Gelände gekommen, während Xenophon aus-
drücklich nur von flachem Lande und sanften Anhöhen spricht,
und ferner ist die Vorstellung, daß die Strecke Söört— Bitlis eine
für Heeresmassen passierbare Straße darstelle, zwar weit ver-
breitet, aber darum nicht minder irrtümlich.
Alte Geschichte. 107
Der Verfasser wendet sich (S. 237) gegen die vormals herr-
schende Vorstellung, als habe Xenophon vom Teleboas (Kara-su)
aus nach Überschreitung des Euphrat (== Muradsu) und über
drei Pässe (darunter den fast unübersteiglichen über den Bingöl-
dagh) die Richtung gerade auf Hassankalah in der Ebene von
Pasin genommen. Er glaubt vielmehr, daß die Griechen aus
der Gegend von Musch am Euphrat aufwärts ,,und seinen Quellen
zu" eine nordöstliche Richtung einschlugen, bei Karakilissa die
uralte Straße gewannen, die aus dem Tale des östlichen Euphrat,
des Murad-su, nach dem des Araxes führt und auf dieser in die
Ebene Pasin gelangten. Damit trifft nun v. H., was ihm ent-
gangen ist, in allem Wesentlichen mit den Ermittlungen meines
Reisegefährten (Zeitschr. f. Ethnologie 31 [1899], S. 257 f.; Verh.
Berl. Anthrop. Ges. 1899, S. 661 ff.) überein. Also liegen zwei
voneinander unabhängige Urteile über diesen wichtigen Punkt
vor, und die Aufstellungen, zu denen Belck während unserer
Expedition gelangt war, sind bestätigt. Als Kuriosum sei er-
wähnt, daß Boucher, U Anabase de Xenophon 1913, gleich-
falls eine westliche Ausbiegung in Betracht zieht, aber dabei
viel zu weit ausgreift, indem er die Zehntausend von den Quellen
des Murad-su bei Karakilissa in südöstlicher Richtung rückwärts
ziehen und den Riesenumweg über die persisch-türkischen Grenz-
gebirge nach Chol, dann über den Araxes nach Djulfa, von da
über Eriwan und Dilidjan nach Kars machen und weiter nach
Hassankalah gelangen läßt. Dadurch hätten sich die Griechen
in einem ganz unzulässigen und zielwidrigen Maße von der für
ihren Rückzug gebotenen Hauptrichtung entfernt.
Aus der Gegend von Karakilissa gelangten die Griechen in
zehn Tagemärschen an den Phasisfluß, der ein Plethron breit
war. Xenophon versteht unter Phasis, wie der Verfasser gleich
Anderen sicher mit Recht annimmt, nicht den Rhion, sondern
den Araxes, den die Griechen von Karakilissa her bei Köpri-köi
erreichten, der strategisch wichtigen Kreuzung der Straßen, die
das obere Tal des Murad-su mit dem des Araxes verbinden, und
weiter derer, die über Sarykamysch nach Kars und über Olty
ins obere Djoroktal führen. Bei Köpri-köi hat auch einer der
ersten Kämpfe zwischen Russen und Türken im gegenwärtigen
Kriege stattgefunden.
108 Literaturbericht
Von Kars herkommend, traf hier der Verfasser auf den
von ihm für richtig gehaltenen Weg der Griechen. Die im ersten
Teil des Buches geschilderte Reise ermöglichte es ihm, Schritt
für Schritt mit ihnen bis zum Schwarzen Meer weiter zu wan-
dern und seine Leser daran teilnehmen zu lassen.
Für die früher herrschende Ansicht über diesen letzten
Teil des Rückmarsches war der Gedanke maßgebend, daß die
Griechen von Süden her über den Bingöl-dagh nach Hassankalah
gelangten und nun in nördlicher Hauptrichtung weiterzogen.
„Um die Anzahl der Marschtage, die Entfernungen und die
mutmaßlichen Wohnsitze der namhaft gemachten Völkerschaften
einigermaßen zusammenzubringen", ergab sich dann der Umweg
Hassankalah — Oltital — ^Ardahan (an der oberen Kura), von da
in schwierigstem Gebirgsgelände westwärts nach dem Harpasos
(Djoroksu) und nun, „an diesem nördlich entlang zum nahen
Meere, wiederum südwestlich fast 200 km weit nach Gymnias
(Baiburt)" und weiter auf Saumpfaden nach Trapezunt. Daß
ein solcher Zickzackkurs ausgeschlossen sei, daß vielmehr die
Griechen, nachdem sie die durch die Geländeverhältnisse ge-
botene nordöstliche Abweichung biS zu den Quellen des Muradsu
überwunden hatten, nunmehr bestrebt sein mußten, die nord-
westliche Hauptrichtung festzuhalten, liegt auf der Hand (vgl.
Zeitschr. /. Ethnologie a. a. 0.). So ist auch der Verfasser der
Überzeugung, daß die Griechen eine viel einfachereund kürzere
Route genommen haben: Köpriköi — Hassankalah, dann „über
die Ebene von Erzerum nordwärts nach dem Tale des Har^
pasos (Chorok-su), dieses aufwärts bis Gymnias (Baiburt)**
und von dort in fruchtbaren, meist breiten Tälern über den
Ziganapaß im Techesgebirge (Thalatta, Thalatta!) nach Tra-
pezüs. Er weist die Übereinstimmung mit Xenophons Schilde-
rungen treffend nach: seine Darlegungen bestätigen aufs neue^
daß die Entscheidung zwischen mehreren, theoretisch anschei-
nend möglichen Routen nur im Gelände an der Hand des Autors^
dessen Weg man bestimmen will, erfolgen kann. So wählt v. H,
unter den drei Verbindungen zwischen Erzerum und Baiburt — -
1. der Karawanenstraße über den Kop-dagh (die seinerzeit wi^
später der Verfasser, so auch Referent — in umgekehrter Rich-
tung — zurückgelegt hat), 2. der über den „Jehen" (Referent
hörte Jedjan) -dagh und 3. der über Ispir — die letztere, die
Mittelalter. 109
zwar länger ist, aber über einen wesentlich niedrigeren Paß mit
günstigeren Schneeverhältnissen führt.
In diesem letzten Hauptabschnitt trifft nun auch Boucher
in der Hauptsache mit v. H. zusammen: auch für Boucher sind
die Hauptstationen: Erzerum, Baiburt und ein Paß über das
Ziganagebirge. Wenn auch in Einzelheiten, z. B. betreffs der
Strecke Baiburt — Erzerum, Abweichungen bestehen, so kann
somit auch dieser letzte Teil von Xenophons Route als neuer-
lich von mehreren Forschern in wesentlicher Übereinstimmung
festgelegt gelten.
Dem Verfasser gebührt wie für seine anziehenden und lehr-
reichen Reiseschilderungen, so für seine erfolgreichen Bemühungen
um die Aufhellung der historisch-geographischen Probleme, die
der Rückzug der Griechen durch das armenische Bergland bis
zum Schwarzen Meere bietet, allseitiger lebhafter Dank.
Innsbruck. C. F. Lehmann- Haupt
Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit, vornehmlich in
Deutschland. Von Alfons Dopsdi. 2. Teil. Weimar, Her-
mann Böhlaus Nach!. 1913. VIII u. 364 S.
Der 2. Band, mit dem Dopsch noch vor dem Kriege sein
Buch abgeschlossen hat, bringt gegenüber den überwiegend
kritischen Auseinandersetzungen des ein Jahr früher erschienenen
1. Teiles (vgl. Herzberg-Fränkel : H. Z. 112 [1914], 159 ff.), wie
sie auch hier durchaus nicht fehlen, wesentlicher aufbauende
Arbeit. Ist die Anschauung von der alles beherrschenden
Bedeutung der Großgrundherrschaften als unzutreffend erwie-
sen, wie das offenbar der Fall ist, und dürfen mithin die
Sozial- und Verkehrsgeschichte neben der Agrargeschichte eine
selbständigere Stellung beanspruchen, als man ihnen bisher
einräumte, so entwiift D_. nun in den sieben großen Abschnitten
(§§8—14) über „die soziale Entwicklung", „die Grundherrlich-
keit (Immunität und Vogtei)", „das Gewerbe", „Handel und
Verkehr", „die Geldwirtschaft", „das Münzwesen" und „die
Regalien" ein von dem üblichen stark abweichendes Bild des
ständischen und wirtschaftlichen Lebens der Karolingerzeit und
ihrer staatlichen Entwicklung, soweit diese bedingt oder bedin-
gend unmittelbar mit den hier berührten Erscheinungen ver-
knüpft ist.
1 10 Literaturbericht.
Sind die Ausführungen über die soziale Entwicklung (§ 8)
noch überwiegend eine kritische Auseinandersetzung nicht nur
wie das ganze Buch, mit von Inama-Sternegg, sondern auch
namentlich mit Hecks entschieden abgelehnten Ständetheorien,
so tritt im folgenden das Positive immer mehrinden Vordergrund.
Am wenigsten auf eigener Forschung fußt wohl der übrigens-
inhaltreiche Abschnitt über Handel und Verkehr (§11); hier
wird auch statt auf die ursprünglichen Quellenbelege oft auf
mehr oder weniger zusammenfassende Darstellungen, darunter
einen zwar anregenden, aber im einzelnen nicht unbedingt zu-
verlässigen Aufsatz von A. Bugge, verwiesen. Die §§ 12 und 13
über die Geldwirtschaft und das Münzwesen suchen, so vieles We-
sentliche auch gerade hier unsicher bleiben muß, feste Richt-
wege durch das schier undurchdringliche Gestrüpp der Hypo-
thesen und Konstruktionen auf dem Gebiete der merowingisch-
karolingischen Geld- und Münzgeschichte zu hauen. Die Aus-
führungen über den älteren leichten und den jüngeren, vielleicht
schon seit Anfang des 7. Jahrhunderts vorhandenen schwereren
Denar, von denen D. den ersten mit dem viel umstrittenen Denar
der Lex Salica in Beziehung setzt, dürfen bei den Erörterungen
über die Lex Salica ernste Beachtung beanspruchen. Gegenwärtig
besonders interessant sind die Versuche staatlicherseits, durch
Festsetzung von Höchstpreisen u. dgl. die Konsumenten vor einer
monopolistischen Preistreiberei des nach D. schon damals vorhan-
und nicht, wie Sombart will, erst am Ausgang des Mittelalters
denenen tstandenen Kapitalismus zu schützen. Knapp, aber ein-
drucksvoll ist der letzte, Abschnitt über die Regalien, aus dem
besonders der Nachweis regelmäßiger direkter Staatssteuern
hervorgehoben sei. Er beleuchtet die ganze Wirtschaftspolitik
der Karolinger neu: „Sie teilten in immer reicherem Maße von
ihren Krongütern Schenkungen aus, . . . waren aber dem-
gegenüber noch auffallend sparsam in der Erteilung von Re-
gaüen." „Die herrschende Lehre, als ob Karl der Große den
Schwerpunkt seiner Finanzwirtschaft auf die Domänen ver-
legt habe, ist unhaltbar. Ganz im Gegenteile mußten diese zahl-
reichen Regalien jetzt schon viel reichere Einnahmen ergeben, als
die in schlechtem Zustande befindlichen und wenig verläßlichen
Krongutsverwaltungen."
Mittelalter. 111
„Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit", so schließt
D., „baute auf anderen Grundlagen auf, als die Forschung
bisher angenommen hatte." „Die Vorstellung, als ob Träger
dieser Wirtschaft zunächst noch eine große Masse gleichberech-
tigter und gleichbegüterter Vollfreier gewesen sei, . . . muß als
kulturhistorischer Anachronismus bezeichnet werden." Durch
Jahrhunderte waren bereits neue Fermente wirtschaftlicher
und geistiger Entwicklung am Werke, jene Einheiten der Urzeit
und deren Gleichheit umzuschaffen. Kleines freies Grund-
eigentum war zwar ohne Zweifel nach wie vor nicht wenig vor-
handen, aber „sicherlich hat die Karolingerzeit die Weiterbil-
dung der großen Grundherrschaften ebenso gefördert wie die
Merowingerzeit zuvor". „Die Bedeutung der längst vorhandenen
Grundherrschaften" möchte D. freilich „nicht in einer groß-
zügigen und planmäßigen wirtschaftlichen Aktivität erblicken. . .,
sondern eher glauben, daß deren reicher Bestand es immer zahl-
reicheren Bevölkerungselementen außerhalb ermöglichte, daran
Anteil zu gewinnen, wirtschaftlich zu erstarken und sich schließ-
lich teilweise auch zu verselbständigen". Die Anschauung, als
ob sich das gesamte wirtschaftliche Leben innerhalb dieser Groß-
grundherrschaften und unter ihrem beherrschenden Einfluß
vollzogen habe, ist durchaus abzulehnen. Von einer „geschlosse-
nen Hauswirtschaft" kann nicht entfernt die Rede sein. Die
Verkehrswirtschaft war auch in Deutschland schon sehr beträcht-
Hch entwickelt. „Die sogenannte Völkerwanderung hat auch die
spätrömische Verkehrswirtschaft keineswegs ganz verschüttet^
so daß die Franken jetzt sich zu deren Errungenschaften von
urzeitlichen Zuständen aus erst von neuem hätten mühsam
durchringen müssen." Wird man D. hierin gerne zustimmen^
so geht er doch viel zu weit, wenn er die ununterbrochene le-
bendige Fortbildung ganz „ohne Kulturzäsur" von der Spät-
! antike in das deutsche Mittelalter hineinführen läßt. Zu der Fülle
j von wirtschaftlichen Wechselbeziehungen, die auf dem platten
I Lande einen lebhaften Verkehr erzeugten, trat, so fährt D. fort,
; eine stattliche Anzahl von Städten und Märkten, die die An-
* schauung von einem rein landwirtschaftlichen Kulturprofil der
Karolingerzeit unmöglich machen. „Die gewerbliche Produktion
! war damals nicht bloß Hauswerk und Lohnwerk, sondern auch
1 12 Literaturbericht.
schon Preiswerk" und stellenweise schon auf die Ausfuhr gerichtet.
Handel und Verkehr ist auch im Innern Deutschlands, das keines-
wegs zum größten Teil „als ein allseitig meist umgangenes Zwi-
schenland wenig vom großen Verkehre berührt, dalag", nicht so
gering und bedeutungslos gewesen, wie man bisher annahm.
„Die wirtschaftlichen Depressionen in den Zeiten der großen
Völkerwanderungen waren . . . längst überwunden, der Impe-
rialismus Karls des Großen hatte auch ihn zu internationaler Be-
deutung entwickelt." Allüberall bemerken wir daher auch schon
deutliche Anzeichen der Geldwirtschaft. „Das Geld ist nicht nur
Wertmesser für Zahlungen und Leistungen in natura, sondern
selbst Zahlungsmittel." Die überwiegende Silberprägung, die
Verstärkung des Münzfußes, die Vermehrung des Feingehaltes
und die Erhöhung des Gewichtes sind Maßnahmen der „tüchtig-
sten Verwaltungstalente unter den Karolingern", um bei dem großen
Geldbedarf und der internationalen Ausbreitung des Handels
schwere wirtschaftliche Schädigung durch das stete Herab-
sinken des Münzfußes und die fortwährende Verschlechterung
des Feingehaltes gegen Ende der Merowingerzeit zu verhüten.
„Diese Maßnahmen waren tatsächlich von gutem Erfolg begleitet";
sie haben der politischen Eroberung die wirtschaftliche der weiten
neugewonnenen Gebiete folgen lassen. „Die Ausbildung der
Regalität", die beim Münzwesen hervortritt, ist auch in den
andern Zweigen der Finanzverwaltung zu verfolgen; sie ist eine
der wesentlichen Grundlagen des karolingischen Staates. Aber
mit dem Verfall des Einheitsstaates und dem Niedergang der
königlichen Gewalt gewinnt alsbald die erstarkende Macht der
Großen, der Bischöfe wie des weltlichen Adels, daran Anteil,
und dieser Wandel beginnt nicht erst im 10. Jahrhundert, son-
dern bereits in der Karolingerzeit selbst schon im neunten, ja
man kann sagen stellenweise bald nach dem Tode Karls des
Großen." Eine besondere Bedeutung in diesem Vorgang der
„Entstaatlichung" mißt D. der Ausbildung bei, die die Immuni-
tät im 9. Jahrhundert erfuhr. Damit „wurde jene bedeutsame
Entwicklung der Gerichtsverfassung eröffnet, die dann nach
100 Jahren bereits das Recht der Bischöfe, aber auch das welt-
licher Dynasten an die Stelle des königlichen treten ließ". So
kamen die Erfolge der wirtschafts- und sozialpolitischen Be-
mühungen der ersten Karolinger nicht so sehr der Zentralgewalt^
Mittelalter. 1 13
als vielmehr den Bischöfen und dem Herzogtum zugute, und
„langsam aber sicher sollzog sich auf tausend kleinen, vielfach
unscheinbaren Pfaden das große Werk der inneren Kolonisation,
das nimmermehr von einem einzigen Mittelpunkte aus verwirk-
licht werden konnte."
Abgeschlossen ist das reiche und anschauliche . Bild, das
hier entworfen wird, wie D. selbst bemerkt, noch nicht. Es wird
noch mancher Ergänzung fähig sein und wird gewiß in manchem
Urteil, wie in mancher tatsächlichen Angabe der Einschränkung
oder der Abänderung bedürfen. So scheint D. in dem Abschnitt
über Handel und Verkehr, in dem ich einige Stichproben gemacht
habe, S. 183/84 Schleswig und Hedeby für zwei ganz verschiedene
Orte zu halten, während es sich doch mindestens, wenn auch
nicht genau um den gleichen Platz, um ein und dieselbe Verkehrs-
stätte handelte. — S. 184 Z. 8 lies „Biörkö im Mälar'* statt
„B. in Mälaren" (en ist der schwedische bestimmte Artikel).
— S. 187: für den friesischen Schiffsverkehr auf der Leine bis
Ezle im Jahre 815 ist die eigentliche Quelle die von Bertram
1897 herausgegebene Fundatio ecclesie Hildensemensis, die der
von D. zitierte Ann. Saxo ausschreibt. Die Tatsache braucht
in keiner Weise bezweifelt zu werden. Erschienen doch z. B.
schon 789 friesische Hilfstruppen zu Schiff auf der Havel, um
Karls des Großen Feldzug gegen die Wilzen zu unterstützen,
Ann. regni Franc, ed. Kurze S. 85 (vgl. W. Vogel, Gesch. d. deut-
schen Seeschiffahrt I (1915) 89, Waitz Dt.VG. IV^ 631). Bereits
748 mögen sie sich in ähnlicher Weise an dem Feldzug Pipins
gegen die Sachsen beteiligt haben; denn daß die Frigiones bei
Fredeg. cont. c. 31 (117) (vgl. H. Z. 118, S. 208 A. 1) auf wirkliche
friesische Hilfstruppea beim fränkischen Heere zu deuten sind,
ist mir jetzt mit Bezug auf denselben Fall 789 und dann 791 im
Feldzuge gegen die Avaren (vgl. Abel-Simson, Jb. Karls des
Großen II 16ff.) nicht zweifelhaft. — S. 189 fehlt es in der Schil-
derung der großen Handelsstraße „von der Maas, Dinant über
Lüttich, Huy und Heristal, Aachen, Düren zum Rheine" etwas
an geographischer Anschauung; Huy war vor Lüttich zu nennen.
— Über sächsische Kaufleute außerhalb der Reichsgrenzen
im Norden und Nordosten (S. 188f.) gibt es eigentlich kaum
ein sicheres Zeugnis vor dem ostfränkisch-dänischen Handels-
vertrag von 873 {Ann. Fuld. ed. Kurze S. 78). Welcher Natio-
Historische Zeitschrift (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd. 8
114 Literaturbericht
nalität die Kaufleute waren, durch die der Dänenkönig Gott«
fried 809 zu Verhandlungen einladen ließ (an den Verhandlungen
selber nahmen sie natürlich nicht teil), wissen wir nicht; daß sie
„aus Sachsen nach Friesland reisten", sagen weder die Ann,
r. Franc. S. 128, die D. S. 188 anführt, noch Regina S. 68. —
Die „Wein- und Salzfuhren gingen" vermutlich nicht „von Frei-
sing und Tegernsee nach Bozen bzw. Hall" (S. 92), sondern in
umgekehrter Richtung. — S. 200: Für einen Verkehr von Arles
„mit den handelstüchtigen Arabern" ist wenigstens aus Ann,
Bertin. 859 und 869 nichts zu entnehmen. Zu 859 spricht diese
Quelle nur von den Normannen, die sich bei ihrem Raubzug
ins Mittelmeer auf der Camargue niederlassen, und 869 (S. 106
ed. Waitz), wo es sich wirklich um die Sarazenen handelt, ist
doch kaum von friedUchem Handelsverkehr die Rede. — S. 202:
Ober Ortona als etwaigen Handelsplatz ist aus Ann. regni Franc,
802 nichts zu entnehmen. — S. 206: Es ist kein stichhaltiger
Grund dafür abzusehen, daß von der Aufzählung zahlreicher
und verschiedener Arten von Zollabgaben in den Zollbefreiungs-
privilegien „vieles formelhaft und zum Teil auch aus älterer, be-
sonders der Römerzeit übernommenen" (gemeint ist doch wohl
„zu Unrecht weiterbeibehalten") sein soll. Brunner äußert
an der angeführten Stelle (RG. U 238f.) nichts derartiges. —
So mag auch anderes und wohl auch Wesentlicheres sich bei
näherer Prüfung als nicht stichhaltig erweisen. Die anfangs blen-
denden Ausführungen über die Entstehung und Bestimmung
des Capitulare de villis in der aquitanischen Königszeit Ludwigs
des Frommen, die mit im Mittelpunkt des 1. Bandes stehen und
auch im 2. des öfteren herangezogen werden, scheinen z. B.
schließlich doch nicht durchzugreifen (vgl. besonders G. Baist,
Zur Interpretation der Brevium exempla und des Capitulare de
villis, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
XU, 1914).
Trotzdem kann es kaum einem Zweifel unterHegen, daß D.^
im ganzen genommen, ein richtigeres Bild der karoHngischen
Wirtschaftsentwicklung gezeichnet hat, als, vornehmlich unter
dem Einfluß von v. Inama-Sternegg, bisher im allgemeinen
herrschte. Altbekannte Quellenstellen von höchster Wichtigkeit
sind hier in neue und originelle Beleuchtung gerückt und wohl
mehr als einmal einem besseren Verständnis erschlossen; manch
Mittelalter. 115
weitere Zeugnisse sind hier überhaupt zum erstenmal ver-
wertet. Die methodischen Darlegungen über die Verwertung
und die Tragweite des urkundlichen Materials, vor allem der
Traditionen und der Urbarien liefern einen wertvollen Bei-
trag zur Quellenkritik; sie haben über den Gegenstand des vor-
liegenden Buches hinaus allgemeine Bedeutung. D. hat in
seinem Buche die fruchtbaren Beobachtungen und Ansätze, die
sich in der neueren Forschung namentlich v. Belows, aber auch
Keutgens, Hecks und mancher anderer fanden, zusammenzufassen
und zu einem neuen eindrucksvollen und, was mehr ist, in
höherem Maße geschichtlichen Bilde zu entwickeln vermocht.
Auch wenn sich nicht in allen Punkten ein so radikaler Um-
sturz der üblichen Anschauungen durchsetzt, hat D. mit seinen
Untersuchungen, die jedes einzelne Zeugnis in seinen Besonder-
heiten würdigen und sich von Deduktionen aus gewissen von
vornherein feststehenden allgemeinen Sätzen fernhalten wollen,
zweifellos manche sichereren Grundlagen für die künftige For-
schung gelegt.
Die mittelalterliche Geschichtswissenschaft hat durch dieses
Buch gezeigt, daß sie den Blick für die großen Zusammenhänge
und das warme reiche Leben der geschichtlichen Entwicklung
nicht verloren hat und trotz oder gerade wegen ihrer lange vor-
wiegend quellenkritisch gerichteten Schulung ihren Platz neben
scheinbar mehr „zeitgemäßen** Schwesterwissenschaften voll zu
behaupten vermag. Das Buch von D. ist, auch wo es Wider-
spruch erweckt, eines der lehrreichsten Bücher zur mittelalter-
lichen Geschichte, die in neuerer Zeit erschienen sind, und dabei
trotz so eines durchaus nicht nachahmenswerten Stiles stets
fesselnd.
Es ist sehr zu wünschen, daß auch die Entwicklung der eigent-
lichen deutschen Kaiserzeit und des späteren Mittelalters bald
eine ähnlich fruchtbare Behandlung erfährt.
Daß keinerlei alphabetische Register und keinerlei Verzeich-
nis der erläuterten Quellenstellen beigegeben sind, wird jeder
Benutzer schmerzlich bedauern.
Berlin-Steglitz. Adolf Hofmeister.
8*
116 Literaturbericht.
Ungarnzüge in Europa im 10. Jahrhundert. Von Rudolf Lütticfa.
Berlin, Emil Ehering. 1910. (Historische Studien, veröffent-
licht von E. Ehering. Heft 84.) 174 S.
Der Verfasser gibt zunächst (S. 12 — 31) einen Überblick
über die Schicksale der Ungarn im Orient, d. h. in den Steppen
des südlichen Rußlands unter den Völkern des Schwarzen Meer-
Kreises bis 896, gegen den allerdings von der Spezialforschung
Einwendungen erhoben worden sind, und stellt dann nach einer
kurzen Beschreibung des Staats- und Kriegswesens und der
Sitten und Gebräuche der Ungarn (S. 32 — 40) an der Hand der
Quellen ihre Züge durch Deutschland und Frankreich 900 — 954
(S. 41— 101) und in ItaUen (899—954, S. 114— 142) zusammen.
Dabei wird „Bayerns innere und äußere Politik zur Zeit der
Ungarnzüge** gesondert besprochen (S. 102 — 113) und am Schluß
kurz über „das byzantinische Reich und die Ungarneinfälle**
bis 961 (S. 143 — 149) und ausführlich über „die Ungarnschlacht
von 955 und ihre Folgen** (S. 150—170) gehandelt. Bei der
letzteren, zu der jetzt neben der Abhandlung von A. Schröder
im Archiv für die Geschichte des Hochstifts Augsburg I auch die
Ausführungen von K. Uhlirz zu der vorliegenden Schrift (Histori-
sche Vierteljahrschrift XV) zu vergleichen sind, folgt Lüttich
der Ansicht Schäfers „mit Hinzufügung einiger neuer Beweis-
punkte**. Obwohl es sich im wesentlichen nur um eine Zusammen-
fassung bekannter Vorgänge handelt und der Verfasser die magy-
arische Literatur zum größten Teil nicht heranziehen konnte, ist
die knapp und übersichtlich abgefaßte Arbeit als ein nützliches
und, dank dem alphabetischen Register, auch bequemes Hilfsmittel
zu begrüßen. Leider hat L. darauf verzichtet, seine Erzäh-
lung durch Beigabe einer Karte mit Angabe aller von den Ungarn
nachweislich heimgesuchten Orte anschaulicher zu gestalten.
Unbedingt vollständig ist seine Zusammenstellung allerdings
nicht, weder was die Sammlung der Quellenstellen zu den einzelnen
Ereignissen, noch was diese selber betrifft. Es fehlt z. B. die
Zerstörung der hennegauischen Klöster Hasnon und Soignies
durch die Huni, von der Gislebert Chron. Hanon. c. 4 und 13
(S. 27 und 38 der Ausgabe von Arndt) berichtet; Vanderkindere
denkt dabei an den Zug von 954, und in der Tat sind die Ungarn
919 und 937 kaum so weit nach Norden vorgedrungen. In der
selbständigen Kritik der Überlieferung hätte sich wiederholt
Mittelalter. 117
erheblich weiter kommen lassen. Davon, daß 915 die Ungarn
„sich die Böhmen als Bundesgenossen mitbrachten" (S. 63),
sagt Adam I 54 (52 in der neuen Ausgabe von Schmeidler) ebenso
wenig wie von einem angeblichen Vordringen bis Bremen in dem-
selben Jahre. Adam spricht hier vielmehr lediglich allgemein
von den Heimsuchungen, denen Sachsen „in diebus illis'\ d. h.
in der Zeit Erzbischof Hogers (909—915 oder 917?) ausgesetzt
war, „cum hinc Dani et SclavU inde Behemi et Ungri laniarent
ecclesias. Tunc*\ so fährt er fort „.parrochia Hammaburgensis a
Sclavis et Bremensis üngromm impetu demolita esV\ und „in-
zwischen" (interea) stirbt Hoger. Mit dieser Verwüstung des
Bremer Sprengeis ist offenbar derselbe Einfall gemeint, den Adam
I, 55 (53 Schmeidler) ausführlicher unter der kurzen Regierung
Erzbischof Reginwards (915 — 916 bei Adam, richtiger vielleicht
915 oder 917? — 918 oder 919?) erzählt und der am ersten wohl
mit dem Bericht der Corveier Annalen zu 919, nicht zu 915 oder
906, zu verbinden ist. Wenn 917 die Ungarn nach der Chron.
S. Medardi Suess. über den Rhein ylusque Burgundiam" vor-
dringen, so ist damit wohl eher das westfränkische Herzogtum
Burgund als das „burgundische Reich" (S. 68) gemeint. Die
Ungarn, die 935 in Burgund auftauchen, sind vielleicht nicht durch
Süddeutschland (S. 85ff.), sondern durch Oberitalien dorthin
gelangt. Auf Kämpfe mit den Arabern gerade in diesem Jahr
kann aus der „Sage" bei Ekkehard, Casus S.Galli, MG. SS. H, HO,
um so weniger geschlossen werden, als Ekkehard den burgundischen
König Konrad nennt, der erst seit 937, und tatsächlich erst seit
etwa 942, regierte. Grundfalsch, wie allerdings fast immer, ist
das Verhältnis Herzog Arnulfs von Bayern zu König Konrad I.
und zu den Ungarn dargestellt (S. 106f.). Arnulf wurde nicht
schon 914 zur Flucht zu den Ungarn genötigt und erhob dann
916 — 917 zurückgekehrt die Waffen von neuem gegen den
König, sondern seine Flucht fand erst 916, als Konrad Regens-
burg einnahm, statt ; sie gab vermutlich die Veranlassung zu dem
Ungarneinfall von 917. Die Rückkehr des Herzogs erfolgte
erst nach dem Tode des Königs. Denn die bayerisch-österreichische
Annalistik (Ann. S. Rudb. Salisburg. und Auct. Garst.) schöpft
nur, wie ich in meinem Buch über die hl. Lanze (1908) S. 12
A. 4 gezeigt habe, aus der Chronik Ottos von Freising, der seiner-
seits Liudprands Ant. II, 19 ausschreibt. Sie hat ihr Jahr 914
118 Literaturbericht.
willkürlich aus Ottos falscher Chronologie errechnet, der C/ir, VI, 16
zunächst die Wahl Konrads I. zu 913, dann „anno regni sui /®"
die Niederlage der Ungarn am Inn (913) und unmittelbar daran
anschließend (Porro A. Baioariamm dux usw.) Arnulfs Empörung
und Flucht erzählt. Wenig eindringend und sachkundig sind die
italienischen Ereignisse behandelt. Ohne stichhaltigen Grund
wird das Erscheinen der Ungarn an der Ostgrenze Italiens 898
bezweifelt (S. 118). Aquileja, Verona, Pavia sind nicht 899
ihnen „zum Opfer gefallen" (S. 119), sondern Liudprand Ant. 11,9
sagt ausdrücklich, daß sie an diesen befestigten Städten vorüber-
zogen {pertranseunt). Markgraf Adalbert II. von Tuscien starb
nicht 917, sondern wahrscheinlich 915, sicher vor 8. Dez. 915,
vgl. meine Untersuchungen über „Markgrafen und Markgraf-
schaften im Italischen Königreich", MJÖG. VII. Ergbd. (1906),
400 und neuerdings F. Schneider, Die Reichsverwaltung in Toskana
I, 333 A. 2. Ganz irre geht die Darstellung eines Ungarnzuges
bis vor Rom (S. 133 ff.), der auf die ungenügende Autorität des
späten Romuald von Sal^rno hin zu 926 gesetzt wird, aber wohl
am ersten zu 928 zu ziehen ist. Nicht Alberich von Spoleto,
wie Martinus Polonus im 13. Jahrhundert infolge eines Miß-
verständnisses schreibt, sondern Peter, der Bruder des Papstes
Johann X., wie die Quelle Martins, Benedikt von S. Andrea
am Soracte c. 29 (vgl. Liudprand Ant. III, 43), berichtet, war es,
der damals die Ungarn rief und dafür dann von den Römern
erschlagen wurde, vgl. meine Ausführungen MJÖG. VII. Ergbd.,
S.402f. und 418 A. 1.
Berlin. Adolf Hofmeister.
Die Regierung Karls V. und der europäische Norden. Von Rudolf
Häpke. (Veröffentlichungen zur Geschichte der Freien und
Hansestadt Lübeck, herausg. vom Staatsarchiv zu Lübeck.)
Lübeck, Max Schmidt. 1914. XVI u. 386 S.
Häpkes Buch gehört eng zusammen mit seiner im Auftrag
des Vereins für Hansische Geschichte durchgeführten Edition
der „Niederländischen Akten und Urkunden zur Geschichte der
Hanse und zur deutschen Seegeschichte", Bd. I, 1531 — 1557, er-
schienen 1913. Demgemäß bilden den einen selbständigen Pol
der Darstellung die handeis- und speziell die seegeschichtlichen
r
16. Jahrhundert 119
Vorgänge. Da Häpke lange im Brüsseler Staatsarchiv arbeitete,
d. h. besonders in den Quellen derjenigen Gebiete zu Hause ist,
die zur Zeit Karls V. Mittel- und Knotenpunkt des Seeverkehrs
waren und die Fäden zweier Zeitalter zusammenfaßten, gelingen
seiner Fähigkeit zu besonnenem Aufsuchen großer Linien auch
auf diesem Gebiet Ergebnisse allgemeiner Bedeutung. Aber manch-
mal quellen die speziell seegeschichtlichen Interessen doch über;
in vielen Einzelheiten, besonders der eingehenden Darstellung
der Konvoifahrten nach Spanien und Portugal seit 1552, am
merkbarsten aber in dem umfangreichen einleitenden Abschnitt,
der den Leser gleich am Anfang durch eine Reihe von systemati-
schen Monographien über Seefahrt und Seehandel, Seefischerei,
Kapital und Geldbesitz, Handelspolitik, Seekriegswesen führt.
Das Buch hätte gewonnen, wenn aus diesem Bündel das unmittelbar
der Einführung dienende herausgelöst und zu einer Einheit, die
etwa auch die unerörtert bleibenden inneren Verhältnisse Skan-
dinaviens und der Hansestädte hineingezogen hätte, gegliedert,
das Überschüssige aber in Anhänge verwiesen worden wäre, wo
Ausführungen wie über Seefischerei, Kapital und Geldbesitz,
Seekriegswesen auch ganz anders materialreich hätten auftreten
können.
Der zweite Pol neben dem see- und handelsgeschichtlichen
ist, gemäß den im Gegenstand begründeten Traditionen des
Hansischen Geschichtsvereins und speziell der Schule Dietrich
Schäfers, das Interesse an den politischen Ereignissen und Kon-
stellationen, die Häpke ebenfalls geschickt und wohlorientiert in
die großen Linien der Weltreichspolitik Karls V. hineinstellt.
Wie sehr das politische Interesse (neben dem seegeschichtlichen)
das Auswahlprinzip für die Behandlung auch des wirtschaftlichen
Prozesses bildet, zeigte schon das gänzliche Überwiegen der
diplomatischen Korrespondenzen in jener Edition, während im
Brüsseler Staatsarchiv noch gewaltige, auch für den Landhandel
wichtige, ergänzende statistische Quellen vorhanden sind, die
ich vom Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Grundlagen des
Reiches Karls V. aus dort untersuchte.
Die „Regierung Karls V." in Häpkes Titel bedeutet ganz
wesentlich die niederländische Regierung, deren Kanzleipapiere
das Brüsseler Staatsarchiv verwahrt. Die Regierung unter
Ferdinand in Deutschland spielt nur ganz gelegentlich hinein,
120 Literaturbericht.
und auch der kaiserliche Hof selbst bleibt im Hintergrund, so
sehr Häpke durchgehend aufzeigt, wie vielfach Karls dynastische
und Reichspolitik in Konflikte geriet mit den spezifisch nieder-
ländischen, auf ungestörten Handelsverkehr angewiesenen Inter-
essen, welche meist die Haltung der Regentin Maria und ihrer
nebengeordneten Räte bestimmten. So gibt das Buch zugleich
einen Beitrag zu der sich allmählich durchsetzenden gerechteren
Würdigung der Auseinandersetzung zwischen Fürsten und Stän-
den. Eine nähere Verfolgung der verschieden orientierten Stre-
bungen der einzelnen Provinzen und ihrer leitenden Männer,
wie ich sie für die Frühzeit Karls V. in den Niederlanden ver-
suchte, wäre möglich gewesen; doch hatte das Gemeinstaats-
bewußtsein in dem Menschenalter von der Zeit der Chi^vres und
Berghes bis zu der Zeit Marias, die Häpke vorzüglich behandelt,,
große Fortschritte gemacht, und der Verfasser konzentriert sein
Interesse nur auf die nördlichen Gebiete, besonders die auf-
steigenden und speziell mit den Hansen in Beziehungen stehenden
Provinzen Holland und Seeland.
Ist das nördliche Burgund durchgehend der eine Brenn-
punkt des Interesses, so ist der andere zunächst das den Sund
beherrschende Dänemark, besonders solange der vertriebene
Christian II. auf Grund seiner habsburgischen Heirat wieder und
wieder einen Stützpunkt in den widerstrebenden Niederlanden
suchte. Nordwestdeutschland rückt in den Mittelpunkt der
Darstellung seit der Zeit des Klevischen und besonders für die
Periode des Schmalkaldischen Krieges, dessen Höhepunkt in
Niedersachsen, die Bremen befreiende Schlacht bei Drakenburg^
Häpke besonders ausführlich und mit von Heimatsliebe be-
schwingter Feder schildert. Immer aber behält er die Fäden
zu den zahlreichen andern mit spielenden Parteien in der Hand
und zeigt insbesondere die Machtverschiebungen zwischen Lü-
beck, Hamburg, Bremen, Emden auf.
Wichtiger als einige Anlagen zur Schlacht bei Drakenburg,
1547, und zu den Seekriegsplänen Moritzens, 1552, wäre ein
Register oder wenigstens ein ausführliches Inhaltsverzeichnis
gewesen, das die zwar in gutem Stil geschriebenen, aber weit-
läufig dahegenden, zu wenig mit Rekapitulationen durchsetzten
und vielfach mehr mit den Kennern sich unterhaltenden Aus-
führungen für allgemeine Benutzung besser erschließen würde.
18. Jahrhundert. 121
Doch mußte der größere Teil des Buches gedruckt werden, als
der Verfasser schon im Felde stand.
Berlin. Andreas Walther.
Maria Theresia. Ihr Leben und ihre Regierung. Von Eugen
Guglia. München und Berlin, R. Oldenbourg. 1917. 2 Bde.
VII u. 388; 418 S.
Am 13. Mai 1917 wurde zum zweiten Male das Jahrhundert
voll, daß Maria Theresia das Licht der Welt erblickte. Mitten
in den Stürmen und Sorgen des Weltkrieges ging dieser Tag
fast unbemerkt vorüber. Kaum daß in den Schulen die Jugend
an ihn erinnert wurde. Doch welch besseren Trost gibt es in
sorgenschwerer Zeit, als sich in die Vergangenheit zu versenken
und aus ihr zu entnehmen, wie der Staat auch vorher schon aus
schwerer Gefahr gerettet worden ist. Gerettet worden durch die
Tatkraft einer Frau, die an den Staat glaubte und durch ihre
felsenfeste Überzeugung und den Liebreiz ihrer Erscheinung
ihre Beamte und Untertanen zu ähnlichem Glauben bekehrte.
Gleich ihrem ersten Sohne lebt Maria Theresia noch heute in
der Erinnerung des Volkes. Gilt dieser als der Volkskaiser, als
der Beglücker seiner Untertanen, besonders der Armen und
Bedrückten und als der Verfechter einer freieren Lebensanschauung
gegenüber den Mächten des Mittelalters, so jene als die Vertreterin
des alten, guten, so mächtigen und angesehenen Österreichs,,
jenes Österreichs, das im Glänze der römischen Kaiserkrone die
erste Rolle in Mitteleuropa spielte, jener Zeit, die jedem Öster-
reicher wie ein schöner, längst entschwundener Traum erscheint.
So war es denn ein guter Gedanke, die zweite Jahrhundert-
wende mit einer Lebensbeschreibung Maria Theresias zu feiern.
Ist auch im Kriegsgetümmel der Erfolg des Buches vielleicht
hinter den Erwartungen geblieben, so wird man in kommenden
Friedensjahren sicher darauf zurückgreifen. Der Verfasser hat
auf dem Gebiete der Biographie sein Bestes geleistet, und sa
lag die Arbeit in bewährten Händen. Unleugbar kommt sie einem
Bedürfnis entgegen. Maria Theresia hat zwar schon Biographen
gefunden. Vortrefflich ist das Buch von Adam Wolf „Österreich
unter Maria Theresia", aber es ist längst vergriffen und liegt
über 60 Jahre zurück. Das große Werk von Arneth, in seiner
Art ein klassisches Buch, war viel zu umfangreich, um in die
122 Literaturbericht
breite Öffentlichkeit zu dringen. In seinen späteren Bänden
mehr auch eine Sammlung von Stoff als eine Verarbeitung zu
abgerundetem Bilde, mehr eine Familien- als eine Staatsgeschichte
und vor allem nur in österreichischer Beleuchtung aufgenommen,
so daß dem Bilde das Körperliche fehlt. Denn die Darstellung
Arneths beruhte im wesentlichen auf den Akten des Haus-, Hof-
und Staatsarchives. Arneth war auch nicht eigentlich Fachmann.
Ein hochbegabter Mann und feiner politischer Kopf war er von
der Verwaltung in die Geschichtschreibung durch Neigung und
Stellung geraten ohne die fachliche Vorbildung in strenger Schule
sich angeeignet zu haben. Den Politiker der liberalen Ära hat
der Vorwurf angezogen, und der Politiker spricht fast aus jeder
Seite des Buches, gewiß nicht zum Nachteil desselben, wenn
auch für unseren Geschmack manchmal zu laut. Seit Arneth
ist viel neues Material dazu gekommen, die Tagebücher Kheven-
hüllers mit den lehrreichen Anmerkungen von Schlitter, ver-
schiedene Korrespondenzen, die Arbeiten von Grünberg und
Meli über die Bauernbefreiung und andere. Auch der große
Gegner Maria Theresias, Friedrich II., hat seitdem einen neuen
hervorragenden Biographen gefunden, und zahlreiche Arbeiten
beschäftigten sich mit der Politik der europäischen Mächte.
Der Verfasser dieser neuesten Biographie will nicht eine
Geschichte des österreichischen Staates in der Zeit Maria Theresias,
€r will eine Lebensgeschichte der großen Kaiserin geben. Daher
steht das Persönliche durchaus im Vordergrund. Die äußere
und innere Politik wird nur insoweit dargestellt, als die Kaiserin
daran Anteil hatte, und so tritt namentlich die Kriegführung
zurück. Allerdings verzichtet der Verfasser nirgends darauf,
das Bild der Kaiserin zu zeichnen, und da Maria Theresia fast in
allen Regierungsangelegenheiten entscheidend eingriff, so wird
uns zugleich ein guter Teil der Staatsgeschichte vorgeführt.
Der Verfasser begnügt sich im ganzen, die Quellenveröffentlichun-
gen und die Literatur auszuschöpfen. Nur ab und zu greift er
nach ungedruckten Archivalien. Mit Recht; denn anders Heß
sich die Aufgabe in wenigen Jahren nicht lösen. Viel Unbekanntes,
das geeignet wäre, neue Lichter zum Bilde Maria Theresias beizu-
tragen, dürfte überhaupt kaum mehr vorhanden sein. Denn,
wie der Verfasser mit Recht bemerkt, seine Heldin gibt der For-
schung keine Rätsel zu lösen. Klar ist die Entwicklung dieser
18. Jahrhundert. 123
Frau vorgezeichnet. Das, was sie von Friedrich II. scheidet,
ist doch der Mangel an tieferer Bildung. Beide hochbegabte
Persönlichkeiten, aber in Anlage und Entwicklung auseinander-
gehend, Maria Theresia wie ein Naturlaut, kraft ihres scharfen
Verstandes zumeist instinktiv das Richtige treffend, voll Tempe-
rament und Tatkraft, dabei kindlich fromm und gläubig, gläubig
auch an die Gerechtigkeit ihrer Sache, der König von Preußen,
ein Philosoph im Besitze der Bildung seiner Zeit, an Tatkraft
der Kaiserin gleich, ein Diplomat, der unter Umständen auch
vor zweifelhaften Mitteln nicht zurückschreckt, ein Zweifler
ohne den kindlichen kirchlichen Glauben, nur von dem Gefühl
der Verantwortung gegenüber dem Staat beherrscht. Es war das
Verhängnis Deutschlands, daß sich die beiden Persönlichkeiten
gegenüberstanden und sich aneinander rieben. Doch hat sich
in dieser Reibung ihre Größe vielleicht erst recht entwickelt.
Ohne Mollwitz wäre Maria Theresia zuletzt doch die Kaiserin
geblieben, die sich im wesentlichen auf die Repräsentation und
die Familie zurückzog.
Das Schwergewicht des Buches liegt vielleicht im ersten
Band. Den Erbfolgekrieg bezeichnet der Verfasser als die Helden-
zeit der Kaiserin. Mit vollem Rechte. Hier ist überall Maria
Theresia die treibende Kraft. Angegriffen von halb Europa
wehrt sie ihr Erbe wie eine Löwin. Der Siebenjährige Krieg
ist nicht minder ihr Krieg gewesen. Denn daß Maria Thesesia
den Verlust Schlesiens nicht verschmerzen konnte und daß sie
trachtete, es mit Gewalt wieder zu gewinnen, darüber ist wohl
heute kein Zweifel mehr. Schon aus religiösen Beweggründen,
da sie fürchtete, für das Seelenheil ihrer ehemaligen schlesischen
Untertanen, das ihr unter einer protestantischen Herrschaft
gefährdet schien, die Verantwortung vor Gott übernehmen zu
müssen. Dieser Revanchekrieg erreichte allerdings sein Ziel so
wenig wie die meisten andern. Unter allen Kriegen gleicht er
am meisten dem jetzigen, ein Weltkrieg wie dieser aus Revanche-
gelüsten und kolonialen Streitigkeiten erwachsen, eröffnet durch
den Einbruch in ein neutrales Land, das des Einverständnisses
mit dem Gegner beziehtet wird.
Die innere Verwaltung des Staates, in den Hauptzügen eben-
falls bekannt, wird noch in dem einen oder anderen Punkte der
Aufhellung bedürfen. Bietet so der Verfasser im großen und
124 Litcraturbericht
ganzen auf dem Gebiete der Politik in angenehmer Darstellung
Bekanntes, so wird man gerne seinen Ausführungen über das
gesellige Leben der Kaiserin und ihre Beziehungen zu Kunst
und Literatur folgen.
Wien. Voltelini.
Die Beziehungen der katholischen Rheinlande und Belgiens in den
Jahren 1830—1840. Von Dr. phil. Lukas Sdrwahn. (Straß-
burger Beiträge zur neueren Geschichte, herausg. von Prof.
Dr. Martin Spahn, Straßburg.) Straßburg i. E., Herdersche
Buchhandlung. 1914. XX u. 208 S. 4,80 M.
Paul Vogel hat 1913 in seinen Beiträgen zur Geschichte des
Kölner Kirchenstreits Einzelheiten dieses Kampfes nach den
Akten und Flugschriften genauer behandelt, insbesondere die
klerikale Kleinarbeit auf ihren verborgenen Wegen zu verfolgen
gesucht. Den Anteil des belgischen Klerikalismus an dem Kölner
Ereignis, an seiner Vorgeschichte und seinen nächsten Nach-
wirkungen im Rheinlande, die persönliche und sachliche Ver-
bindung zwischen rheinischem und belgischem Katholizismus
untersucht die vorliegende inhaltsvolle Schrift. Schwahn hat die
Akten des Geh. Staatsarchivs in Berlin und des belgischen Mini-
steriums des Äußern benutzt, er hat überdies etwa 40 deutsche
und belgische Zeitungen und Zeitschriften (wenn auch nicht
immer für den ganzen im Titel bezeichneten Zeitraum!) und
gegen 100 Flugschriften durchgearbeitet (nützliche Übersicht
S. VII ff.), auch die neuere Forschung sorgsam, manchmal sogar
allzu umständlich berücksichtigt. Zu bedeutendem Ertrage führt
das Buch freilich nicht. Wenn man beim Lesen diesen Ein-
druck gewinnt, so liegt das gewiß zum Teil daran, daß der
Betrachtungsweise des Verfassers, was sich sogleich, doch nicht
allein, in der Einleitung zeigt, der große Zug fehlt. Aber zuletzt
dürfte dieses bescheidene Ergebnis doch der unmittelbare Aus-
druck der geschichtlichen Wirklichkeit sein.
Eine starke, selbständig bestimmende Einwirkung des bel-
gischen Klerikalismus auf den rheinischen ist nicht nachweisbar.
Das scheint mir die auf den fleißig zusammengetragenen Stoff-
massen ruhende Untersuchung der Einzelfragen noch deutlicher
zu zeigen, als der Verfasser selbst bemerkt (doch vgl. S. 67).
Der belgische Katholizismus hat mehr durch sein Dasein, durch
19. Jahrhundert. 125
seine kraftvolle Selbständigkeit und Bewegungsfreiheit als durch
selbsteigene Betreibung seiner Gedanken in den Rheinlanden
gewirkt, weniger als Herd einer von sich aus über die Grenzen
greifenden Agitation, sondern mehr als ein von außen her ge-
suchtes Vorbild; nicht das ist das Hervorstechende, daß die
Belgier ihre kirchenpolitischen Gedanken in der benachbarten
preußischen Provinz zu verbreiten gesucht hätten — obwohl
auch das natürlich nicht unterblieben ist — , sondern vielmehr
das, daß einzelne Führer des rheinischen Katholizismus bei dem
freien und politisch starken belgischen Katholizismus Rückhalt
und Förderung suchten und sich bemühten, die eigenen Wünsche
durch belgische Blätter vertreten zu lassen. Längst vor dem
Kölner Ereignis, schon alsbald nach der Revolution von 1830,
läßt sich die Tätigkeit rheinischer Ultramontaner nachweisen;
insbesondere zwei preußische Denkschriften vom Februar 1838,
die der Verfasser im Wortlaut mitteilt (S. 175 ff.; vgl. S. 18 ff.),
nennen zahlreiche Namen. Das Bodenständige des rheinischen
Klerikalismus müßte freilich noch genauer betrachtet werden,
die deutsche Vorgeschichte des Kölner Ereignisses bedarf noch
der Aufhellung. Jedenfalls haben Ultramontane der Rheinlande
offenbar mehr nach dem belgischen Ideal gestrebt, als daß die
Belgier es ihnen hätten aufdrängen wollen. An belgischer Pro-
paganda fehlte es gewiß nicht. Preußenfeindliche politische Ge-
danken wurden durch die republikanischen Demokraten ver-
treten; sowohl der zu Frankreich neigende de Potter wie der
eine unmittelbare Verbindung mit Frankreich abweisende Adolf
Bartels dachten an belgisch-rheinischen Zusammenschluß. Preu-
ßische Gesandtschaftsberichte gewähren einzelne Einblicke in
diese nicht eben bedeutenden belgischen Versuche, den Abfall
der Rheinlande zu betreiben. Für die große klerikale Partei —
von der sich die namentlich durch das Journal des Flandres ver-
tretenen klerikalen Demokraten abgesondert hielten — war nicht
die politische, sondern die kirchenpolitische Verbindung mit den
Rheinlanden die nächste Aufgabe. Ihrem Führer, dem Lütticher
Bischof van Bommel, schrieb man in Berlin wie in Belgien starken
Einfluß auf die Parteizeitung Le Courier de la Meuse zu. Seh.
hat den Courier erst von 1834 an benutzen können. Von dieser
Zeit bis 1837 aber wurde der Kampf gegen die preußische Kirchen-
politik lediglich in dem neu gegründeten Journal historique et
126 Literaturbericht
littiraire de LUge geführt. Diöse Monatschrift beanspruchte
nach dem Ausbruch des Kölner Kirchenstreites das Verdienst,
wichtige Vorarbeit geleistet zu haben. Sie hatte sich gegen den
Hermesianismus und mit besonderer Schärfe gegen das preußische
Verfahren in der Frage der gemischten Ehen gewandt. Im Rhein-
land wurde die Zeitschrift stark gelesen; daß der regierungsfreund-
liche Kölner Kapitularvikar Hüsgen sie im Dezember 1835 verbot,
wirkte bei den rheinischen Klerikalen eher wie eine Empfehlung.
Auf die naheliegende Frage nach dem rheinländischen Ur-
sprung einzelner Aufsätze des Journal läßt sich eine sichere Ant-
wort nicht geben. Aber es ist klar, daß manche Mitteilungen
(z. B. die schon in früheren Darstellungen verwerteten über die
Geheime Instruktion) nur aus den Kreisen des rheinischen Klerus
stammen können. Dazu halte man, daß Alberts, der in Sittard
Flugschriften druckte (nicht im Auftrage der belgischen Kleri-
kalen!) und sie im Rheinland vertrieb, mindestens einen Teil
seiner Unterlagen aus Rheinpreußen unmittelbar bezog und daß
auch van Bommel mindestens 1837 von Köln aus auf dem Lau-
fenden gehalten wurde. So wird man — was ohnedies naheliegt
— aus den belgischen klerikalen Schlachtrufen gegen die preu-
ßische Regierung vor allem eben den Klang rheinischer Stimmen
heraushören müssen. Der Verfasser hätte nachdrücklicher her-
vorheben sollen, daß das, was er im 2. Kapitel beibringt, nicht
einfach als Beweis einer selbständigen, lediglich aus belgisch-
katholischen Erwägungen entspringenden Bekämpfung der preu-
ßischen Kirchenpolitik gelten darf. Aus den im 3. Kapitel zu-
sammengetragenen Zeugnissen tritt die bodenständige klerikale
Arbeit in den Rheinlanden deutlicher hervor. Neben den längst
bekannten Männern, wie Laurent und Moeller, in denen sich
Rheinisches und Belgisches unmittelbar vereinigte, wie Binterim
und Windischmann, zeigen sich andere — Weltpriester, Ordens-
leute, Laien — als wirksame Träger der rheinisch-belgischen
Geistesverbindung; ihre Namen sind zumeist durch jene beiden
preußischen Denkschriften überliefert. Die Leitung des Journal
betont schon 1835, sie sei ständig darauf bedacht, auch unter den
ihr bekannten zuverlässigen Geistlichen im Ausland Mitarbeiter
zu gewinnen; daß man dabei insbesondere an rheinländische
Klerikale zu denken hat und daß darunter Männer voll eigener
Initiative waren, ist zum Überfluß besonders bezeugt (vgl. S. 67).
19. Jahrhundert. 127
Wenn eine unmittelbare Verbindung Drostes mit den belgischen
Klerikalen nach seiner Erhebung zum Erzbischof sich nicht
nachweisen läßt, so ist doch zu beachten, daß er durch seine
geistlichen Untergebenen, insbesondere seinen Hofkaplan und
Geheimschreiber Michelis, diese Beziehungen auf besser gesicher-
ten Wegen pflegen konnte als im unmittelbaren Briefwechsel
(vgl. S. 75 f. und namentlich 79 ff.). Der Erzbischof ist aber
auch hier so verfahren wie bei dem Versuche seines Hofkaplans,
„einige Jesuiten hereinzuschmuggeln"; er „gibt zu allem seinen
Segen, tut aber einstweilen bei allem noch die Augen zu, so daß
die Unternehmung nur eine Privatunternehmung ist" (Michelis
an Binterim, 2. Mai 1837). Ich will nebenbei bemerken, daß die
nach Ausbruch des Kölner Kirchenstreits beschlagnahmten
Briefe u. a. von Gutzkow nicht nur in der „Roten Mütze", die S»
in seiner Übersicht der Flugschriften allein (Nr. 102) nennt,
sondern auch in den gleichfalls 1838 veröffentlichten „Streif-
zügen in der Kölner Sache" (Werke, 1. Serie, Bd. 10, S. 62 f.,
vgl. 67) verwertet sind; selbst in Gutzkows unerträglich breitem,
aber zeitgeschichtlich nicht wertlosem Roman „Der Zauberer
von Rom" sind (Band 2, 1858, S. 238 f.) der sog. Schnüffelbrief
und der soeben erwähnte Jesuitenbrief im Wortlaute heran-
gezogen.
Aus S.s Darstellung ist wiederum deutlich zu erkennen, daß
die gegen die preußische Regierung gerichtete klerikale Bewegung
in den Rheinlanden schon vor dem Kölner Ereignis sich ent-
faltete; und wenn der preußische Geschäftsträger in Belgien, Graf
Galen, kurz vor dem Zusammenstoß erklärt, die Maßnahmen
gegen den belgischen Klerus seien durch „die von Belgien fort-
während ausgehenden Versuche zur Aufwiegelung der katholi-
schen Untertanen in der Rheinprovinz" vollkommen gerecht-
fertigt, so dürfen auch hier die rheinischen Wurzeln des kirchen-
politischen Inhalts dieser Versuche nicht übersehen werden.
Daß ein wichtiger Aufsatz des Journal vom Mai 1837 durch
Michelis gespeist worden ist, steht fest (S. 83 Anm. 2, vgl. S. 103);
auch in den mißbilligenden Äußerungen, die das Journal vorher
über Klemens August gebracht hatte, mögen übrigens rhein-
ländische Stimmen stecken, wie denn die Klerikalen außerhalb
der engsten Umgebung des Erzbischofs über seine wahre Gesin-
nung zunächst nicht leicht ins Klare kommen konnten. Seit dem
128 Literaturbericht
Ausbruch des offenen Kampfes wurden dem Journal Aktenstücke
und Nachrichten aus Köln zugeschoben, brachte zugleich der
Courier de la Meuse unermüdlich seine heftigen Angriffe auf
Preußen, an denen rheinländische GeistUche entscheidenden An-
teil hatten (vgl. S. 111 f.)- Daß dem plötzlich gegen die preu-
ßische Regierung auftretenden Conservateur beige gleichfalls An-
regungen aus dem Rheinland zugegangen sind, wird dadurch,
daß das Blatt selbst sie nur für die ..affaires politiques'' ausdrück-
lich zu bestreiten wagt (S. 117), geradezu bewiesen. In den Rhein-
landen selbst fehlte es nicht an geistlichen Heißspornen, die die
Regierung zu gewaltsamem Vorgehen zu reizen suchten (S. 119 f.).
Wie weit die Absichten einzelner gingen, wie stark sie der Ge-
danke an die Möglichkeit offenen Widerstands beschäftigte, das
läßt sich nicht erkennen; belastende Briefe sind offenbar großen-
teils vernichtet worden, belastete Persönlichkeiten aber ver-
suchten es nach Kräften mit der Ableugnung — freilich in den
kirchenpolitischen Angelegenheiten nicht immer mit Erfolg,
denn mindestens Michelis und Binterim können der Unwahrheit
überführt werden (vgl. S. 3 f., 88 f., 121), was für die persönliche
Beurteilung und sachliche Kritik gleich wichtig ist (vgl. auch 130
Anm. 3). Auch das bleibt ungewiß, ob die nach der Verhaftung
des Erzbischofs nachweisbare belgische Agitation, die in der
Stille an eine Revolutionierung der Rheinlande dachte, von
rheinischen Klerikalen gefördert worden ist. Jedenfalls muß
man mit dem Verfasser feststellen, daß von einer ernsthaften
revolutionären Bewegung in den Rheinlanden sich nicht die
geringsten Spuren nachweisen lassen. Ober den durch das Kölner
Ereignis angeregten belgischen Pressekampf gegen Preußen gibt
S. (S. 143 ff.) einige Mitteilungen. Bartels betrieb, wie S. (155 ff.)
zeigt, seinen alten Gedanken eines belgisch-rheinländischen Zu-
sammenschlusses von neuem und glaubte ihn im November 1838
gar der Verwirklichung nahe; die klerikale Partei Belgiens aber
lehnte ihn jetzt wie früher ab.
S.s fleißige Schrift, deren Benutzung leider weder durch eine
eingehende Inhaltsübersicht noch durch ein Register erleichtert
wird, ist in der Darstellung nicht immer glücklich; schon der
Titel verrät nicht eben starkes Sprachgefühl. Störend wirken die
durch manchen Druckfehler entstellten französischen Auszüge
mitten in der deutschen Erzählung. Vor allem aber vermißt man
Rechtsgeschichte. 129
das kräftige Herausarbeiten der leitenden Gedanken, besonders
auch in dem überaus dürftigen Schlußabschnitt. Offenbar hat
der eifrige Verfasser beim Kriegsbeginn nicht mehr Zeit und Ruhe
zu einer letzten Überarbeitung gefunden. Er ist dann alsbald
im Kampfe fürs Vaterland gefallen. Seine hinterlassenen Unter-
suchungen über die Beziehungen des rheinischen Katholizismus
zu dem übrigen katholischen Deutschland und zu Frankreich
(vgl. das Vorwort vom 5. August 1914 und S. 175 Anm. 1) sind
zwar nicht abgeschlossen, scheinen aber umfassend und wertvoll
zu sein; vielleicht wird der Herausgeber der ,, Straßburger Bei-
träge**, der die vorliegende Arbeit angeregt hat, auch diese Stu-
dien bald der Forschung zugänglich machen können.
Gießen. F. Vigener.
Schweizerische Bauernmarken und Holzurkunden. Von Max
Gmür. (Abhandlungen zum schweizerischen Recht, her-
ausgegeben von Max Gmür. 77. Heft.) Mit 33 Tafeln. Bern,
Stämpfli. 1917. 100 S.
Dies Buch geht nicht nur den Juristen, sondern ganz be-
sonders auch den Historiker, in erster Reihe den Diplomatiker und
Sozialhistoriker an. Die Bücher von Michelsen (1853) und Homeyer
(1870) über die Hausmarken gehörten noch zu der vorkritischen
Periode deutscher Rechtsgeschichte, die dennoch an Systematik
des Blicks der Folgezeit so vielfach überlegen war. Hier hat
also Gmür weit zurückgehen müssen. Seine anschheßende Be-
handlung der Holzurkunden bricht vollends Neuland. Sie baut sich
wesentlich auf einer von ihm selbst angelegten Sammlung von
Originalen auf, von denen der Anhang zahlreiche in vortreff-
hchen Lichtbildern zeigt.
Die Darstellung des Berner Zivilisten sieht die Dinge gewisser-
maßen umgekehrt wie der Historiker, von ihrem modernen Ent-
wicklungsende aus. Sie beginnt mit dem Markenrecht, das ja
außerhalb der ländlichen Rechtsverhältnisse ein völlig lebendiger
Zweig der gegenwärtigen Jurisprudenz ist, und schreitet dann
erst zu seinem hauptsächüchen mittelalterlichen Substrat, dem
rechtlich heute sehr seltenen Kerbholz im weitesten Sinn, vor.
Gerade hier würde der Historiker einsetzen und an der Hand der
einzigen eindringenden Untersuchung neuerer Zeit, dem (G. leider
unbekannten) Aufsatz Michael Tangls über Urkunde und Symbol
Historische Zeitschrift (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd. 9
130 Literaturbericht.
(Festschrift für Heinrich Brunner, Weimar 1910, S. 761— 775>
das Wesen des Kerbholzes als volksrechtlichen Symbols im Gegen-
satz zur römisch-rechtlichen Urkunde zu begreifen suchen. Von
den durch Tangl kritisch untersuchten Fällen der Befestigung
einer festuca oder eines Messers an der Urkunde (vgl. dazu noch
Grimm, Rechtsaltert. 1*, 170 Anm. 2 sowie für England F. Wiß-
mann, Arch. f. Urkundenforschung 3 [191 1], 263f.) führt ein stetiger
Zusammenhang zu dem selbständigen Investitursymbol des
Stabes oder Messers (zu den leider undatierten Beispielen Wiß-
manns a. a. 0. 263 vgl. jetzt auch die sehr hübschen und frühen
bei H. W. C. Davis, Regesta Regum Anglo-Normannorum [Ox. 1913J
nr. 1 [1066], 29 [1069] und 378 [1096]); namentlich wenn das
Holz nicht schon als Messergriff oder irgendwie sonst gestaltet
ist, liegt es nahe seinen Symbolch.arakter durch Marken- oder
Schriftzeichen zu betonen: Einer der von den Maurinern (Nouveau
Traiti 4, 469; vgl. Tangl a. a. 0. 767) beschriebenen Fälle davon,
ein Entschädigungsversprechen König Ludwigs VII. für Notre
Dame in Paris, kommt dann auch der Rechtsbedeutung nach
ganz auf die Hauptfunktion des Kerbholzes als „Geständnis-
urkunde" (Gmür 149) hinaus — man sieht die beiden Seiten
volksrechtlicher Symbolik, die Feierlichkeit und den praktischen
Realismus, gleichsam sinnlich sich zusammenschließen,
Je mehr nun im öffentlichen Recht und nach dessen Vorbild
im herrschaftlichen (geistlichen, grundherrlichen, städtischen)
Privatrecht die römisch-rechtlichen Urkundenformen die Symbole
verdrängen, ein desto zäheres Leben führen diese in den wirt-
schaftlich und gesellschaftlich stabileren Kreisen des ländlichen
genossenschaftlichen Rechts. Während die Verbindung von
Holzurkunde und bäuerlicher Kultur zu auffällig ist, um über-
sahen zu werden, nimmt es eigentlich wunder, daß abgesehen
von gelegentlichen Ansätzen (z. B. Gmür 71) der Begriff des
Genossenschaftsrechts in der neueren einschlägigen Literatur
verhältnismäßig so wenig herangezogen worden ist. Er ver-
diente m. E. im Mittelpunkt der ganzen Symbolforschung zu
stehn, und in ihm liegt vor allem auch die tiefere Begründung
der Einheit von Rechtssymbol und Marke: Die Marke, das durch
die äußere Gestalt nicht oder kaum erklärte Konventional-
zeichen ist noch viel mehr als das sich vielfach selbst erklärende
Symbol die Sprache engster, in ihrem ganzen geistigen Daseia
Rechtsgeschichte. 13t
verwandter Gruppen, nicht nur weil sie außerhalb solcher nicht
mehr verstanden wird, sondern auch weil die Vermehrung ihrer
Zeichen über enge Grenzen hinaus den Vorsprung vor der ge-
sprochenen und geschriebenen Sprache wieder aufhöbe.
Zu unmittelbarer Veranschaulichung gelangt diese Abhängig-
keit der einzelnen Marke von einer Gesamtheit ähnlicher z. B. in
den sog. Loshölzern und Einlegetesseln, deren Gesamtheit sozu-
sagen ein Spiel mit fester Zahl von Einheiten bildet (Gmür 72ff.,
122f. und Tafel XIII, XXVIII), oder noch besser in den Kehr-
und Gemeindetesseln, wo ein einziger Holzkörper das Verzeichnis
dersämthchen Einzelmarken trägt (Gmür 83 ff. und Tafel XVIII).
Wie Amira (Zeitschr. der Savigny-Stiftung 38, 447) die
Schweizer Mitteilungen G.s besonders für Skandinavien ergänzt
hat (vgl. auch das von G. nicht angeführte steirische Holzmarken-
verzeichnis des 18. Jahrhunderts, Ost. Weist. 6, 717 ff.), möchte
ich mir erlauben auf die Erhaltung des Symbol- und Marken-
wesens in dem so konservativen englischen Recht mit einem
Wort einzugehen. Bekannt ist zunächst der bis in die Neu-
zeit beibehaltene Gebrauch der Kerbhölzer (tallies) im Rech-
nungswesen der Zentralbehörde, des Exchequer, als scheinbarer
Widerspruch zu dem vorhin Ausgeführten vielleicht erklär-
bar durch die starre Form der Abrechnung mit dem festen
Kreis der ländlichen Grafschaftsbeamten. (Sehr häufigen grund-
herrlichen Gebrauch der Kerbholzrechnung zeigen z. B. auch
meine Bad. Weist. 1, 1, 59 n. 1, 61 n. 2, 70 § 24, 225 § 7, 336 § 13;
die kerfer des Holzgedingweistums von Wevelinghoven 1500,
Weist, der Rheinprov. 2, 1, 249f., 255, sei es daß sie von Baum-
zeichen [Aubin 249 n. 5] oder Rechnungshölzern genannt sind,
bezeugen in beiden Fällen Markenrecht.) Weniger bekannt ist,
daß in einem der gebräuchhchsten englischen Worte für „Be-
zeichnung", „bezeichnen", earmark, noch heute das Andenken
des häufigsten mittelalterlichen Viehzeichens, des Kerbens der
Ohren, fortlebt; die frühesten Belege des neuenglischen Aus-
drucks (16. Jahrhundert vgl. Bradley in Murrays Dict. s. v.)
reichen über die Jahrhunderte die Hand der mearc, mit der in
den Gesetzen der Angelsachsen (Dunsaete 1, um 935? Lieber-
mann 1, 374, dazu 2, 310, 583) auch bei unterbrochener Spur-
folge Eigentum an Vieh bewiesen wird. Und was die Marken-
verwendung bei Land- und Flurteilung in der Art der oberdeutschen
9*
132 Literaturbericht.
Loshölzer und niederdeutschen Kaveln betrifft (Gmür 73), macht
mich Felix Liebermann freundlichst auf eine merkwürdige Mit-
teilung (G. L. Gomme, The village Community [London 1890] 165)
über die Flurteilung des Manors Aston (Oxfordshire) aufmerksam:
Die Gemeinweide zerfiel in 16 (im Lauf der Zeit vielfach unter-
geteilte) gleiche Anteile, deren Marken aus wagerechten Parallel-
schichten in der Zahl ihrer Reihenfolge bestanden, und nach
diesen Marken (also doch wohl auf Loshölzern) wurde die nur
vier Anteile zählende Wiese jährlich verlost; im Nachbarmanor
Bampton begegnen als Losmarken außer einer komplizierteren
Strichfigur („zwei Striche rechts und einer darüber") auch bild-
lichere: ,, Bratpfanne", „Krähenfuß", „Bogen".
Diese wenigen Bemerkungen geben vielleicht besser als ein
ausführliches Referat eine Vorstellung von dem Reichtum an
Nachrichten und Anregungen, den G.s Buch enthält. Ihnen
auch im Gebiet des so wenig erforschten deutschen Rechts der
neueren Jahrhunderte zu folgen, würde eine ebenso wichtige als
dankbare Aufgabe sein.
Berlin. Carl Brinkmann.
Salzburger Urkundenbuch IL Band. Urkunden von 790—1199. Ge-
sammelt und bearbeitet von Abt Willibald Hauthaler 0. S. B.
und Franz Martin. Mit Unterstützung des k. k. Ministeriums
für Kultus und Unterricht und der Kais. Akademie der
Wissenschaften in Wien herausgegeben von der Gesellschaft
für Salzburger Landeskunde. Salzburg 1916. XXVII u. 756 S.,
A 1—23 S., 10 Tafeln Siegelabbildungen. Preis 24 K.
Zum Gedächtnis der 100jährigen Vereinigung Salzburgs mit
Österreich ist dieser stattliche 2. Band^) erschienen, welcher die
vollständig gedruckten Urkunden aus den Jahren 790 — 1199
enthält, soweit sie das einstige Hochstift oder das heutige Kronland
betreffen oder von den Salzburger Erzbischöfen ausgestellt sind,
während ein 3. Band die Urkunden von 1200—1246 mit Registern
bringen soll und die Veröffentlichung der Briefe und Akten-
stücke einem 4. Bande vorbehalten ist. Dagegen wurde von einer
auszugsweisen oder regestenweisen Wiedergabe von Urkunden
^) Vgl. die Anzeige des 1. Bandes von Karl Uhlirz in dieser
Zeitschrift (107 3. F. 11), 230.
Deutsche Landschaften. 133
als selbständige Nummern Abstand genommen, ebenso von der
Anführung jener Urkunden, worin die Erzbischöfe als Zeugen
oder Intervenienten vorkommen, weil seit 1866 schon das v. Meil-
lersche Regestenwerk (1106 — 1246) im Drucke vorHegt. Freilich
fallen dabei die urkundlichen Erwähnungen der Salzburger Dom-
pröpste, Äbte und sonstigen geistlichen und weltlichen Würden-
träger, sofern sie nicht in Gesellschaft der Erzbischöfe auftreten,
unter den Tisch.
Im Anhang 1 folgen auszugsweise die päpstlichen Kom-
missorien, im Anhang 2 das Verzeichnis der verlorenen Urkunden.
Daran schließen sich in Anhang 3 die Konkordanzen zum diplo-
matischen Anhang von Kleimayrns Juvavia und zu v. Meillers
Regesten. Nach einem kurzen Abschnitt, der Ergänzungen und
Berichtigungen zum Urkundenbuche bringt, folgen zehn Tafeln
mit photographischen Abbildungen von 21 erzbischöflichen
Siegeln und zwei des Domkapitels, alle in Naturgröße.
Den Beschluß bildet der Neuabdruck der wichtigen Breves
Notitiae (c. 790) nach einer neu aufgefundenen Admonter Hand-
schrift vor 1200 in der Bibliothek der gräfl. Kuenburgschen
Fideikommißherrschaft Jungwoschitz in Böhmen, nachdem der
Abdruck im 1. Band nach fehlerhaften Handschriften aus dem
Schlüsse des 13. Jahrhunderts und 15. Jahrhunderts nicht mehr
genügte.
Die musterhafte Urkundenausgabe erfolgte ganz nach dem
von Sickel geschaffenen Vorbild in der Diplomata-Abteilung der
Monumenta Germaniae. Soweit es möglich war, sind die einzelnen
Verfasser und Schreiber der Urkunden genau geschieden und
sofern ihre Namen nicht bekannt sind, was meist der Fall ist,
durch Siglen gekennzeichnet. Dazu hat Franz Martin eine
treffliche Vorarbeit: „Über das Urkundenwesen der Erzbischöfe,
1106 — 1246" im Q.Ergänzungsbande der Mitteilungen des In-
stitutes f. österr. Geschichtsforschung, S. 559 — 765, geliefert.
Mit Rücksicht darauf, daß schon in der Juvavia und in den
Monumenta Boica, ferner in den neuzeitlichen Urkundenbüchern
von Oberösterreich, Steiermark und Kärnten viel Salzburger Stoff
zum Abdruck gelangt ist, konnte verhältnismäßig nicht viel
Neues geboten werden. Von den 533 Urkunden sind nur 26 ganz
unbekannt, während 36 bisher nur auszugsweise veröffentlicht
waren. Aber es bleibt ein nicht zu unterschätzender Vorteil,
134 Literaturbericht.
daß nun auf einmal die gesamten salzburgischen Urkunden-
schätze zu übersehen sind, welche man früher aus verschiedenen
Büchern zusammensuchen mußte — noch dazu streng geschieden,
was echt und was falsch ist. Freilich haben da namentlich die
Monumenta ducatus Carinthiae, Bd. 1 — 4, hinsichtlich der zahl-
reichen Kärntner, namentlich Gurker Fälschungen reiche Vor-
arbeiten geboten, deren Ergebnissen die Salzburger Bearbeiter
einwandfrei gefolgt sind.
Es fragt sich nur, ob die Herausgeber recht getan haben,
daß sie Fälschungen — „angebliche Originale" von ihnen ge-
nannt — nicht aufnahmen, welche keinen noch erkennbaren
echten Kern enthalten, mögen sie immerhin auf den Namen
eines salzburgischen Erzbischofes lauten. Denn diese Fälschungen
sind doch für die Zeit, in der sie entstanden sind, Quellen ersten
Ranges.
Schließlich sei bezügüch der Siegelabbildungen 1, 2 und 4,
von denen nur gesagt ist, daß sie nach Gipsabgüssen in den Samm-
lungen des Geschichtsvereines in Klagenfurt gemacht sind, er-
gänzt, daß 1, das Siegel Erzbischofs Friedrich (958 — 991) auf
n. 47, 2 das Hartwichs (991—1023) auf n. 61 und 4 das Gebhards
(1060—1088) auf n. HO aufgedrückt ist. Das Siegel Hartwichs,
auch abgebildet von Richter in Mitteilungen d. Zentralkommission
f. Kunst- u. historische Denkmale N. F. 8, CXXI, ist aber eine
Fälschung, Nachbildung eines echten Siegels, was wohl im Text
zu n. 61 S. 113, nicht aber in den Erläuterungen zu Siegeltafel 1
erwähnt ist. Das einzige echte Siegel dieses Erzbischofs finden
wir auf n. 65 aufgedrückt, von dem sich bis heute ein ziemlich
großes Bruchstück erhalten hat.
Klagenfurt. August v. Jaksch.
1
Notizen und Nadiriditen.
Die Herren Verfasser ersuchen wir, Sonderabzüge ihrer
in Zeitschriften erschienenen Aufsätze, die sie an dieser Stelle
berücksichtigt wünschen, uns freundlichst einzusenden.
Die Redaktion.
Allgemeines.
Unter dem Titel Jahresberichte der deutschen Geschichte
bereiten Archivrat Dr. Loewe und Privatdozent Dr. Stimming in
Breslau eine jährlich wiederkehrende Veröffentlichung vor, welche
die wissenschaftliche Literatur je eines Jahres in sachlichen Referaten
und in systematischer Anordnung des Stoffes vorführen will. Die
einzelne Erscheinung soll möglichst in den historiographischen Zu-
sammenhang eingefügt werden, um den allgemeinen Fortschritt der
Forschung deutlich hervortreten zu lassen. Im Vordergrund wird
die politische, die Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsge-
schichte stehen, aber auch die Grenzgebiete werden berücksichtigt
werden. Genaue bibliographische Hinweise sollen auch die nicht be-
prochenen Schriften berücksichtigen. Demnächst soll der Jahrgang
1918 erscheinen. Der Jahresbericht (etwa 12 Bogen) erscheint im
Verlage von Priebatschs Buchhandlung in Breslau, Ring Nr. 58, an
die auch die Überweisung von Besprechungsexemplaren, namentlich
kleineren Schriften, Sonderabdrucken und Dissertationen, erbeten wird.
Die „Richtlinien für das Studium der Geschichte des Mittel-
alters und der Neuzeit" von AI. Meister (Münster i. W., Borgmeyer
Ä Co. 1916. 44 S. 1 M.) enthalten allerlei Ratschläge und nützliche
Winke. Aber Meister hat sich, offenbar in der Besorgnis, dem An»
iänger zuviel zuzumuten, eine Zurückhaltung auferlegt, die nun frei-
lich diese Richtlinien etwas dünn hat werden lassen. Die ziemlich
136 Notizen und Nachrichten.
kärgliche Literaturauswahl bringt neben vielem Guten einigen Ballast,
läßt aber wichtige Werke (z. B. Haucks Kirchengeschichte, überhaupt
die kirchengeschichtlichen und kirchenrechtlichen Darstellungen) bei-
seite. Neben kleinen Flüchtigkeiten stören etliche ungenaue oder
veraltete Angaben in dem Literaturverzeichnis (z. B. S. 31 f. Ritter,
Koser, Sybel; S. 37 Zeumer, Altmann; S. 40 Marcks, Meinecke, Fried-
jung; S. 42 Jahresberichte der Geschichtswissenschaft). F. V.
„Die großen Mächte" von Ranke sind jetzt auch als Nr. 5975
von Reclams Universal-Bibliothek abgedruckt; die biographische Ein-
leitung von Dr. Rudolf Schulze bleibt beim Äußerlichen stehen.
Auf die 1913 veröffentlichte 12. Auflage von H. Denzingers
Enchiridion symbolorum definitionum et dedarationum de rebus fidei
et morum (Freiburg, Herder. XXVII u. 656 S. 6,60 M., geb. 8 M.)
sei hier nachträglich kurz hingewiesen, da die von dem jetzigen Her-
ausgeber C. Bannwart zuerst im Jahre 1908 veranstaltete Neu-
bearbeitung in dieser Zeitschrift noch nicht erwähnt worden ist.
Die jedem Kirchenhistoriker vertraute wertvolle Sammlung der kirch-
lichen Glaubensentscheidungen setzt mit den verschiedenen Überliefe-
rungen des Apostolikums ein und schließt mit dem Modernisteneid
von 1910. Sie ist durch ein alphabetisches Namen- und Sachverzeichnis
und einen Index systematicus rerum, quae cum dogmate cohaerent (darin
die für den Historiker besonders wichtigen, übersichtlich gegliederten
Abschnitte Ecclesia und Romanus Pontifex!) für den Handgebrauch
bequem zugerichtet.
Durch die gediegenen Beiträge eines erlesenen Stabes von Mit-
arbeitern, die der hochverdiente Herausgeber der „Zeitschrift für
Kirchengeschichte" B. Beß unter seiner Fahne gesammelt hat, wird
das für weitere Kreise bestimmte, vornehm ausgestattete Sammel-
werk „Unsere religiösen Erzieher, Eine Geschichte des Christentums
in Lebensbildern" (2. Aufl. Leipzig, Quelle & Meyer) auch für den
gelehrten Leser und weit über das Gedächtnisjahr der Reformation
hinaus seinen Wert behalten. Wie der Untertitel „Von Luther bis
Bismarck" andeutet, ist der nationale Gedanke entschieden, wenn
auch mit weiser Zurückhaltung betont. Neben den feinsinnigen Auf-
sätzen von L. Zscharnack über die Religion unserer Klassiker und
dem von W. Herrmann über die erziehliche Kraft der Religion, dem
kraftvollen Bilde der religiösen Persönlichkeit Bismarcks von O. Baum-
garten sind für den Historiker vor. allem die aus gründlichster Ver-
trautheit mit dem Stoff und schöpferischem Einleben in die geschicht-
liche Umgebung erwachsenen Lebensbilder Zwingiis (von W. Köhler)
und Calvins (von B. Beß) hervorzuheben, die sich zu einer Schweize-
rischen Reformationsgeschichte von eigenartigem Reiz ergänzen. Die
Allgemeines. 137
Schilderung der religiösen Eigenart Luthers durch Th. Kolde ist
schon 1908 erschienen und in geschichtlicher Hinsicht durch ein dem
seitherigen Fortschritt der Luther-Forschung gewidmetes Nachwort
des Herausgebers ergänzt worden. Die Führer des Pietismus, Spener,
Francke und Zinzendorf, wurden von O. Uttendörfer, Schleier«^
macher von dem verstorbenen O. Kirn und in neuer Bearbeitung
von H. Mulert, Wichern von F. Mahling in ebenso gründlicher wie
anziehender Weise behandelt. P. Kalkoff.
Zu den allerwertvollsten wissenschaftlichen Früchten der Kriegs-
jähre gehört die Schrift Karl Ho 11s „Die Bedeutung der großen Kriege
für das religiöse und kirchliche Leben innerhalb des deutschen Prote-
stantismus" (Tübingen, Mohr. 1917. 129 S.). Sie ist ausgezeichnet
durch tiefe Kenntnis der Quellen, darunter sehr entlegener und bisher
kaum beachteter Schriften, scharfe Prüfung der Gedankengänge,
kraftvollen konstruktiven Aufbau der großen durchgehenden Rich-
tungen und hohe Prägnanz der Darstellung. Unsere Anschauung vom
geistigen Leben Deutschlands nach dem Dreißigjährigen Kriege wird
sehr bereichert. Eine so starke Persönlichkeit wie der Rostocker Theo-
loge Großgebauer wird fortan nicht mehr übersehen werden und das
landläufige Urteil über die Erstarrung der lutherischen Orthodoxie
nicht mehr wiederholt werden dürfen. Auch in ihren Kreisen reifte
„ein gesteigertes Selbständigkeitsbewußtsein des Einzelnen" heran, das
den geistigen Aufschwung des 18. Jahrhunderts mit vorbereiten half.
— Der zweite Teil der Schrift behandelt die religiöse Wirkung des
Zeitalters der Befreiungskriege. Stark betont wird, wie der Glaube
der Aufklärung an den „guten Menschen" erschüttert wurde durch
die Wucht der Erlebnisse, wie aber zugleich die während des 18. Jahr-
hunderts überwiegend einheitliche Frömmigkeit des Volkes durch den
Neuaufschwung des Glaubenslebens im Kriege einen tiefen Riß er-
hielt, der sich dann auf das politische und gesellschaftliche Gebiet in
den Parteiungen der Rechten und Linken fortpflanzte. Die Urteile
des der positiven Richtung zuneigenden Verfassers werden auch den
Andersdenkenden anregen und innerlich beschäftigen. „Die Kriege'%
so schließt er, „haben die bestehenden theologischen Gegensätze nie
aufgehoben, sondern eher vertieft und zu den vorhandenen neue hinzu-
gefügt. Das war nicht in jeder Hinsicht ein Schade." M.
Als Sonderabdruck aus dem Novemberheft der Internationalen
Monatschrift 1917 sind die Gedenkworte, die Ed. Spranger dem preußi-
schen Ministerium der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten bei
Gelegenheit seiner Jahrhundertfeier am 3. November 1917 widmete,
erschienen. Spranger war der Berufenste, um in einem trotz seiner
Kürze überaus gehaltvollen Rückblick das Werden und die Wand-
138 Notizen und Nachrichten.
lungen des Ministeriums in einer zusammenfassenden Rückschau zu
umschreiben. Sind auch jetzt noch nicht die Alcten erschlossen, welche
dessen Entwicklung erst im einzelnen zu verfolgen gestatten, so dürfte
Sprangers Abhandlung, die sie in der bei dem Verfasser bekannten
weitblickenden Art in den allgemeinen Gang der Dinge einordnet,
überall die entscheidenden Gesichtspunkte herausgehoben haben, die
■für die weitere Forschung maßgebend sind. Es ist, zumal da jetzt
die Veränderung aller politischen Verhältnisse die mit Wilhelm v. Hum-
boldt beginnende Epoche der preußischen Unterrichtsverwaltung wohl
endgültig abgeschlossen hat, zu erwarten, daß das Material für eine
umfassendere geschichtliche Darstellung und Würdigung zugängig
werden wird. F.-K.
R. Passow, Die grundherrschaftlichen Wirtschaftsverhältnisse
in der Lehre von den Wirtschaftssystemen (Jahrb. f. Nationalökonomie
112 (1919), 1 — 14) gibt kritische Bemerkungen zur wirtschaftsgeschicht-
lichen Begriffsbildung. Er wendet sich insbesondere gegen die Auf-
fassung, die bei der Gegenüberstellung von „Eigenwirtschaft" und
„Tauschwirtschaft" stehen bleibt, und stellt als Gegensatz zur Eigen-
wirtschaft den Begriff „Bezugswirtschaft" auf als „Bezeichnung für
alle Arten individualistischer Wirtschaftssysteme, in denen neben
€igenwirtschaftlicher Gütergewinnung ... in großem Umfange Güter
und Dienste aus fremden Wirtschaftseinheiten . . . bezogen werden".
Aus dem Bändchen 91 der Sammlung „Aus Natur und Geistes-
welt", in welchem A. Luschin von Ebengreuth 1906 „Die Münze
als historisches Denkmal sowie ihre Bedeutung im Rechts- und Wirt-
schaftsleben" mit der nur ihm eignenden Sachkunde behandelt hatte,
soll jetzt in der zweiten Auflage ein kleiner, für die weitesten Kreise
der Geschichtsfreunde bestimmter Grundriß der Münzkunde wer-
den, als dessen erster Teil die im ganzen verkürzte, in einigen Punkten
aber auch bereicherte und um ein kurzes Kapitel über „Münzfunde"
vermehrte Luschinsche Arbeit vorliegt: „Die Münze nach Wesen,
Gebrauch und Bedeutung". Leipzig, Teubner 1918. 102 S. Den
speziellen Teil dürfen wir von Prof. Buchenau in München bald er-
warten. E. S.
W. P. C. Knüttels Verzeichnis der Sammlung der kleinen
Schriften, die sich im Besitze der königlichen Bibliothek im Haag
befinden, hat mit dem Erscheinen des 7. und 8. Teils einen vorläufigen
Abschluß erhalten (W. P. C. Knüttel, Catalogus van de pamf leiten-
Verzameling berustende in de koniklijke bibliotheek. Deel y und 8. 's Gra-
venhage. Algemeen landsdrukkerij. 1916. 351 u. 262 S.). Der 7. Teil
<über den vorhergehenden vgl. H. Z. 92 [1904], 552) enthält die Num-
mern 26291 bis 29764, die den Jahren 1831—1853 angehören, Teil 8
Alte Geschichte. 139
bringt reichhaltige Nachträge, die sich auf die Zeit von 1507 — 1830
verteilen. Erläuternde Anmerkungen und Verfasserverzeichnisse er-
höhen den Wert des wichtigen bibliographischen Hilfsmittels, das
freilich erst durch Beifügung eines Sachregisters der Benutzung in
wünschenswerter Weise erschlossen werden würde. H. Haupt.
Neue Bücher: Pohlig, Eiszeit und Urgeschichte des Menschen.
3. Aufl. (Leipzig, Quelle & Meyer. 1,50 M.) — Troeltsch, Die Be-
deutung der Geschichte für die Weltanschauung. (Berlin, Mittler &
Sohn. 1,80 M.) — Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Um-
risse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. I. (Wien, Brau-
müller. 20 M.) — Frdr. v. Bezold, Aus Mittelalter und Renaissance.
Kulturgeschichtliche Studien. (München, Oldenbourg. 18 M.) —
Heyer, Der Machiavellismus. (Berlin, Dümmler. 3,50 M.) — Sper-
ling, Studien zur Geschichte der Kaiserkrönung und -Weihe. (Stutt-
gart, Violet. 1,50 M.) — Ger des, Geschichte des deutschen Bauern-
standes. 2., verbesserte Aufl. (Leipzig, Teubner. 2 M.) — Luschin
V. Ebengreuth, Grundriß der österreichischen Reichsgeschichte.
2. verbesserte und erweiterte Auflage. (Bamberg, Buchner. 11 M.)
— Blesch, Frankreichs Streben nach dem Rhein. Elsaß-Lothringen
in der französischen und deutschen Politik seit dem 16. Jahrhundert.
<Basel, Finckh. 2 M.) — Festschrift zur Gedenkfeier des 50jährigen
Bestehens des histor. Vereins Brandenburg, hrsg. von Otto Tschirch.
(Brandenburg, Histor. Verein. 7 M.) — Gustav Wolf, Dietrich Schäfer
und Hans Delbrück. Nationale Ziele der deutschen Geschichtschreibung
seit der französischen Revolution. (Gotha, Perthes. 4 M.)
Alte Geschichte.
In der Zeitschrift für ägyptische Sprache 55 zeigt H. Schäfer:
Die angeblichen Kanopenbildnisse König Amenophis IV. schlagend,
daß die in Frage kommenden Krugköpfe des Amenophis Gemahlin,
Nefretete, nicht dem König selbst eignen. Ebendort veröffentlicht
derselbe Gelehrte einen Aufsatz, der äußerst förderlich ist: Altes und
Neues zur Kunst und Religion von Teil el-Amarna. Zu beachten ist
auch G. Möllers Aufsatz: Mhbr Meyaßagog wegen der guten Zu-
sammenstellung von Zeugnissen über das Volk der Msydßaqoi.
Wichtig und ergebnisreich ist der Aufsatz A. Debrunners: Die
Besiedlung des alten Griechenland im Lichte der Sprachforschung in
Neuen Jahrbb. f. d. klassische Altertum, 1918, 10.
Die Geschichte der Städte Byzantion und Kalchedon von ihrer
Gründung bis zum Eingreifen der Römer in die Verhältnisse des Ostens
von Heinrich Merle. Dissertation Kiel 1916. 96 S. — Diese Arbeit
140 Notizen und Nachrichten.
ist noch aus der Schule Stracks hervorgegangen und macht diesem
trefflichen Lehrer alle Ehre durch ihren gediegenen Fleiß. Zu einer
eigentlichen Geschichtschreibung ist allerdings das Quellenmaterial
zu dürftig. Besonders dankenswert sind da die Zusammenstellungen
am Schluß über den Handel von Byzantion, die Verfassung von Byzanz
und Kalchedon, die Prosopographie und die Regesten (S. 63 ff.). S. 50
lehnt Merle die Zugehörigkeit Byzantions zu dem von Philipp von
Makedonien gegründeten hellenischen Bund ab. Die Tatsache, daß
die von Alexander befreiten Griechenstaaten Kleinasiens dem Bunde
beizutreten hatten (Dittenberger syll.'"* 283), widerspricht dem. Avxo-
voftia und üevd'sQia waren durch die Bundesverfassung gewährleistet
(Ps. Demosth. 17, 8). Darum schlägt Merles Hinweis auf die Auto-
nomie von Byzanz nicht durch. S. 65 und 71 wird mit gewisser Ver-
wunderung die antike Überlieferung (Athen. 6, 271 b) erwähnt, wonach
die Byzantier auf ihrem Territorium Bauern hatten, deren Stellung
derjenigen der spartanischen Heloten verglichen wird. Derartige
Hörige sind im Kolonialgebiet des Ostens und Westens eine verbreitete
Erscheinung (syll. 279, 5. 282, 15. or. gr. 11, 6). Af. Geizer.
Aus dem Rheinischen Museum 74, 1/2 kommen für uns hier
in Betracht: E. Bickel: Beiträge zur römischen Religionsgeschichte.
2. Zum Cybelekult; L. Weniger: Vom Ursprung der olympischen
Spiele; B. A. Müller: Zum Ninosroman, worin viel für das Heerwesen
Wissenswertes sich findet.
Im Philologus 74,3/4 setzt P. Lehmann seine höchst dankens-
werten Cassiorstudien fort, und dann veröffentlicht W. So 1 tau: Die
echten Kaiserbiographien. Der Weg zur Lösung des Problems der
Scriptores Historiae Augustae.
Aus dem Hermes 53, H. 4 führen wir an: A. Stein: Ser. Sul-
picius Similis, der vom Zenturio zum Vizekönig von Ägypten auf-
stieg.
In den Wiener Studien 40, 1 finden sich Arbeiten von E. Groag:
Studien zur Kaisergeschichte. I. Das Pontifikalkolleg unter Trajan.
2. Die Kaiserrede des Pseudo-Aristides; A. Steinwenter: Ein Re-
skript der Kaiser Severus und Caracalla über die Privilegien des Col-
legium centonariorum in Solva; A. Gaheis: Brancatelli, der Epigra-
phiker von Amelia, ein Fälscher?
Aus der Numismatischen Zeitschrift 51 (= N. F. 11), 1 — 3 sind
zu nennen: B. Fi low: Hermesstatue auf einer Münze von Pautalia;
O. Voetter: Die Kupferprägung der Diokletianischen Tetrarchie;
W. Kubitschek: Ein Fund byzantinischer Münzen; Eine Inschrift
des Speichers von Andriake (Lykien); Zum Denarfund aus Nord-
bulgarien; N. A. Muschmow: Münzfunde aus Bulgarien; M. v. Bahr-
Alte Geschichte. 141
feldt: Nachträge und Berichtigungen zur Münzkunde der Römischen
Republik.
Im Jahrbuch des K. D. archäologischen Instituts 33, 1/2 be-
richtet A. Schulten über ein römisches Lager aus dem Sertoriani-
schen Kriege, das er in Spanien auf den wüsten Flächen Extrema-
duras — an der alten Römerstraße, die von Emirita Augusta (Merida)
über Castra Caecilia nach Vicus Caecilius und weiter nach Asturica
Augusta (Astorga) und Caesarea Augusta (Zaragoza) führte — fand
und ausgrub.
Im Archäologischen Anzeiger 1918, 1/2 veröffentlicht G. Kaza-
row einen mit vielen Abbildungen ausgestatteten, auf eigenen For-
schungen und Funden beruhenden Aufsatz: Zur Archäologie Thra-
kiens.
In den Sitzungsberichten der preuß. Akademie 1918, 43/44 ist
A. V. Harnacks Abhandlung:. „Zur Geschichte der Anfänge der
inneren Organisation der stadtrömischen Kirche" abgedruckt.
Es sei kurz hingewiesen auf den Aufsatz von F. Schneder-
mann: Zum Erweise geschichtlicher Treue bei den Evangelisten in
Neue kirchl. Zeitschrift 1918, 12.
Einen lehrreichen Aufsatz veröffentlicht P. Corssen: Paulus
und Porphyrios. 1. 1. Kor. 13, 13 im Sokrates, 7, 1/2.
Ella Heckrodt, Die Kanones von Sardika aus der Kirchen-
geschichte erläutert. Bonn, A. Marcus und E. Weber. 1917. (Jenaer
Hist. Arbeiten 8.) Xu. 128 S. — Die Verfasserin will untersuchen,
„ob sich die Kanones in die kirchengeschichtlichen Bewegungen des
4. Jahrhunderts einfügen". Diese Frage wird in nüchterner, quellen-
mäßiger Einzelerörterung durchweg bejaht. Den größten Umfang und
das größte Interesse beansprucht die Behandlung der „Translations**-
(S. 4 — 42) und besonders der „Appellations"-Kanones (S. 42—97).
Bei den letzteren wird ausführlich die allmähliche Entwicklung römi-
scher Primatansprüche und -Rechte bis ins 5. Jahrhundert verfolgt:
Die schließlichen „Errungenschaften gehen, wenn sie auch ihre Ansätze
in früherer Zeit haben, doch weit über die Beschlüsse von Sardika
hinaus. Es zeigt sich auch hier, daß die sardizensischen Kanones
durchaus in die bedeutsame Entwicklungsperiode des römischen Pri-
mats hineinpassen, der sie die Überlieferung zuschreibt." Bei der
Erörterung der Teilnahme der Nachbarbischöfe an der Bischofswahl
(S. 114 ff.) wäre der Unterschied zwischen Wahl und Weihe schärfer
zu beachten gewesen. Auf neuere Literatur wird verhältnismäßig
spärlich Bezug genommen; zu Abschnitt II hätte z. B. L. Ober, Die
Translation der Bischöfe im Altertum, Archiv f. kath. Kirchenrecht
28, 209 ff. angeführt werden können. A. Hofmeister.
142 Notizen und Nachrichten.
Als Verfasser des unter dem Namen des Hegesippus gehenden
lateinischen Geschichtswerks über den jüdischen Krieg hat eine Reihe
von Forschern Ambrosius von Mailand vermutet. Dieser Annahme
hat sich u. a. auch Vinc. Ussari angeschlossen, dem die Wiener Aka-
demie eine neue Ausgabe des „Hegesippus" übertragen hatte. Otto
Scholz hatte bereits 1909 in einer im 8. Bande von Sdraleks kirchen-
geschichtlichen Abhandlungen erschienenen Untersuchung jene Hypo-
these bekämpft und sich für die Verfasserschaft des jüdischen Kon-
vertiten Isaac, des sog. Ambrosiaster, ausgesprochen (vgl. meine Be-
sprechung in H. Z. 109 [3. Folge Bd. 13], S. 389). Ein zweiter, durch
einige wenige belangreiche Zusätze erweiterter Abdruck dieser Unter-
suchung ist dann 1913 unter dem Titel „Die Hegesippus-Ambrosius-
Frage" als Breslauer theologische Dissertation erschienen (58 S.),
die im gleichen Jahre auch als wissenschaftliche Beilage zum Jahres-
berichte der Oberrealschule zu Königshütte in unveränderter Form
Verwendung gefunden hat (Königshütte, Druck von Max Gärtner.
1913. 58 S. Programm 1913, Nr. 329). Herman Haupt.
Neue Bücher: Radermacher, Probleme der Kriegszeit im
Altertum. (Wien, Holder. 1,40 M.) — v. Lichtenberg, Die ägäische
Kultur. 2., verbesserte Auflage. (Leipzig, Quelle & Meyer. 1,50 M.)
— Ed. Schwartz, Das Geschichtswerk des Thukydides. (Bonn,
Cohen. 15 M.) — Pais, Dalle guerre puniche a Cesare Augusto. 2 voll.
(Roma, Nardecchia. 30 L.) — Eduard Meyer, Cäsars Monarchie und
das Prinzipat des Pompejus. (Stuttgart, Cotta. 24 M.) — Dopsch,
Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturent-
wicklung aus der Zeit von Cäsar bis auf Karl den Großen. I. Teil.
(Wien, Seidel & Sohn. 27 M.)
Römisch-germanische Zeit und frühes Mittelalter bis 1250.
Aus dem 1. und 2. Heft des 10. Bandes des „Mannus", das als
Festschrift zu Gustaf Kossinnas 60. Geburtstag ausgestaltet ist und
ein für die Zeit vor 1919 vollständiges Verzeichnis seiner Arbeiten
enthält, seien hier folgende Aufsätze verzeichnet: O. A Imgren, Zur
Rugierfrage und Verwandtes, der u. a. wieder die Frage aufwirft, ob
nicht doch der Name der Insel Rügen nicht slawisch sei, sondern mit
den Rugiern zusammenhänge; H. Mötefindt, Die Entstehung des
Wagens und des Wagenrades, die er auf das Scheibenrad und den
Karren zurückführt und in Norditalien (daneben vielleicht unabhängig
in Babylonien und Assyrien) suchen möchte; O. Montelius, Die
Vorfahren der Germanen, der jetzt in diesen die ersten Bewohner
Schwedens und der anderen skandinavischen Länder nach der Eiszeit
(vor ungefähr 15000 Jahren) sieht, es aber abweist, auch die Heimat
Frühes Mittelalter. US
der Indogermanen überhaupt in den Ländern der Ostsee zu suchen;
G. Wilke, Die Zahl Dreizehn im Glauben der Indogermanen.
„Inschriftensammlung zur Geschichte der Ostgermanen" von
Otto Fi e biger und Ludwig Schmidt (kais. Akad. d. Wiss. in Wien,
Philos.-hist. Ki. Denkschriften, 60. Bd., 3. Abhandl). Wien, A. Holder
in Komm. 1917. VIII u. 1/4 S. gr.-4o. 16 M. — Die Sammlung setzt
um 200 V. Chr. mit dem beim Herannahen der Skiren und „Galater**
gefaßten Volksbeschluß von Olbia ein und reicht im allgemeinen bis
zum Todesjahre Justinians (565), über das sie nur vereinzelt hinaus-
greift. Die Inschriften sind nach den Voiksstämmen geordnet: Skiren,
Bastarnen, Wandalen, Burgunder, Goten, Gepiden, Heruler, worauf
dann noch Stücke folgen, die nur im allgemeinen den Ostgermanen
zugeschrieben werden können, und schließlich solche, wo die Zuteilung
an Ostgermanen oder Westgermanen nicht entschieden werden kann.
Auch sonst bleibt noch manches unsicher: auf den einen „Egnatius
Lugius" von Narbonne (Nr. 16) hin den Stamm der Lugier (vor den
Wandalen) einzureihen, erscheint mir mindestens bedenklich. Die An-
gaben über Datierung (oder Unmöglichkeit einer solchen) fehlen zu-
weilen ohne ersichtlichen Grund. — Unter den 334 Nummern findet
sich nichts Überraschendes, aber die Sammlung des sehr zerstreuten
Materials ist zweifellos ein Verdienst, das von Germanisten und Histo-
rikern dankbar anerkannt werden wird. Daß die Herausgeber uns
nicht mit langen etymologischen Erörterungen plagen, ist nur erwünscht;
die Literatur haben sie vollständig (allzu vollständig: denn es ist viel
wertloses Zeug darunter) aufgeführt, und hier und da hat der kundige
Rud. Much eine eigene Bemerkung beigesteuert. Es wäre sehr erfreu-
lich, wenn die Westgermanen bald folgen möchten! E. Schröder.
Im Verlag von L. Hartmanns akademischer Buchhandlung in
Agram ist der erste (bis 1102 reichende) Teil einer Geschichte der
Kroaten von Ferdinand v. Sisic (mit 3 Karten. 1917. XIV und
407 S.) in deutscher Sprache erschienen, die auf besondere Beachtung
rechnen darf. Der Verfasser schildert in einer Einleitung den Schau-
platz Her kroatischen Geschichte, die prähistorische Zeit, das illyrische
und römische Zeitalter, die Tage der Völkerwanderung und geht hier-
auf auf die Periodisierung der kroatischen Geschichte ein, für welche
die Jahre 1102, 1526 und 1790 die im Gegenstand selbst begründetem
Einschnitte geben. Der vorliegende Band behandelt in 15 (bis zur
Krönung König Kolomans zum König von Kroatien und Dalmatien
reichenden) Abschnitten, die nicht alle von gleichem Umfange und
Werte sind, seinen Gegenstand in gut übersichtlicher Weise. Man
entnimmt einem Vergleich mit des Verfassers wertvollem Enchiridion
historiae Croaticae, daß Sisiö seinen Gegenstand streng kritisch be-
handelt und auf seinen wahren Gehalt hin verwertet. Von den Zitaten
144 Notizen und Nachrichten.
regen viele zur Lesung der Quellen selbst an. An einer größeren Zahl
von Stellen waren Fragen zu erledigen, über die noch jetzt Streit der
Meinungen unter den Historikern herrscht, wie über die Grenzen
zwischen den eingewanderten Magyaren und den Kroaten oder über
die bulgarisch-byzantinischen Beziehungen, über die kirchlichen Ver-
hältnisse, die Zugehörigkeit Bosniens zu Kroatien usw. Ausführlich
wird an den passenden Stellen die Frage der slawischen Liturgie be-
handelt. Wir wollen auf die Erörterung des bekannten, von verschie-
denen Historikern ganz verschieden gedeuteten, weil dunkel gehal-
tenen Angebotes Gregors VH. an den Dänenkönig Sven Estridson,
^,ihm bzw. seinem Hause ein nicht weit vom Meer abliegendes reiches
Gebiet, das feige Ketzer innehaben, zuzuwenden", noch besonders
hinweisen. Damit ist Kroatien gemeint. Für die Zeit des Investitur-
streites und den Ausgang des nationalen Königtums bringt das Buch
«ingehende und sichere Angaben.
Graz. J. Loserth.
Konrad Müller, „Ulfilas Ende" in der Zeitschrift für deutsches
Altertum, Bd. 55, will in dem Sterbebericht lesen ad disputationem
habendam contra Apollinaristas (was schon Waitz erwogen, aber
abgewiesen hatte); als Todesjahr Ulfilas kommt nach ihm mit F. Vogt
einzig 382 (nicht 383) in Frage, wozu die anderen überlieferten Lebens-
daten Ulfilas aufs beste stimmen.
In der Zeitschrift für deutsches Altertum Bd. 55 bespricht Th.
V. Grien berger „Ostgermanische Flußnamen bei Jordanes" (Scar-
niunga, Aqua nigra, lacus Pelsois, Nedao, Bolia, Auha, Gilpil, Grisia,
Miliare, Marisia, Flutausis). — J. Schwietering tritt für den christ-
lichen Ursprung des ersten Merseburger Spruches ein. — Die Wen-
dung „Nu zuo des der neve si!" (Meier Helmbrecht, Ottokars Reim-
chronik), „die nur fürs oberdeutsche Österreich belegt" ist und „zu-
dem verhältnismäßig junge Anschauungen und Zustände voraussetzt",
wird von L. Pfannmüller auf die Entsippung zurückgeführt. —
Rudolf Much erklärt den inschriftlich aus den unteren Rheinl^nden
überlieferten Namen einer germanischen Göttin Vagdavercustis als
wagda-werkustiz = virtas militaris. — E. Schröder („Otfrid beim
Abschluß seines Werkes") sieht in den Versen I 1,31 ff. eine Anspie-
lung auf die Anerkennung der slawischen Kirchensprache durch Ha-
drian II. im Frühjahr 868 und wertet das als Beleg für die Annahme
von der damals erfolgten Abfassung des Werkes. — L6on Polak legt
einen II. sagengeschichtlichen Teil von „Untersuchungen über die
Sage vom Burgundenuntergang" vor.
Die Abhandlung über „Althochdeutsch und Angelsächsisch",
die W. Braune in den „Beiträgen zur Gesch. d. dt. Sprache u. Lite»
Frühes Mittelalter. 145
ratur" 43 (1918), 361—445 veröffentlicht, darf auch von dem Histo-
riker nicht übersehen werden. Die Untersuchung des christlichen
Wortschatzes der ahd. Sprache führt den Verfasser dazu, eine von
England aus durch die angelsächsische Kirchensprache beeinflußte
jüngere Schicht (Fulda!) von der älteren, süddeutsch-rheinischen zu
scheiden. Bei einzelnen Begriffen haben die in Süddeutschland kirch-
lich umgeprägten vorchristlichen Ausdrücke die entsprechenden angel-
sächsisch-fränkischen Worte verdrängt, bei anderen (wie „heilig") ist
umgekehrt der angelsächsische Sprachgebrauch durch die Missionare
des 8. Jahrhunderts nach Deutschland übertragen worden und dort
zur Alleinherrschaft gelangt. Die christliche Umprägung der heid-
nischen Festnamen „Ostern*' und „Jul" schreibt Braune in eingehen-
der Begründung der englischen Kirche zu. Er lehnt damit für „Ostern"
Kluges Herleitung aus dem Gotischen ab. Auch „Kirche" sei nicht
durch gotische Vermittlung zu den übrigen Germanen gekommen,
vielmehr müsse mit Stutz die Heimat des deutschen und des eng-
lischen Wortes für Kirche am Rhein (4. Jahrhundert) gesucht werden;
gleiches gelte für „Bischof", und das germanische Wort „Heide"
sei zuerst von den Angelsachsen nach 600 für gentilis, ethnicus, paganus
gebraucht worden". Zum Schlüsse sucht Braune, vielfach an A. Doves
Untersuchungen anknüpfend, auch für theotiscus die Herkunft aus
England zu erweisen. J. Grimms Annahme eines gemeingermanischen
*^iudiska verwirft Braune; von dem nur einmal belegten got. ^iudiskö
müsse ahd. diutisc, ags. ^eodisc „seiner Entstehung nach vollständig
getrennt werden". Eine ausreichende Begründung wird man hier ver-
missen. Für die Bezeichnung der deutschen Sprache als theotisca
sucht Braune, einer Vermutung Doves folgend, in der Umgebung des
Bonifatius die Heimat. Er verwirft dabei Doves Annahme, daß der
Name für die deutsche Gemeinsprache „zunächst in deutscher Zunge"
ausgebildet worden sei; man müsse „von einem deutschen thiudisc
als Grundlage" völlig absehen und die Einführung der Bezeichnung
theodisca lingua in Deutschland dem Bonifatius zuschreiben. Die Be-
merkungen über das älteste Zeugnis für theodisce (S. 442f.) seien be-
sonders hervorgehoben. Aber die ganze Untersuchung ladet Historiker
und Germanisten zu erneuter Beschäftigung mit diesen Fragen ein.
F. V.
In einer eingehenden Besprechung von Caspars Buch „Pippin
und die römische Kirche" (Götting. Gel. Anzeigen 1918, 401 — 425)
kommt A. Brackmann wie Caspar zu dem Ergebnis, daß die Ur-
kunde von Kiersy als Garantievertrag aufzufassen sei, hält aber gegen-
über Caspars Ablehnung an der Anschauung W. Sickels fest, daß die
Urkunde in der Form der römischen und nicht der fränkischen Ver-
iragsurkunde abgefaßt worden sei. Pippins politische Haltung und
Historische Zeitschrift (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd. 10
146 Notizen und Nachrichten.
Fähigkeiten möchte Brackmann günstiger beurteilt wissen, als es
durch Caspar geschehen ist.
Im Archiv für slawische Philologie Bd. 37, 1. u. 2. Heft prüft
L. Stein berger („Wandalen = Wenden") die angeblichen Belege
für die Gleichsetzung der Vandalen und Wenden (mit eigenen Beob-
achtungen für die von ihm vor 805 datierten Wessobrunner Glossen);
als ältester bleibt das Glossar Salomos (II. oder III.) von Konstanz
bestehen.
„Ein mittelirisches Lobgedicht auf die Ui Erhart von Ulster**-
und ihren König Aedmar Domnaill (993 — 1004) hat Kuno Meyer
in den Sitzungsberichten der preußischen Akademie der Wissenschaften
(Berlin 1919, 5) mit Übersetzung herausgegeben.
Der Aufsatz von Emil Gold mann, „Tertia manus und Inter-
tiation im Spurfolge- und Anefangsverfahren des fränkischen Rechtes.
Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Fahrnisprozesses" in der
Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanist. Abt.
Bd. 39 tritt unter eingehender Erörterung der einschlägigen Stelle der
Lex Salica für die Sequestrationstheorie ein. — Aus demselben Bande
seien ferner die „Studien zur Geschichte des deutschen Arrestprozesses,
Der Fremdenarrest" von Hans Planitz und die Bemerkungen über
„Das älteste Breisacher Stadtrecht" von F. Beyerle hervorgehoben..
Die „Beiträge zur Geschichte der Predigt und des religiösen
Volksunterrichts im Elsaß während des Mittelalters" von L. Pfleger
im Historischen Jahrbuch der Görres-Gesellschaft Bd. 38, 4. Heft
gehen besonders ausführlich auf die merowingisch-karolingische Zeit
und die Missionspredigt ein (namentlich auf Cod. Weissenburg. 75 in
Wolfenbüttel); daneben besprechen sie „Die Predigt gegen den Islam'*^
und „Zeugnisse und Nachrichten für die Predigttätigkeit in elsässischen
Städten vom 13. bis 15. Jahrhundert".
In „Westfalen, Mitteilungen des Vereins für Geschichte und
Altertumskunde Westfalens und des Landesmuseums der Provinz
Westfalen", 9. Jahrg., Heft 2 u. 3 (1918) gibt Klemens Löff 1er einen
Überblick über „Die Anfänge des Christentums im späteren Bistum
Münster"; bei Markloh, dem Ort der alten sächsischen Landesver-
sammlung, denkt er in erster Linie an Lohe bei Nienburg am linken
Weserufer.
Im 2. Teil seiner „Fuldensia" handelt Edmund E. Stengel im
Archiv für Urkundenforschung Bd. 7 eindringend und sorgsam „über
die karolingischen Kartulare des Klosters Fulda", indem er in großen
Zügen die Gliederung sowohl der erhaltenen Kartulare wie der Kar-
tularauszüge Eberhards aufzeigt. Wenn wirklich für die geplante
Neuausgabe des Codex Laureshamensis die Absicht besteht, unter Auf-
I
Frühes Mittelalter. 147
lösung von dessen geographischer Gliederung „ein auf der chronologi-
schen Reihenfolge aufgebautes modernes Urkundenbuch herzustellen**,
so halten wir das für recht bedenklich, weil dann doch die alten Drucke
daneben stets unentbehrlich bleiben würden.
Im Historischen Jahrbuch der Görres-Gesellschaft Bd. 38, 4. Heft
sucht F.J.Bendel (,, Studien zur ältesten Geschichte der Abtei Fulda")
mit ganz wilden, methodisch unzulässigen Vermutungen die bisherige
Wertung von Eigils Vita Sturmi zu erschüttern, die nach ihm sogar
ein Werk Otlohs aus dem 11. Jahrhundert sein könnte (!!); er be-
streitet auch, ohne zu tiberzeugen, die Entstehung der sog. Chartula
s. Bonifatii oder Fuldaer Grenzbeschreibung noch im 9. Jahrhundert.
A. H.
Alphons Dopsch, „Das Capitulare de Villis, die Brevium Exempla
und der Bauplan von St. Gallen" (dazu ein Nächtrag: „Nochmals der
Bauplan von St. Gallen" mit Stellungnahme zu Hugo Grafs kunst-
geschichtlicher Erklärung) verteidigt in der Vierteljahrschrift für
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Bd. 13 namentlich gegen Baist seine
Verweisung des Cap. de villis in die aquitanische Königszeit Ludwigs
des Frommen und seine Darlegungen über die Brevium exempla; den
Bauplan von St. Gallen möchte er mit der großen Klosterreform Lud-
wigs des Frommen von 816 — 817 und damit ebenfalls mit südfranzö-
sischen Einflüssen in Verbindung setzen. — Ebendort behandelt Mar-
garete Merores „Die venezianischen Salinen der älteren Zeit in ihrer
wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung" (etwa vom 10. bis zum
Ende des 12. Jahrhunderts). Frhr. H. v. Minnigerode polemisiert
in „Bemerkungen zu den Kölner Burggrafenfälschungen" gegen die
Kritik der Untersuchung Beyerles durch Luise von Winterfeld. Ernst
Mayer, „Zum frühmittelalterlichen Münzwesen und der angeblichen
karolingischen Bußreduktion" will „eine neue und dabei überaus ein-
fache Lösung" vorlegen, „nach der es möglich sein wird, von einer
fast vollständigen Stabilität der Münz- und Wertverhältnisse aus-
zugehen". Er sucht von den angelsächsischen Münzverhältnissen aus
„ein entscheidendes Licht" auf das fränkische Münzwesen fallen zu
lassen, nimmt für die karolingische Zeit eine Goldsilberrelation von
1 : 12 an, leugnet eine Reduktion der Bußsätze und „die angebliche
Schöpfung eines eigenen karolingischen Pfundes", während man viel-
mehr zu keiner Zeit vom römischen Pfund abgewichen sei; nur seien
in der Tat in der Zeit Pippins und Karls des Großen die Denare all-
mählich wieder etwas schwerer ausgeprägt worden.
In einem weiteren „Beitrag zur Entstehung der sog. Formular-
sammlung von St. Denis" („Zum Briefwechsel Einhards und des hl.
Ansegis von Fontanelle [St. Wandrille]", in der Historischen Viertel-
10*
148 Notizen und Nachrichten.
Jahrschrift XVIII, 1916/18, 4. Heft) behandelt M. Buchner mit
ebensowenig Erfolg, wie früher andere Stücke derselben Sammlung
(vgl. H. Z. 114, S. 667; 117, S. 349 u. 524; 119, S. 327) die Nr. 17,
die er ohne durchgreifende Gründe als Brief des Abts Ansegis von
Fontanella (822 — 833) an Einhard ansieht. Selbst wenn man die zu-
nächst ansprechende, aber keineswegs notwendige Beziehung des
Schreibers zu Fontaneila annimmt — daneben kommt z. B. Jumi^ges
in Betracht — , zwingt nichts, gerade an Ansegis zu denken.
Die Arbeit von Artur Schönegger S. J. über „Die kirchen-
politische Bedeutung des Constitutum Constantini im früheren Mittel-
alter (bis zum Decretum Gratiani)" in der Zeitschrift für katholische
Theologie Bd. 42 (1918) will mit allzu weitgehender Skepsis nach-
weisen, daß „der falschen Urkunde für die kirchenpolitische Ent-
wicklung des frühen Mittelalters nicht die Bedeutung zukommt, die
ihr von der Forschung in traditioneller Weise beigelegt wurde"; auch
ohne sie „würde die kirchenpolitische Entwicklung den Lauf genommen
haben, wie er uns in dieser Periode vor Augen tritt". Erst Leo IX.
habe sie „bestimmt und zielbewußt" zu praktischen Zwecken heran-
gezogen, und erst die Aufnahme in das Decr. Grat, als Palea (D. 96
c. 14) habe ihr Ansehen gefestigt und ihr autoritativen Einfluß ver-
schafft.
Aus der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Bd. 14 (1918) sind an dieser Stelle folgende Arbeiten zu verzeichnen:
Philipp Heck weist „Die Ministerialentheorie der Schöffenbaren" zu-
rück, die vielmehr im Sachsenspiegel durchaus als Freie gedacht seien;
der Ausdruck „schöffenbarfrei" komme in dieser Form bei Eike nicht
vor. Robert Endres behandelt fördernd, aber etwas knapp und fast
rein wirtschaftsgeschichtlich „Das Kirchengut im Bistum Lucca vom
8. bis 10. Jahrhundert" (zu den Quellen ist nachzutragen der 1910
erschienene 1. Band des Regesto del Capitolo di Lucca von P. Guidi
und O. Parenti). — Ernst Mayer, „Zur Hundertschaft und Zehnt-
schaft", polemisiert gegen Claudius Frhrn. v. Schwerin, und Fedor
Schneider knüpft an den 4. Band von L. M. Hartmanns Geschichte
Italiens im Mittelalter einzelne Ausführungen „Zur Geschichte der
Ottonen", in denen er besonders gegenüber Hartmann die Umwand-
lung des Urteils über Otto III. und seine Regierung auf Grund der
Forschungen von Halphen und Bloch zum Ausdruck bringt.
„Fünf unbekannte Urkunden Heinrichs III. und IV.", betr.
Landschenkungen an königliche Ministerialen, hat Hans Pregler aus
einem Kopialbuch des Klosters Michaelsberg bei Bamberg in der
Archivalischen Zeitschrift 3. F., 1. Bd. veröffentlicht; für das Itinerar
Heinrichs IV. wichtig ist die letzte, vom 18. Juli 1068, Botfeld.
Frühes Mittelalter. 149
In der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte
39, kanonist. Abt. 8 untersucht W. Levison „eine angebliche Urkunde
Papst Gelasius' II. für die Regularkanoniker" (1118 — 19), die er wegen
der Beziehungen ihrer Grußformel zu der Schrift Letberts von St.
Ruf US bei Avignon (f 1110 oder Uli) zum Preise des Augustiner-
ordens als eine freilich unerklärbare Fälschung betrachtet. Auch auf
die Abhandlung von R. Kost 1er, „Consuetudo legitime prescripta.
Ein Beitrag zur Lehre vom Gewohnheitsrecht und vom Privileg"
(ebendort) ist hier hinzuweisen.
Auf die „Kunstgeschichtlichen Untersuchungen über die Eulalios-
Frage und den Mosaikschmuck der Apostelkirche zu Konstantinopel"
von Nikos A. Bees im Repertorium für Kunstwissenschaft Bd. 39
und 40 sei hier besonders wegen darin enthaltener Untersuchungen
zur Genealogie des byzantinischen Kaiserhauses der Komnenen auf-
merksam gemacht.
Der Versuch von L. Rieß, seine Aufstellungen über „Die treuen
Weiber von Weinsberg** zu verteidigen (Histor. Vierteljahrschrift 18,
1916/18. 4. Heft), wird von R. Holtzmann (ebenda, vgl. H. Z. 117,
S. 525) entscheidend zurückgewiesen.
„Ein neuer Versuch zur Erklärung des Carmen V. (Nocte qua-
dam usw.) des Archipoeten" von K. Schambach in den Annalen
des histor. Vereins für den Niederrhein 102 (1918) nimmt, Schmeid-
lers Darlegungen weiterführend, an, daß dieses Gedicht am 18. Nov.
1164 auf dem Hof tage zu Bamberg in Gegenwart Reinaids von Köln
und des Pfalzgrafen vorgetragen worden sei. — Zu Archipoeta VII, 11
schlägt M. H. Jellinek in der Zeitschrift für deutsches Altertum
Bd. 55 die Lesung at Yrus statt atyrus vor.
„Die Neuordnung des Reichsfürstenstandes und der Prozeß
Heinrichs des Löwen" wird aufs neue von Richard Mo eller in der
Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 39
(1918) behandelt. Während ihm in der einleuchtend begründeten Ab-
lehnung der Fehrschen Unterscheidung eines doppelten Fürstenbegriffes
im Sachsenspiegel durchaus zuzustimmen ist, bleibt es bei dem Ver-
such, die reichsrechtliche Schaffung des jüngeren Reichsfürstenstandes
anläßlich des Prozesses Heinrichs des Löwen durch ein sowohl zeitlich
und örtlich, wie inhaltlich ganz fest bestimmtes Weistum (zu Kaina
August 1179) genau festzulegen, doch bei öfter gewiß diskutablen
Vermutungen. Im übrigen finden sich recht gute Beobachtungen;
daß die Übergangszeit in der Entwicklung vom älteren zum jüngeren
Reichsfürstenstand im wesentlichen vor, nicht nach 1180 lag, ist zweifel-
los richtig. Aber der Hallersche Text der Geinhäuser Urkunde, den
150 Notizen und Nachrichten.
Moeller zugrundelegt, ist wohl noch nicht der endgültige (vgl. H. Z.
118, S. 156), und in der Quellenkritik möchte ich Moeller, der Arnold
und mit Recht auch den Ursperger Chronisten nachdrücklich heranzieht,
nicht immer folgen. Zu Kaina kam nach ihm nur das landrechtliche
Verfahren zum Abschluß, in dem iehnrechtlichen, dessen erste beiden
Termine mit dem des landrechtlichen zusammenfielen, wurde der
Spruch erst zu Würzburg gefällt; in ersterem waren Fürsten und
Standesgenossen (d. h. Edelfreie, nobiles), in letzterem nur Fürsten
die Urteilen Daß dem Herzog sein AUod nicht entzogen sei und die
Pegauer Annalen (mit denen andere Quellen übereinstimmen) in diesem
Punkte irren, ist nicht zutreffend; nur durch die Gnade des Kaisers
erhielt ja Heinrich zu Erfurt 1181 sein Eigengut Braunschweig und
Lüneburg zurück (Ann. S. Petri Erphesf. mai. S. 66f.). A. H.
„Die Entstehung der Vita Engelberti des Cäsarius von Heister-
bach" schildert J. Greven in den Annalen des histor. Vereins für
den Niederrhein 102 (1918) auf Grund der neuen Ausgabe von A.
Poncelet in den Acta Sanäorum Bolland. Nov. T. III; er zeigt, daß
diese ursprünglich als 4. und 5. Buch der Libri VIII miraculorum ge-
dacht war, kurz vor der Vollendung aber im Auftrage des Erzbischofs
Heinrich von Köln zu einem selbständigen dreiteiligen Werke um-
gestaltet wurde. Dieses liegt handschriftlich in zwei Fassungen vor,
von denen die zweite, kürzende, wohl sicher später als Cäsarius ist.
Die Äußerung des Cäsarius über Engelberts Tod Hom. III S. 90, 91
ist spätestens im Dezember 1225, nicht, wie Poncelet will, erst im
September 1226 geschrieben.
Die Abhandlung Eduard Eichmanns über „Die Stellung Eikes
von Repgau zu Kirche und Kurie" im Historischen Jahrbuch der
Görres- Gesellschaft Bd. 38, 4. Heft, die ihre Schlüsse auch durch
die vermeintlich von dem gleichen Verfasser herrührende Säch-
sische Weltchronik und die unbewiesene Annahme von einem späteren
Eintritt Eikes in den geistlichen Stand stützen möchte, wendet
sich gegen die Meinung, daß Eikes Gesinnung irgendwie eine anti-
kuriale oder gar antikirchliche Spitze zeige. Eichmann sucht seine
Auffassung des mit rechte im Ssp. III 54, 3 = iudicio zu verteidigen,
hält dabei aber die verschiedenen Fassungen der Sächsischen Welt-
chronik nicht genügend auseinander; er will aus der in keinem Falle
mit Eike zusammenhängenden Fassung C eine Stütze für seine Deutung
gewinnen. Für Eikes Stellung zum Wormser Konkordat ist auf Fest-
schrift für Dietrich Schäfer (Jena 1915) S. 112 ff. zu verweisen. Auch
Ssp. III 2 von den Pfaffen und Juden, welche Waffen führen und
nicht geschoren sind nach ihrem Rechte, steht nach Eichmann in
vollem Einklang mit dem kanonischen Recht seiner Zeit. A. H.
Späteres Mittelalter. 151
In „Studien zu den deutschen Münznamen" in der Zeitschrift
für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiete der indogermani-
schen Sprachen Bd. 48 spricht Edward Schröder über Scherf, Pfen-
ning, Schilling, Schatz.
Neue Bücher: Forrer, Das röm. Zabern Tres Tabernae. (Stutt-
gart, Kohlhammer. 12 M.) — Ludw. Schmidt, Geschichte der deut*
sehen Stämme bis zum Ausgange der Völkerwanderung. 2. Abt.,
2. Buch (Schluß) u. 3. Buch. (Berlin, Weidmann. 12 M.) — Peitz,
Über Diurnus. Beiträge zur Kenntnis der ältesten päpstlichen Kanzlei
vor Gregor dem Großen. I. (Wien, Holder. 5,80 M.) — Busseil,
Religioüs thought and heresy in the Middle Ages. (London, Scott.)
Späteres Mittelalter (1250—1500).
In den Franziskanischen Studien 1918, Oktober vertritt T. Den-
kinger eine neue Hypothese über die Abfassungszeit der den Zeit-
geist geißelnden Histoire de Fauvain, die bisher nach 1314 angesetzt
wurde; er weist auf die Zeit des letzten Kreuzzugs (1270) hin, —
Jak. Feldkamp stellt im gleichen Heft zusammen, was sich über
Albrecht von Beichlingen, den Sproß des bekannten Geschlechts,
als Weihbischof von Erfurt (etwa 1335—1371) ermitteln läßt.
K. Helm erinnert in Braunes „Beiträgen zur Geschichte der
deutschen Sprache und Literatur" 43 (1918), Heft 2, S. 341 ff. daran,
daß Hugo von Langenstein in seiner 1293 vollendeten Martina die
Legenda aurea des Jacobus a Voragine benutzt hat, und setzt danach
die Entstehung der Legende in das Ende der achtziger Jahre. Dieses
Ergebnis stützt (ebenda Heft 3 S. 549) Ph. Strauch durch erneuten
Hinweis auf eine Stelle des zwischen 1287 und 1291 gedichteten „Wil-
helm von Wenden" Ulrichs von Eschenbach, der gleichfalls die Legenda
aurea verwertet hat.
Dante Alighieri, La Divina Commedia. Vollständiger Text,
mit Erläuterungen, Grammatik, Glossar und sieben Tafeln hrsg. von
Dr. Leonardo Olschki, a. o. Professor an der Universität Heidelberg.
(Heidelberg, Groos. 1918. XVIII u. 640 S. Auf Dünndruckpapier,
biegsam kartoniert 12 M.). — Die Divina Commedia pflegt bei uns
in der Bearbeitung von E. Moore {Tutte le apere di Dante Alighieri,
terza ediz. Oxford 1904), in dem Textabdruck der Bibliotheca Romana
oder auch in der etwas umständlich kommentierten Ausgabe von
Scartazzini benutzt zu werden. Olschkis hübscher, handlicher Band
ist in erster Linie für Studenten der romanischen Philologie bestimmt,
wird aber gefade wegen der philologischen Zutaten auch dem Histo-
riker willkommen sein. Das Glossar hat sich bei wiederholtem Nach-
schlagen bewährt; daß es dem Anfänger stark entgegenkommt, wird
152 Notizen und Nachrichten.
man kaunl bemängeln dürfen, obwohl andererseits nicht alle der Schrift-
sprache fremden Worte (z. B. Inf. 3, 109 bragia = brace) aufgenom-
men worden sind. Der Anhang bringt eine kleine Grammatik der
Sprache Dantes (mit einem besonderen Register) und einen Abriß
der Metrik. Das Namenregister enthält viele nützliche und einige
überflüssige Erläuterungen. Dem Texte, der erheblich schöner ge-
druckt ist als in den anderen Handausgaben, sind Stichworte am
Rande, deutsche Inhaltsübersichten und Anmerkungen in klarer, nicht
zu kleiner Fraktur beigegeben. Bei den Erläuterungen hat der Heraus-
geber sich vor allem durch pädagogische Erwägungen bestimmen lassen,
die Ihn leider auch von eingehender Auseinandersetzung mit der
Danteliteratur abhielten. Eine Aufzählung der großen Darstellungen und
der wichtigsten neueren Untersuchungen über Dante wäre neben den
bibliographischen Bemerkungen S. IX f. willkommen gewesen, obwohl
die Auswahl gewiß nicht jeden hätte befriedigen können. Einige Be-
richtigungen veröffentlicht soeben A. Bassermann in der Deutschen
Literaturzeitung vom 5. April 1919. F. V.
Dantis Alagherii- de Monarchia libri III rec. Ludovicus ßertalot.
Friedrichsdorf in monte Tauno apud Francofurtum apud editorem
1918. 111p. (Vom Herausgeber für 2 M. zu beziehen, bei 6 und mehr
Exemplaren 1,60 M.) — Eine neue handliche, schön gedruckte Sonder-
ausgabe von Dantes Monarchie, die sich durch reichliche Handschriften-
benutzung empfiehlt (12 statt der 7 von Witte 1874 benutzten), wird
sicherlich vielen willkommen sein, um so mehr als nicht nur die für
1921 bevorstehende Erinnerungsfeier von Dantes Todesjahr, mehr noch
die Beziehungen der Schrift zu den heutigen Gedanken des Welt-
friedens und Völkerbundes auffordern, sie in seminaristischen Übungen
zu behandeln. Wenn der von Bertalot zuerst verwendete codex Bini
(über den er anderwärts Mitteilungen machen wird) für de Mon. nicht
gleich wertvolles Material bietet, wie die Kritiker der 1917 voran-
gegangenen Ausgabe von de vulgari eloquentia nachrühmen konnten,
so kommt doch dies Heft einem Bedürfnis entgegen, da Wittes Aus-
gabe längst vergriffen ist und eine Sonderausgabe aus Moores Gesamt-
ausgabe, die 1916, eingeleitet von einer längeren deutschfeindlichen
Abhandlung Reades über Dantes politische Theorie, in Oxford er-
scnien, mit ihren winzigen Buchstaben, bei dem Mangel jeden hand-
schriftlichen und sachlichen Apparats und hohem Preise in Deutsch-
land nicht Verbreitung finden dürfte. Bertalot bietet dankenswerte
Parallelzitate aus Aristoteles und den Scholastikern. K. Wenck.
Emil Dürr veröffentlicht im Anzeiger für Schweizerische Ge-
schichte 48, 3 einen gedankenreichen Aufsatz über die Bedeutung der
Schlacht von Morgarten (15. November 1315), die einen schon lange
Späteres Mittelalter. 153
bestehenden heimlichen Gegensatz zwischen üri, Schwyz und Unter-
waiden einer- und Habsburg-Österreich anderseits zum Ausbruch ge»
bracht und einen fast zweihundertjährigen Kampf zwischen den Eid-
genossen und den Habsburgern entfesselt hat. Wir umschreiben seinen
Hauptinhalt am besten mit des Verfassers eigenen Worten: „In der
Schlacht ... hat es sich ... für Uri darum gehandelt, seine Reichs-
freiheit zu verteidigen, für Schwyz, sie zu behaupten, und Unterwaiden
hat sich im Kampf gegen das damals über den Brünig einbrechende
österreichische Heer seine junge Reichsunmittelbarkeit gerettet.**
Weiter: „Die Schlacht . . . steht am Anfang jener großen Auseinander-
setzung zwischen dem aufkommenden Landesfürstentum und den
Kommunen, den Reichsstädten und Reichsgemeinden. Indem der
Bund von 1315 verbot, daß sich eines der drei Länder ohne Zustim-
mung der anderen beherre, war der Wille ausgesprochen, ein Landes-
fürstentum auf waldstättischem Boden fernzuhalten und ihr öffent-
liches Leben, ihre Gemeinden mit dem Grundsatz freier Selbstbestim-
mung im Rahmen der Reichsfreiheit aufzubauen." Der feudalen Ge-
walt „stellte sich die freie Einigung freier Gemeinden, das genossen-
schaftlich organisierte Staatsgebilde, entgegen, in seinem Schutz be-
haupteten sich die eidgenössischen ländlichen Demokratien und die
ihnen später sich anschließenden städtischen Republiken . . . Mit
dem Kampf um die werdende Staatsform verband sich untrennbar
der Gegensatz der Stände, die soziale Frage jener Zeit. Und die hieß:
Minderung oder Mehrung der Gemeindefreiheit, ja Behauptung oder
Untergang der gemeinfreien Schichten und besonders des gemeinfreien
Bauerntums." Die Feindschaft gegen Österreich hat sich im Lauf
der Zeit zur Reichsfeindschaft ausgewachsen und zur Trennung vom
Reich geführt, da Reich und Haus Habsburg in der Vorstellung der
Eidgenossenschaft sich identifizierten. „So haben sie sich zufrieden
gegeben mit der Gemeinfreiheit, Unabhängigkeit und Eigenherrlichkeit."
Eine eingehende, zu Buchform angewachsene Untersuchung von
Wilh. Erben hat im Archiv f. österr. Geschichte 105, 2 (Wien, Holder,
1918) die Berichte der erzählenden Quellen über die Schlacht bei
Mühldorf zusammengestellt und kritisch gewertet; weitere Auseinander-
setzungen über die in Betracht kommenden Urkunden und geschicht-
lichen Aufzeichnungen und eine geschichtliche und topographische Be-
trachtung des Schlachtfeldes sollen folgen. In der vorliegenden Arbeit
sind besprochen: 1. die gleichzeitigen Nachrichten, 2. jüngere Darstel-
I lungen aus den beteiligten Ländern, 3. fernerstehende Berichte, 4. ab-
j geleitete Darstellungen aus Böhmen und Bayern, 5. abgeleitete öster-
I reichische Darstellungen. Die betreffenden Stellen der in den drei
t ersten Abschritten geprüften Quellen, die sich als nicht abgeleitet
) erwiesen haben, werden im Abdruck wiedergegeben. Als Hauptergebnis
154 Notizen und Nachrichten.
der methodisch in hohem Grade beachtenswerten Arbeit ist festzuhalten,
daß der Wert der erzählenden Quellen recht gering ist — nicht einmal
die äußeren Vorgänge des Tages können ihnen mit Sicherheit ent-
nommen werden — und daß nur wenige als vollglaubwürdig angesehen
werden können. Mit dichterischer Ausschmückung, Zutaten, die der
Anschaulichkeit und dem Verständnis dienen sollen, auch mit der
Möglichkeit der Vermengung verschiedener verwandten Kriegsereig-
nisse bei den breiter erzählenden Quellen muß gerechnet werden.
H. Kaiser.
Für die Geschichte der deutschen Bibelübersetzung im Mittel-
alter ist eine Untersuchung von Cornelius Schröder zu beachten,
die den Nachweis unternimmt, daß der Minorit Nikolaus Cranc, der
um 1350 als einer der ersten den Versuch gemacht hat, biblische Bücher
ins Deutsche zu übersetzen, als Verfasser der in einer Prachthand-
schrift des Königsberger Staatsarchivs überlieferten Übertragung der
Apostelgeschichte nicht in Frage kommen könne (Franziskanische Stu-
dien 1918, Oktober). Wenn man somit im Ordenslande schon sehr früh
um die Verdeutschung heiliger Schriften sich bemüht hat, so darf
daraus wohl auf ein starkes Bedürfnis nach deutschen Bibeln geschlossen
werden, das die vom Süden und Westen gekommenen Ansiedler zu
befriedigen suchten.
Aus der Zeitschrift der Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte
39, German. Abt. erwähnen wir den Anfang einer längeren Abhand-
lung von Fr. Koväts über Preßburger Grundbuchführung und Liegen-
schaftsrecht im späteren Mittelalter und die Mitteilungen von Guido
Kisch über sehr beachtenswerte Schöffenspruchsammlungen, die in
einer Handschrift der Görlitzer Ratsbibliothek enthalten sind. — Im
gleichen Jahrgang der Zeitschrift, Kanonist. Abt. 8 finden sich in
Miszellenform gekleidete Bemerkungen zu Emil Göllers Repertorium
Germanicum von A. Werminghoff und Zusammenstellungen von
Joh. Dorn, aus denen hervorgeht, daß auch die Einrichtung der Ober-
höfe in das mittelalterliche Kirchenrecht übergegangen ist.
Paul Karge erbringt in der Altpreußischen Monatsschrift 55,
1 — 4 den Nachweis, daß der Gesandtschaftsbericht des obersten Or-
densspittlers Grafen Konrad von Kyburg vom Jahre 1397, der in
der neueren polnischen Literatur zur Geschichte Litauens und Wilnas
vielfach als Quelle herangezogen ist, eine polnische Fälschung darstellt,
die offenbar aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts stammt.
In den Bänden 3 — 6 (1910 — 1913) des „Archivum Franciscanum
historicum'* hatte der gelehrte Minorite P. Livarius Öliger eine Reihe
von Quellenstücken zur Geschichte der italienischen Fraticellen-Sekte
aus dem 14. und 15. Jahrhundert erstmals veröffentlicht. Die Zu-
Späteres Mittelalter. 155
sammenfassung dieser zum Teil höchst bedeutungsvollen urkundlichen
Mitteilungen in einem besonderen Bande (Documenta inedita ad histo-
riam fraticellorum spectantia. Quaracchi 1913. 208 S.) ist dankbar
zu begrüßen. H. Haupt.
In den Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benedik-
tinerordens und seiner Zweige 1918,1 — 2 handelt J. Zibermayer
kurz über die Reform von Melk, die 1418 auf Anregung Herzog Al-
brechts von Österreich durch deutsche, von Subiaco gekommene Bene-
diktinermönche vor sich gegangen ist. Die Visitation durch Nikolaus
von Cues (1451) zeigt die Melker Bewegung, die sich nicht auf kirch-
liche Wirkung beschränkt, sondern auch wirtschaftliche und wissen-
schaftliche Hebung der Ordensniederlassungen bezweckt hat, auf dem
Höhepunkt; von da an ist es wieder abwärts gegangen.
Im Historischen Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 38,4 macht
Georg Hofmann auf eine in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte
deutsche Ordensregel der Dominikanerinnen aufmerksam, die 1434
zu Nürnberg geschrieben ist und jetzt in der Bibliothek des Priester-
seminars zu Bamberg bewahrt wird.
Die Annalen des Histor. Vereins für den Niederrhein H. 100
bringen einen den Vorläufer einer größeren Arbeit darstellenden Auf-
satz von F. Schröder über den einem kleveschen Ministerialengeschlecht
entsprossenen Humanisten Arnold Heymerick (f 1490), der in seiner
Jugend von den Brüdern vom gemeinsamen Leben nachhaltig beein-
flußt, in den dreißiger Jahren beim Konzil in Basel sich aufgehalten,
dann dem Dienst der Kurie sich gewidmet und — fast ein Menschen-
alter von der Heimat entfernt — mit dem Humanismus in steter Be-
rührung gestanden hat. Die Verbindung mit der Kurie hat auch später
angehalten, da ihn während der Soester Fehde eine wichtige diploma-
tische Mission nach Rom geführt hat; nach 1460 hat er dann offenbar
der Politik gänzlich den Rücken gewandt. Für seine geistige Entwick-
lung sind die in Holland und Italien empfangenen Eindrücke von
maßgebendem Einfluß gewesen, die mehrfach sich findenden Anklänge
an Schriften Papst Pius* II. sind bei einem Familiären dieses Papstes
sicher kein bloßer Zufall. — Im Heft 102 teilt der Verfasser den Bericht
Heymericks über seine Reise über den Großen St. Bernhard (1460)
mit; es handelt sich um eine im wesentlichen didaktische Absichten
verfolgende Schrift an den Xantener Stiftsschüler Peter von Coblenz
(De successu Romani itineris).
Wilh. Oehl beschließt in der Zeitschrift für Schweizerische Kir-
chengeschichte 11,4 seine Mitteilungen über Bruder Klaus und die
deutsche Mystik mit dem Ergebnis, daß derselbe sich, was Gebets-
und Visionsleben sowie Askese anlangt, durchaus in die allgemeine
156 Notizen und Nachrichten.
Bewegung der deutschen Mystik einfügt und auch als Politiker mit
den hervorragenderen Mystikern des Mittelalters in einer Reihe steht.
Joseph Fischer entwirft in den Stimmen der Zeit 1918, Novbr»
ein Lebensbild von Hieronymus Münzer aus Feldkirch, der im Namen
Maximilians I. 1493 an Johann II. von Portugal ein Schreiben ge-
richtet hat mit der Aufforderung, Ostasien (Kathay) auf dem West-
wege aufzusuchen, und den von ihm verfaßten Abschnitten der Schedei-
schen Chronik die bemerkenswerte Karte Deutschlands hinzugefügt
hat. — Aus dem gleichen Heft sei noch die Arbeit über den Spiritualen-
führer Petrus Johannis Olivi und seine Bedeutung für das mittelalter-
liche Geistesleben von B. Jansen kurz erwähnt.
Der „Beifried" („Monatsschrift für Gegenwart und Geschichte
der belgischen Lande") 3. Jahrg., 6. Heft (Dezember 1918) bringt
einen anregenden kleinen Aufsatz von Rudolf Häpke über „Die Be-
deutung der flandrischen Wirtschaftsgeschichte". Neben der wirt-
schafts- und handelsgeschichtlichen Stellung Flanderns, 'besonders im
späteren Mittelalter, wird auch sein Platz in der allgemeinen Politik
und im Geistesleben angedeutet.
In dem hübsch ausgestatteten Werke: „Dinant. Eine Denk-
schrift bearbeitet im Auftrage Sr. Exzellenz des Generalgouverneurs
in Belgien Generalobersten Freiherrn von Bissing im Jahre 1916.
München 1918" S. 19—32, veröffentlicht Otto Cartellieri eine
übersichtliche Darstellung „Zur Geschichte Dinants"; die Zeit vor
und nach dem 15. Jahrhundert ist nur kurz berührt.
Als 1. Band einer Sammlung: „Lebensbilder aus dem Orden des
hl. Franziskus" hat Johannes B. Kißling das Leben des „Kardinal
Francisco Ximenes de Cisneros (1436 — 1517), Erzbischof von Toledo,
Spaniens katholischer Reformator" (Münster, Aschendorff, 1917, X
u. 83 S. 4 M.) aufs neue geschrieben. Unzweifelhaft das Beste an dem
Buch sind die zahlreichen mit Geschick und Geschmack ausgesuchten,
in glänzender Ausstattung wiedergegebenen, meist freilich aus anderen
Veröffentlichungen bereits bekannten Bilder. Die wissenschaftliche
Leistung des Verfassers ist gering: es wird uns vornehmlich eine poli-
tische Geschichte Spaniens zu Lebzeiten des Ximenes an der Hand
der bekannten Werke von Hefele, Ranke, Baumgarten und Häbler
geboten; das rein Biographische, der Versuch, das Werk des Ximenes
psychologisch zu erklären, tritt ganz zurück, ja man gewinnt den
Eindruck, als ob der Verfasser überhaupt kein inneres Verhältnis zu
seinem Helden zu gewinnen vermocht, als ob er nicht aus For-
schertrieb, sondern nur auf höheren Befehl diese Arbeit übernommen
habe; auf jeden Fall ist es ihm nicht gelungen, seine Leser irgendwie
auch nur für die Persönlichkeit des Ximenes zu erwärmen. Eine Be-
Reformation und Gegenreformation (1500 — 1648). 157
reicherung der Wissenschaft vermögen wir in dieser Studie nicht zu
erblicken; wenn die Arbeit lediglich als Erbauungsbuch für die An-
hänger des hl. Franciscus gedacht war, so dürfte sie ihren Zweck er-
füllen.
Halle a. S. Adolf Hasenclever.
Neue Bücher: Des Eneas Silvius Piccolomini Briefwechsel.
Hrsg. V. Rud. Wolkan. III. Abt.: Briefe als Bischof von Siena. 1. Bd.
(Wien, Holder. 25 M.)
Reformation und Gegenreformation (1500—1648).
Aus der Zahl der akademischen Festreden zum Reformations-
jubiläum seien noch folgende kurz erwähnt: O. Ritschi sprach in
Bonn, an der „ersten ev. theol. Fakultät, die von vornherein die ev.
Union als den kirchlichen Rechtsboden ihrer amtlichen Wirksamkeit
voraussetzt," über „Reformation und evangelische Union" (27 S.,
Bonn, Marcus & Weber, 1917, 1 M.), die Eigenart der beiden Konfes-
sionen, lutherischer und reformierter Protestantismus, in ihren Führern
kurz würdigend, und betonend, daß der deutsche Calvinismus zum
Unterschied vom englisch-amerikanischen die schroffe Prädestinations-
lehre von vornherein durch den Bundesgedanken (Föderaltheologie)
milderte. G. Krüger in Gießen rückte unter dem Titel „Der Genius
Luthers" das Wort Döllingers von 1872: „Hätte es keinen Luther
gegeben, Deutschland wäre doch nicht katholisch geblieben" unter
die kritische Lupe und verneint es um der Genialität der Persönlichkeit
willen (19 S., Tübingen, J. C. B. Mohr, 1917, 1,20 M.). Im württem-
bergischen Goethebund in Stuttgart sprach Joh. Haller über „Die
Ursachen der Reformation." Sie werden gefunden im Schwinden des
Glaubens an die Kirche, deren ganze Erscheinungsform, einer viel
früheren Zeit entstammend, dem neuen, höher gespannten religiösen
Bedürfnis der Welt nicht mehr genügt, Überwindung der theologisch-
kirchlichen Bildung des Mittelalters durch die profane, kritisch-ratio-
nalistische Bildung des Humanismus, in der die Laienkreise die Füh-
rung haben, endlich Unterwerfung der Kirche unter die Herrschaft
der Staatsgewalt. In gewählter Sprache, illustriert durch zahlreiche
Beispiele, werden diese drei Faktoren herausgearbeitet. Dabei wolle
man die an den Schluß gestellten Anmerkungen nicht übersehen;
sie enthalten u. a. eine etwas gar knappe Auseinandersetzung mit
Troeltsch, dessen „glänzendes Paradoxon höchstens einen gewissen
heuristischen Wert haben mag", eine sehr feine Beobachtung über den
Unterschied zwischen restitutio Christianismi und renascens Christia-
nismus, die der Nachprüfung wert wäre, und eine Ablehnung von
H. Böhmers Zurückführung der letzten Ursache der Reformation auf
158 Notizen und Nachrichten.
Luthers reformatorisches Erlebnis. Es kommt Haller darauf an, zu
zeigen, warum der Funke Luthers zündete, während er vorher so und
so oft nicht zündete trotz Gleichheit der Gedanken („das allermeiste,,
was Luther sagte und forderte, ja, eigentlich alles, war schon vor ihm
gesagt und gefordert", S. 3), daher denn auch die Reformation von
1520 (an den christlichen Adel) datiert wird. Damit entsteht eine ge-
wisse Gefahr, die Originalität der Persönlichkeit zu unterschätzen^
der Haller zwar sofort vorbeugt (S. 30 f., 43 f.), bei der aber doch die
Bedeutung gerade der Rechtfertigungslehre nicht zu ihrem vollen
Rechte kommt (doch vgl. S. 43 unten). Sie ist doch der Zentralpunkt
und auch Ausgangspunkt für alles Weitere gewesen und anders orien-
tiert als bei Faber Stapulensis; die Formel allein tut es da nicht. (44 S.,
Tübingen, J. C. B. Mohr, 1917, 1,20 M.) In der Hinsicht bietet eine
glückliche Ergänzung die Berliner Rede von K- Holl: „Was verstand
Luther unter Religion?" (ebenda, 38 S., 1,20 M.). Von dem Hinter-
grunde einer feinen Skizzierung der in Scholastik, Mystik, Renaissance
sich manifestierenden mittelalterlichen Frömmigkeit hebt sich eine
bis wirklich an das Geheimnis der Religion Luthers rührende psycho-
logische Analyse des inneren Werdens des Reformators. Der Gottes-
begriff wird in den Mittelpunkt gerückt und aus seiner kraftvollen
Lebendigkeit die Wandlung aller Vorstellungen über Religion begriffen
(scharfe Trennung zwischen Religion und natürlichem Lebenstrieb,
Abgrenzung von der Mystik, Entstehung eines neuen Ichgefühls, Ab-
leitung der Ethik aus dem Zielgedanken des Reiches Gottes, Kirchen-
begriff, Abhebung des christlichen Gemeinschaftsgedankens vom Staat,
der anderseits die Lebensbedingungen für die Möglichkeit des Reiches
Gottes schafft). Die an den Leser hohe Anforderungen stellende, ihn
dann aber auch vollauf befriedigende Rede klingt aus in den gerade
jetzt sehr zeitgemäßen, treffenden Gedanken, daß Luthers Religion
nicht spezifisch deutsche Religion ist, vielmehr den Menschen als
Menschen ergreift. — Bei dem Vortrage von F. Philippi in Münster:
„Luther und die alte Kirche" hat man den deutlichen Eindruck, daß
dem Verfasser sein Thema nicht „liegt", wie denn schon im Vorworte
gesagt wird, daß wesentlich im Anschluß an H. Böhmer und Th. Kolde
gearbeitet wurde. Das wäre ja gewiß an sich kein Schaden, wenn
nur die eingangs aufgestellte Grundabsicht, zu zeigen, daß es sich bei
Luther „nicht um einen vollständigen Bruch mit der Vergangenheit
und der Überlieferung der alten Kirche handelt, sondern nur um eine
starke Betonung und selbständige Weiterbildung von in der Christen-
heit seit lange wirksamen Strömungen und Bewegungen, so daß eine
Verständigung der Bekenntnisse auf Grundlage der allen gemeinsamen
Anschauungen und gemeinsamen Bestrebungen sehr wohl angängig
erscheint", wirklich scharf herausgearbeitet wäre. Statt dessen wird
Reformation und Gegenreformation (1500 — 1648). 159
uns nur gesagt, daß Luther „sich mehr gegen das Wie als gegen das
Was*' bei seinem Gegensatze gegen die alte Kirche wandte. Soll das
Was die gemeinsame Basis sein, so kann sie doch höchstens ganz for-
mal sein; denn Luthers Neufassung des Wie gestaltete tatsächlich
auch das Was um, wie das ja gar nicht anders geht. Philipp! sucht als
Brücke zwischen Luther und dem Mittelalter vorab die Mystik zu
werten, deren Bedeutung S. 20 aber gewaltig überschätzt ist (gerade
Boehmer hatte hier vor Überschätzung gewarnt). Ebensowenig glück-
lich ist die Ausspielung des „germanisierenden" Begriffes vom Vater-
gotte bei Luther gegen den romanisierenden Prädestinationsgott bei
Calvin, da bekanntlich Luther diesen trotz Philippi nicht nur kennt,
sondern auch „in sein System aufnimmt," wenn man diesen Ausdruck
einmal gelten lassen will. Daß Grisar „nicht mehr aus der Rolle des
wissenschaftlichen Betrachters und Bearbeiters herausfällt", kann
man, vorab nach Scheels Untersuchungen, nicht mehr sagen. (Münster^
Coppenrath, 23 S., 1 M.) — Rade sprach auf der Gießener theologischen
Konferenz über „Luthers Rechtfertigungsglaube, seine Bedeutung
für die 95 Thesen und für uns" (32 S., Tübingen, Mohr, 0,80 M.). Der
viel angefochtene Begriff der Rechtfertigung wird nach seinem negativ-
polemischen Wert (Beseitigung des Verdienstgedankens) wie nach
seiner positiven Eigenart mit der Aufgipfelung der „Freiheit eines
Christenmenschen" fein herausgearbeitet und als Voraussetzung der
95 Thesen gewürdigt, — K- Müller in Tübingen wählte sich das Thema:
„Die großen Gedanken der Reformation und die Gegenwart" (24 S.,.
Tübingen, Mohr, 0,60 M.) und rückte energisch, sich darin mit Rade
berührend, den Rechtfertigungsgedanken in den Mittelpunkt. „Das
Letzte und Tiefste bei Luther war das Ringen um die persönliche
Heilsgewißheit, d. h. um den gnädigen Gott gewesen." Die Religion
wurde aus der Sphäre des Rechts heraus ganz in die Innerlichkeit des
persönlichsten Lebens gelegt. Das wirkte dann umgestaltend nach
allen Seiten. — H. Guthe in Leipzig sprach vor dem Zweigverein des
Ev. Bundes in Löbau über „Luther und die Bibelforschung der Gegen-
wart" (41 S., Tübingen, Mohr, 1,35 M.) und konfrontierte in offener
Ehrlichkeit die moderne Bibelforschung mit Luthers Standpunkt,
seinen bekannten freien und seinen ebenso bekannten konservativen
Anschauungen. Man muß darauf verzichten, einen einheitlichen
Standpunkt bei Luther anzunehmen, er denkt vielmehr teils mittel-
alterlich, teils als Anheber einer neuen Zeit. Als letzterer verrät er
Verwandtschaft mit der Forschung der Gegenwart, vorab in seiner
Forderung der Sprachenkenntnis zum Verständnis der Bibel. Er hat
auch den Unterschied zwischen A. und N. T. und dann doch wieder
den Zusammenhang beider Testamente empfunden und im einzelnen
manches fein beobachtet. Seine bekannte Kritik ist eine religiöse.
160 Notizen und Nachrichten.
nicht eine historisch-wissenschaftliche, und trifft den Inhalt der betr.
Schriften, nicht die Frage der Entstehung u. dgl., die war für Luther
unwesentlich. Die Sicherheit des Glaubens gab ihm Kraft und Recht
freier Prüfung. Bei dem mit manchen Belegstellen ausgestatteten
lehrreichen Vortrage ist nur zu bedauern, daß nach der Erlanger Aus-
gabe, sogar der ersten Auflage, zitiert wird. — In Straßburg haben
J. Ficker und G. Anrieh gesprochen, jener über Luther 1517, nament-
lich die Hebräerbriefvorlesung heranziehend und kunstgeschichtliches
Material nutzend, in den beigefügten Anmerkungen wertvollste Belege
bietend, dieser die Gesamtgeschichte der Straßburger Reformation in
Kennzeichnung der politischen und sozialen Verhältnisse, der führenden
Persönlichkeiten, namentlich Bucers, der Originalität und Fernwirkung
vorführend. (Zwei Straßburger Reden zur Reformationsjubelfeier,
Leipzig, R. Haupt, 1918, 2,40 M.) W. Köhler.
Die sehr lesenswerten knappen Ausführungen von Peter Ras-
sow: „Luthers deutsche Kraft" (Preuß. Jahrbücher 174) rücken ener-
gisch in den Vordergrund, daß Luthers Werk, die Befreiung der christ-
lichen Religion aus der Umklammerung menschlicher Einrichtungen,
dieses sein Ureigenstes, mit dem Deutschtum direkt nichts zu tun hat.
Er hat bei drei Entscheidungen, in Worms, bei der Kirchenorganisa-
tion, in Marburg (wo aber Rassow Zwingli nicht „einen flachen Ratio-
nalisten" hätte nennen sollen) bewußt den nationalen Gedanken in
die zweite Linie gestellt, um der Religion der Menschheit allein zu
dienen. Ganz ähnlich stand es bei Friedrich dem Großen, Goethe,
Schiller, Humboldt, Kant, Fichte, Hegel, Bismarck. „Nichts falscher,
als zu sagen, Luther habe gleichsam aus nationalem Impuls die deutsche
Form des Christentums geschaffen. Nein, er hat wohl dem Christen-
tum eine neue Gestalt gegeben, aber nicht eine deutsche, sondern
€ine einfachere befreite. Und durch diese Tat hat er zugleich in der
Schatzkammer der deutschen Nation die schönsten Kleinodien nieder-
gelegt."
Die mit reichlichen Literaturnachweisen ausgestattete Rede des
Wiener Privatdozenten K. Völker: „Martin Luthers Anteil an der
Grundlegung der neueren deutschen Kultur" (Bielitz, W. Fröhlich.
39 S.) geht aus von der am Ausgang des 18. Jahrhunderts gegenüber
der Französierung einsetzenden deutschen Kulturerhebung und sucht
die aus Zitaten der damaligen führenden Geister belegte Mitschwingung
der Gedanken Luthers zu bestimmen als Einfluß seiner Persönlichkeit
auf die Kulturwerte des Staates, der Familie, Schule, Wissenschaft,
Sprache und Kunst.
Die Thd. Zahn zum 80. Geburtstag gewidmete Studie von W.
^ngelhardt über „Luther als Lehrer" (Neue kirchl. Zeitschr. 29,
Reformation und Gegenreformation (1500—1648). 161
H. 10) fußt hauptsächlich auf den Vorlesungen über den Römerbrief-
kommentar, stellt u. a. die sehr anfechtbare These auf, die sog. Scho-
llen seien nach der Vorlesung aus Entwurfszetteln ins Reine geschrieben
worden. — O. Brenner handelt ebenda in Fortsetzung seiner Auf-
sätze „Zur Geschichte von Luthers Bibelübersetzung" über die Reihen-
folge der Bibeldrucke. — In Heft 11 derselben Zeitschrift stellt E.
Körner hübsch die Urteile über Luther aus dem Munde seines Schü-
lers Erasmus Alber zusammen. Stein lein handelt über Luthers
Stimme und sein Verständnis für die Stimme; Luther verfügte bis
an sein Lebensende über eine klare ausreichende Stimme, dank einem
Verständnis für Wesen und Bedeutung der Stimme überhaupt.
Lesenswert ist der Aufsatz von A. E. Harvey: Martin Luther
in the Estimate of modern historians {American Journal of theology 22),
nur dadurch etwas beeinträchtigt, daß der Weltkrieg die Kenntnis-
nahme neuester Literatur verhindert hat. Verfasser unterscheidet,
von Ranke als der klassischen Grundlage ausgehend, einen supranatura-
listischen Typus (William Robertson) und den an Carlyle entzündeten
Typ des Kultus des großen Mannes (Treitschke, aber auch, nur vice
versa, Denifle-Weiß oder Janssen); daran schließt sich die psycho-
logische Auffassung (Köstlin, Mac Giffert, Grisar). Zur in Lamprecht
repräsentierten materialistisch-evolutionistischen Auffassung leiten
Kolde und Berger hinüber, die konservative bzw. liberale Darstellung
zeigen Kahnis, Kliefoth bzw. F. Chr. Baur und Heinr. Lang; es folgen
Ritschi und Harnack, endlich als Reaktion gegen die Modernisierung
Luthers Troeltsch.
Unter dem Titel „Luther im Spiegel seiner Jahrhundertfeier"
referiert H. Grisar in den „Stimmen der Zeit" (Bd. 96, H. 1) über
"die wichtigste protestantische Reformationsliteratur. Die Tendenz
seiner Ausführungen geht auf den Nachweis der „Zerfahrenheit der
Feiernden". Der wirkliche Luther sei nicht zu Wort gekommen u. dgl.
Das ist richtig, wenn der wirkliche Luther der Grisarsche sein soll,
was offenbar Grisar meint. Hier ist die Diskussion zwecklos, die Ver-
ständigung aussichtslos. — Genau mit derselben Tendenz, boshafte
Seitenhiebe auf ihm mißliebige Autoren und Richtungen nicht sparend,
referiert Grisar in der Zeitschrift für kathol. Theologie 1918, H. 3 u. 4
über „die Literatur des Lutherjubiläums 1917". Zu loben ist die Zu-
sammenstellung der einzelnen Schriften und Aufsätze. W. K.
Unter dem Titel „Wert und Bedeutung der Bibel 1546" führt
O. Reichert den Nachweis, daß diese Ausgabe, nicht die von 1545,
die letzte Gestalt des von Luther selbst geschaffenen und gewünschten
Bibeltextes, zumal im Neuen Testament bietet. (Theol. Studien und
Kritiken 1918, H. 2.) — K. Knoke beschreibt ebenda „Zur Geschichte
Historische Zeitschrift (120. Bd.) 3» Folge 24. Bd. 1 1
162 Notizen und Nachrichten.
der evangelischen Gesangbücher bis zu Luthers Tode" Liedersamm-
lungen mit der Bezeichnung Enchiridion an der Spitze ihres TiteK
blattes, die ihr Dasein lediglich buchhändlerischem Unternehmungs-
geist verdanken. — G. Kawerau bringt ebenda Nachträge „zu Lu-
thers Briefwechsel".
Im „Archiv für Reformationsgeschichte" Bd. 15 setzt W. Mat-
thi essen die Veröffentlichung theologischer Abhandlungen des Theo-
phrast von Hohenheim fort und bietet als Nr. 6 den ethisch sehr inter-
essanten über de fionestis utrisque divitiis, als Nr. 7 den religiös ebenso
wertvollen Über de remissione peccatorum, als Nr. 8 den über de potentia
et potentiae gratia dei, als Nr. 9 den Traktat in principio und als Nr. 10
den über de resurrectione et corporum glorificatione. Manche Gedanken
klingen ganz reformatorisch. P. Kalkoff behandelt den Dompropst
von Hildesheim, Livin von Veitheim, einen gefährlichen Pfründenjäger
und Gegner der Reformation in Norddeutschland. Th. Wotschke
beendet seine auf Dresdener und Hamburger Akten aufgebaute Studie
über die unitarische Propaganda an der Universität Wittenberg am
Anfang des 17. Jahrhunderts und die orthodoxen Gegenmaßnahmen
der dortigen Professoren. 1621 haben die letzten unitarischen Stu-
denten Wittenberg verlassen, die meisten Unitarier gingen nunmehr
nach Leiden. A. Nutzhorn beschreibt ein wenig umständlich ein
Tafelbüchlein aus der Reformationszeit 1555, doch zeigt O. Al-
brecht richtig, daß es sich nicht um ein Tafelbüchlein, sondern um
Makulatur- oder Probedruckbogen eines Schulbuches handelt. G.
Boss er t gibt biographische Notizen zu dem von Luther empfohlenen
Pfarrer Theobald Diedelhuber. J. Kvacala beendet seine Studie
über W. Posteil, zeigt seine Wirksamkeit in Wien, bespricht seine
Schriften, wie die Apologie Serviti (deren Originalhandschrift Kvacala
gefunden und in besonderem Buche „Postelliana", Dorpat 1915, mit-
geteilt hat), seinen Brief an Schwenckfeld und Melanchthon, den
Inquisitionsprozeß gegen ihn und seine schließliche Hinwendung zum
Katholizismus. Die Wirkungen Posteils auf Bodin, Herbert v. Cher-
burg, Jak. Böhme u. a. werden leider nur angedeutet. Durch seine
Anschauung von der Einheit des menschlichen Geschlechtes unter
allen Religionen hat Postell jedenfalls der Idee der sog. natürlichen
Religion vorgearbeitet. R. Stölzle analysiert die 1568 bei Samuel
Emmel zu Straßburg erschienene Schrift des Joh. Friedrich Coelestin:
„Von Schulen".
Über die Echtheit der bekannten Totenmaske Luthers in der
Marienbibliothek zu Halle a. S. streiten in „Religiöse Kunst" Bd. 15
F. Loofs und Brathe, dieser für, jener gegen sie. Die Überlieferung,
nach der bei der Durchführung der Leiche durch Halle auf dem Wege
von Eisleben nach Wittenberg die Maske angefertigt sein soll, reicht.
Reformation und Gegenreformation (1500 — 1648). 163
nur bis 1742 zurück. Die Totenmaske findet sich abgebildet in dem
soeben in 2. Auflage erschienenen Buche von H. Preuß: Lutherbild-
nisse (Leipzig, Voigtländer. 64 S. 1 M.).
Die Abhandlung von P. Schweizer: „Ein Vorschlag zur Ver-
söhnung in einem Streit unserer Theologen betr. Zwingli und Luther"
(Schweiz, theol. Zeitschr. Bd. 35) bietet über das Persönliche hinaus-
gehend, abgesehen von dem Irrtum, die von Luther angebotene Kom-
promißformel sei völlig katholisch gewesen und habe die Transsub-
stantiation involviert, einige beachtenswerte Richtpunkte zum Ver-
ständnis des Marburger Religionsgespräches.
In der Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte Bd. 12, H. 1
handelt A. Scheiwiler über Fürstabt Joachim von St. Gallen (Joa-
chim Opser 1577 — 94, enthält zwei wertvolle Berichte über die Bar-
tholomäusnacht), O. Ringholz über: Die ehemaligen protestantischen
Pfarreien des Stiftes Einsiedeln (Geschichte der im Laufe der Refor-
mation protestantisch gewordenen Einsiedlerpfarreien, interessante
Erörterungen der Rechtsverhältnisse).
Im Februarheft 1919 der „Internationalen Monatschrift" ver-
öffentlicht W. Köhler seine (erweiterte) Festrede bei der Zwingli-
Säkularfeier der Universität Zürich. Im Rahmen einer Entwicklungs-
geschichte des schweizerischen Reformators wird seine religiöse Eigen-
art in der Verbindung von Christentum und Antike bestimmt und in
ihren Einzelwirkungen aufgezeigt. Zwingli suchte den Ausgleich von
Glauben und Wissen, im Abendmahlstreit die reine Geistigkeit und
war fähig, die supranaturale Exklusivität des kirchlichen Christentums
zu durchbrechen.
Die Arbeit von Frieda Gallati über „Eidgenössische Politik zur
Zeit des Dreißigjährigen Krieges handelt vorab von der Stellung Zürichs,
insbesondere des Antistes Breitinger. Das Ergebnis ist dieses, daß die
evangelischen Städte 1628 — 30 keine aggressiven Tendenzen hatten,
daß ferner das angeblich von Breitinger betriebene Bündnis mit Gustav
Adolf in Widerspruch gegen die offizielle zürcherische Politik nicht
existiert, Breitinger vielmehr als Reformierter keine Sympathie für
den lutherischen Schweden empfand. Verfasser gewisser in seinem
Nachlaß befindlicher Aufsätze in gegenteiligem Sinne ist nicht der
Antistes, vielmehr ein abenteuerlicher Pfälzer Publizist Joh. Philipp
Spieß (Jahrb. f. Schweiz. Gesch. Bd. 43).
H. de Vries: Les lois somptuaires de la Republique de Gentve
au XV I^ siede (Anzeiger f. Schweiz. Gesch. 1918 Nr. 4) berichtigt
Gabriel {Histoire de VEglise de Gen^ve) durch den Nachweis, daß von
derartigen Gesetzen nicht schon 1541, sondern erst 1558 die Rede
sein könne.
164 Notizen und Nachrichten.
1893 hatte de Ruble unter dem Titel „Mimoires de Jeanne (VAl-
bret** ein Dokument veröffentlicht, das für die Religionskriege Frank-
reichs sehr wichtig sein würde, falls es echt wäre. P. von Dyke unter-
zieht es in Revue histor. Bd. 129 einer eingehenden Kritik, stellt die
Unmöglichkeit der Autorschaft Jeanne d'Albrets fest, ferner überhaupt
die historische Wertlosigkeit; es handelt sich um ein Pamphlet.
Bulletin de la Societe de Vhistoire du protestantisme frangais Bd. 67
enthält folgende Aufsätze: M. Godet: Les protestants ä Abbeville au
debut des guerres de religion (1560 — 72); Liste des Abbevillois suspects
de calvinisme entre 1560 et 1572. J. Pannier: Anciens lieux de culte
Protestant autour de Soissons. G. de Pourtal^s: Odet de la Noue (Ver-
fasser der von Napoleon /. als la „Bible du Soldat" gewerteten „Discours
politiques et militaires"). H. Aubert: Une lettre inidite de Calvin ä
Farel (15. Juli 1544, sachlich unwichtig). E. Rodocanachi: Uatti-
tude des autorites civiles et religieuses ä Vegard de la Reformation en
Piimont au XV P stiele (Referat über G. Jalla: Storia della Riforma
in Piemonte 1914, Mitteilung über Drucke der Werke des Faber Sta-
pulensis in Turin, Porträt der Margarete von Navarra). N. Weiß:
Louis de Berquin, son premier ^procts et sa ritractation d'aprts quelques
documents inedits (1523, Mitteilung eines Briefes der Pariser theol.
Fakultät an den Bischof von Troyes in Sachen Berquins).
Anknüpfend bei der stattlichen, in Berlin (Münzkabinett) und
London (Sammlung Oppenheimer) vorhandenen Medaille des Bamberger
Domherrn Willibald von Redwitz sucht Gg. Habich durch Vergleich
mit ähnlichen Porträtstücken u. a. eines Melanchthonbildes den Würz-
burger Bildhauer Peter Dell den Älteren als Verfasser festzustellen
(Jahrb. der Kgl. preuß. Kunstsammlungen Bd. 39, H. 3).
Kulturhistorisch interessant ist der Aufsatz von O. Ringholz
über „Kriegswallfahrten zu U. L. F. von Einsiedeln in alter und neuer
Zeit"; er behandelt insbesondere die Zeit des Dreißigjährigen Krieges
und teilt u. a. mit, daß 1639 in Einsiedeln geheime Waffenstillstands-
verhandlungen zwischen Bayern und Frankreich gepflogen wurden
(Hist.-pol. Blätter Bd. 162, H. 9/10).
Über die „Stimmung katholischer Bauern im Stift Hildesheim
zur Zeit des Schmalkaldischen Krieges" unterrichtet J. H. Gebauer
an der Hand eines Protokolls aus dem Ratschlagbuch in Zeitschr. f.
Kirchengesch. 37, H. 3/4. — Ebenda macht O. Giemen Mitteilungen
über die ältesten lettischen Katechismen seit 1586.
In Württemberg hat sich ein Verein für württembergische Kirchen-
geschichte gebildet, der die rühmlichst bekannten „Blätter für würt-
tembergische Kirchengeschichte" herausgeben soll (Jahresbeitrag 4 M.,
Anmeldung bei Stadtpfarrer Dr. Rauscher in Tuttlingen). Der Jahr-
Zeitalter des Absolutismus (1648—1789). M
gang 1918 enthält folgende Aufsätze: A. Reutschler: Einführung
der Reformation in der Herrschaft Limpurg; Chr. Kolb: Das Stift
in Stuttgart während der Okkupation durch die Jesuiten 1634 — 1648.
Sehr eingehend und grtindlich ist die Studie von E. Kochs
über „die Anfänge der ostfriesischen Reformation" (Jahrb. der Gesellsch.
f. Kunst u. vaterl. Altertümer zu Emden XIX). Nach einem Über-
blick über die Quellen wird die politische Lage Ostfrieslands am Vor-
abend der Reformation sowie das kirchliche Leben geschildert. Mit
dem Grafen Edgard setzt die Reformation ein, das Religionsgespräch
zu Oldersum 1526 bedeutet einen Höhepunkt; dann wendet sich Kochs
dem religiösen Gehalt der ostfriesischen Reformation zu, gibt eine
sehr interessante Schilderung des Abendmahlstreites und endet mit
der Darstellung der Wirkung der Reformation auf das Volksleben
und gegenreformatorischen Bestrebungen (Erasmus). Die Abhandlung
ist noch nicht abgeschlossen.
K. Gauß bringt im „Basler Jahrbuch 1919" seine Arbeit über
„Die Gegenreformation im baslerisch-bischöflichen Laufen" zum Ab-
schluß. . Sie ist wesentlich das Werk der Jesuiten unter Oberleitung
des Bischofs Jakob Christoph Blarer gewesen, welch letzterer von Gauß
eingehend charakterisiert wird. Laufen kam erst 1815 an die Eid-
genossenschaft, und blieb katholisch.
Neue Bücher: Huldrych Zwingiis Briefe. Übers, von Oskar
Farner. Bd. I. 1512—1523. (Zürich, Rascher & Co. 9 M.) — August
Lang, Reformation und Gegenwart. (Detmold, Meyer. 6 M.) —
Luthervorträge. Zum 400. Jahrestage der Reformation geh. in
Greifswald von Eduard Frhr. v. d. Goltz, Johs. Haußleiter, Johs.
Luther, Frdr. Wiegand, Rud. Ewald Zingel. (Berlin, Siegismund.
2,50 M.) — Berger, Martin Luther in kulturgeschichtlicher Darstel-
lung. 2. Teil, 2. Hälfte. (Berlin, E. Hofmann <S Co. 18,50 M.) —
B ichler, Luther in Vergangenheit und Gegenwart. (Regensburg,
Pustet. 3 M.)
Zeitalter des Absolutismus (1648—1789).
In einer gründlichen Untersuchung, die sich auf fleißiger Be-
nutzung gedruckter Literatur wie auch archivalischer Quellen —
Berlin und Wolfenbüttel — aufbaut, behandelt E. Frhr. v. Dan ekel -
man „Die Friedenspolitik Wilhelms III. von England und Friedrichs IIL
von Brandenburg in den Jahren 1694 — 1697" (Forschungen z. brand.
u. preuß. Gesch. 31, 1). Indem er dem Gange der Friedensverhand-
lungen folgt, die endlich auf dem Rijswijker Kongresse zum Abschlüsse
kamen, gibt er einen Beitrag zur Geschichte des Friedens von Rijs-
wijk, eine Ergänzung der vorhandenen Werke von Klopp, Neuhaus,
166 Notizen und Nachrichten.
Legruelle, Schulte, G. Koch u. a. m. Er betrachtet die Ereignisse be-
sonders in ihrer Wirkung auf den brandenburgischen Staat und ver-
mag hier manches Neue zu bieten. Dabei ist er allerdings von ein-
seitiger Betrachtungsweise nicht frei. Ich möchte den Wert der Arbeit
überhaupt mehr in den aus den Akten geschöpften Einzelheiten, in
der Bereicherung unserer Detailkenntnis erblicken, als in den histo-
rischen Schlüssen des Verfassers. Um nur den wichtigsten Punkt zu
erwähnen, so wird er mit seinem ungünstigen Urteil über Wilhelm III.,
das er feierlich, mit Berufung auf Legrelle, demjenigen Rankes ent-
gegenstellt, schwerlich durchdringen. Aus diplomatischem Detail läßt
sich die Bedeutung einer Persönlichkeit wie die des Oraniers nicht
erschließen. Mag sein, daß Kurfürst Friedrich Grund hatte, enttäuscht
zu sein, aber darum bleibt Wilhelm III. doch der große europäische
Politiker, der einen Damm aufrichtete gegen das Vordringen Frank-
reichs unter Ludwig XIV. Was ferner die Religion betrifft, so hatten
freilich auf der Fahne seines Schiffes 1688 über dem altoranischen
Wahlspruch die Worte gestanden: pro religione protestante, pro libero
parlamento (bei Danckelman S. 34 ungenau zitiert). Aber das galt
doch nur für England, wo es auch gewißlich zur Wahrheit wurde.
Der Vorwurf, daß Wilhelm dem Protestantismus in der Weit ein ge-
gebenes Wort nicht gehalten habe, trifft nicht zu. Und vollends die
Behauptung, daß es in der Zeit des Rijswijker Friedens für den König
von England „heiligste Pflicht" gewesen wäre, für die deutschen
Protestanten, „sei es von neuem mit dem Schwerte, einzutreten"
(S. 64), kann uns nur ein Lächeln abnötigen. Endlich noch eine Kleinig-
keit. Der Verfasser behauptet, Wilhelm III. habe 1696 „in so überaus
unhöflicher Weise" die Hand der Tochter des Kurfürsten ausgeschlagen.
Das ist nicht richtig. Nichts Derartiges ergibt sich aus der Schilderung
in dem Buche von G. Koch (das ich selbst veröffentlicht habe). Der
nicht sehr glückliche, wohl von brandenburgischer Seite vorgeschlagene
Plan, den englischen König mit der 30 Jahre jüngeren Prinzessin Luise
zu veriiiählen, ist nach der Zusammenkunft zu Kleve, wir wissen
nicht warum und von wem, einfach aufgegeben worden.
W. Michael.
In den Forschungen zur brand. u. preuß. Gesch. 31, 1 wird aus
dem Nachlasse von W. v. Sommerfeld das Fragment einer Studie
über „die philosophische Entwicklung des Kronprinzen Friedrich"
veröffentlicht. Es umfaßt die Jahre 1734 — 36 und gehört zu den
umfassenden Vorarbeiten des Verfassers zu einer Untersuchung des
„Antimachiavell".
O. Herrmann veröffentlicht eine Relation des Prinzen Ferdi-
nand von Preußen über den Feldzug vom Jahre 1757 (Forsch, zur
brand. u. preuß. Gesch. 31, 1). Sie ist französisch geschrieben und,
Zeitalter des Absolutismus (1648—1789). 167
Avie der Herausgeber nachweist, in der Zeit zwischen 1799 und 1802
verfaßt. Das ist freilich ein sehr später Termin, der keinen günstigen
Schluß auf den Queilenwert des Berichtes zulassen würde. Doch soll
dieser nicht nur auf persönlichen Erinnerungen, sondern auch auf
gleichzeitigen Aufzeichnungen beruhen. Und auch wenn man seinen
Inhalt mit dem vergleicht, was wir heute über die Ereignisse wissen,
muß man zu einem recht günstigen Urteil über die Glaubwürdigkeit
gelangen. Die interessanteste Stelle der Relation ist diejenige, in der
der Prinz als Ohrenzeuge die Ansprache Friedrichs des Großen an seine
Offiziere vor der Schlacht bei Leuthen wiedergibt. Einen authentischen
Wortlaut erhalten wir freilich auch diesesmal nicht, da der Prinz fran-
zösisch schreibt, die Rede des Königs aber in deutscher Sprache ge-
halten wurde. W. M.
Ed. Wegen er, Archivar der preußischen Zentral-Bodenkredit-
Aktiengesellschaft, veröffentlicht unter dem Titel „Diederich Ernst
Bühring und sein Plan einer Generallandschaftskasse" einen „Beitrag
zur Vorgeschichte der preußischen Landschaften" (Berlin, Dümmler.
1918. IV u. 63 S.). Er will die wenig bekannte Angelegenheit in ihrer
Bedeutung für jene Zeit darstellen. Dabei haben ihm das Geheime
Staatsarchiv und das Breslauer Archiv zwar für die Geschichte des
Bühringschen Projekts kein Material geliefert, wohl aber manchen
Anhalt für das Leben und Wirken des Mannes. Ein erfolgreicher Kauf-
mann und Fabrikant hat Bühring zur Darlegung seines Planes am
23. Februar 1767 eine Eingabe an den König gerichtet, die aber sehr
rasch, schon unter dem 31. März desselben Jahres, abschlägig be-
schieden wurde. Doch macht der Verfasser es wahrscheinlich, daß der
Minister v. Carmer, der zwei Jahre später den ersten Anstoß zur Grün-
dung des schlesischen Kreditsystems gab, den Plan Bührings benutzt
hat, während anderseits dieser sowohl durch die Organisation des
überseeischen Bodenkredits der damaligen Niederlande als auch durch
die Formen des Realkredits in seiner Vaterstadt Bremen beeinflußt
worden war. W. M.
Die Altpreuß. Monatschrift 55, 1. bis 4. Heft bringt die Fort-
setzung der Abhandlung von V. Urbanek über „Friedrich den Großen
und Polen nach der Konvention vom 5. August 1772" (vgl. H. Z.
119, 353). Sie führt die Erzählung diesesmal bis in die Zeit des pol-
nischen Reichstages von 1773.
In der Reihe der Veröffentlichungen des Vereins für die Ge-
schichte von Ost- und Westpreußen erscheinen jetzt „Briefe an und
von Johann George Scheffner, herausgegeben von Arthur War da"
(München und Leipzig, Duncker & Humblot). Der erste Band (in
zwei Teilen 1916 und 1918. 528 S.) enthält in alphabetischer Reihen-
168 Notizen und Nachrichten.
folge den Briefwechsel Litt. A bis K aus den Jahren 1758 — 1820. Unter
den Korrespondenten erscheinen Frau v. Berg-Haeseler, die Freundin
der Königin Luise, Beyme, Borowski, der Prinzenerzieher Delbrück,.
Alexander von Dohna, Dorow, Gneisenau J. G. Hamann, Herder (aus
seiner Rigaer Zeit), v. Hippel, Prinz Hermann zu Hohenzollern-Hechingea
u. a. Der Inhalt der Briefe ist im allgemeinen weniger politisch als
literargeschichtlich bedeutsam; wird doch Scheffner von A. v. Bogus-
lawski als „Königsbergs Quintilian und Horaz" bezeichnet. Doch fehlt
es auch nicht an stimmungsvollen Briefen aus der Franzosenzeit und
charakteristischen Äußerungen über König Friedrich Wilhelm HL
und Königin Luise. — Das Fehlen jeder erläuternden Anmerkung,,
die ebenso wie Einleitung und Register auf einen späteren Teil ver-
sprochen werden, wird von vielen Lesern gewiß recht ungern bemerkt
werden. P. B.
Neue Bücher: Böhling, Gräfin Maria Aurora v. Königsmark.
(Dresden, Minden. 2,25 M.)
Neuere Geschichte von 1789 bis 1871.
Die Studie von Albert Espitalier: „Vers Brumaire. Bonaparte
ä Paris. 5. XII. lygy — 4. V. lygS. D'aprhs des documents inidits**^
(Paris 1914. 302 S.) versucht Napoleons Haltung während dieser
wichtigen Epoche seines Lebens, über die A. Fournier: „Napoleon I.**
Bd. P (1904) S. 304 eine genauere Untersuchung vermißte, im ein-
zelnen klarzulegen. Das Ergebnis ist, daß das damals ins Auge ge«
faßte Unternehmen gegen England nur ein Scheinmanöver war, daß.
Talleyrand als der eigentliche geistige Urheber der Unternehmung in
den Orient anzusehen ist (das aufschlußreiche Buch von Frangois.
Charles- Roux „Les origines de Vexpidition d*Egypte'\ Paris 1910,
vgl. die Anzeige von G. Roloff in dieser Zeitschrift Bd. 107 (1911),
S. 443, scheint der Verfasser nicht zu kennen), daß Bonaparte auf
den Plaa erst einging, als sein Versuch, mit Barias' Hilfe Mitglied des
Direktoriums zu werden, an dessen ablehnender Haltung gescheitert
war (iber Bonapartes und Talleyrands Rolle in der Vorgeschichte
der Unternehmung vgl. meine „Geschichte Ägyptens im 19. Jahr-
hundert", Halle 1917, S. 271), und daß die Direktoren keine Ein-
wendungen erhoben, weil sie den ihnen lästigen General los werden
wollten ; wie weit diese letztere Behauptung richtig ist, läßt sich schwer
erweisen, denn gerade hier müssen wir uns nicht so sehr auf amt-
liches zeitgenössisches Material als auf später niedergeschriebene Me-
moiren mit all ihrem absichtlichen und unabsichtlichen Klatsch stützen.
Das Neue an dieser Studie ist — und dieser Beweis scheint mir ge-
glückt zu sein — , daß Bonaparte keineswegs in großer Bejgeiste-
Neuere Geschichte von 1789—1871. 169
rung in den Orient gezogen ist, weil er hoffte, sich dort ein großes
Reich erobern zu können, sondern daß er diesen Zug als ein notwen-
diges Übel betrachtet hat, um nicht als unbeschäftigter General seine
Popularität bei den Franzosen einzubüßen; hat es schließlich doch
einer ernsten Mahnung von seiten des Direktoriums durch Barras
bedurft, um ihn nach dem durch Bernadottes diplomatisches Unge-
schick hervorgerufenen Zwischenfall in Wien, der für wenige Tage
den Bruch mit Österreich, d. h. den Festlandkrieg, in nahe Aussicht
stellte, zur Abreise zu bewegen. Auch jetzt rechnete Napoleon nur
mit einer Abwesenheit von wenigen Monaten; erst die Folgen des
Tages von Abukir haben ihn für IV2 Jahre im Orient festgehalten.
— Ein recht interessantes Licht auf seine geheimsten Zukunftspläne
wirft sein überaus kluges Verhalten am 21. Januar 1798, bei der Feier
des Todestages Ludwigs XVI.: um den gefährlichen General bei Roya-
listen und Gemäßigten heillos bloßzustellen, hatte das Direktorium
seine offizielle Teilnahme gefordert; Bonaparte nahm teil, aber nicht
als siegreicher General, der aller Augen auf sich lenken mußte, sondern
als einfacher Bürger, in seiner Eigenschaft als Mitglied des Instituts.
Halle a. S. Adolf Hasenclever.
Gebauer behandelt in einem wertvollen, manche neue Auf-
schlüsse bietenden Aufsatz ausführlich die „Vorgeschichte der ersten
Einverleibung Hildesheims in Preußen (1798—1802)". Es gab in
Hildesheim eine preußische und eine hannoversche Partei, aber in
einem war man einig, nämlich in der Abneigung gegen den Gedanken,
durch eine Zuteilung an Kurköln die bisherige geistliche Herrschaft
lediglich gegen eine andere einzutauschen (Forsch, z. brandenburg. u.
preuß. Gesch. 31, 1), W.
Blüchers Briefe, ausgewählt und erläutert von Dr. Heinrich
Stümcke (Reclams Universalbibliothek Nr. 5964. 112 S.). — Die
Auswahl ist geschickt und die Erläuterungen auch für weitere Kreise
völlig ausreichend. Wahl.
Joh. Gottlieb Fichte, Machiavell, nebst einem Briefe Carls v.
Clausewitz an Fichte, kritische Ausgabe von Hans Schulz, Leipzig,,
Verlag von Felix Meier, 1918, XXII u. 65 S. — Es war ein guter
Gedanke, Fichtes Machiavell-Aufsatz neu herauszugeben; denn je
mehr diese herrliche Arbeit gelesen wird, desto besser. Gewiß ent-
hält sie nur einige Anfangsgründe der Politik; gerade deswegen aber
ist sie beim deutschen Volke immer zeitgemäß. — Schulz druckt zum
erstenmal wieder den Urtext vollständig ab, in dem der Machiavell
1807 in der Zeitschrift „Vesta" erschien. Im kritischen Apparat gibt
er die Varianten an, die der zweite Druck, der in Fouqu^s „Musen'*
1813, bietet. Sie sind im allgemeinen nicht erheblich; vielfach han-
170 Notizen und Nachrichten.
delt es sich bei ihnen nur um stilistische Verbesserungen, gelegentlich
auch um die Einschränkung eines viel zu weit gehenden Urteils (z. B.
S. 10). Erheblich sind dagegen die Änderungen (Auslassungen!) auf
S. 16, 23, 52 — 56. Ich vermute, daß Fichte selbst die neue Redak-
tion besorgt hat, während Schulz die Frage offen läßt. Ganz abzu-
lehnen ist seine offenbar auf einem reinen Versehen beruhende An-
nahme, daß die „Herrschaft Frankreichs" zu den größeren Ände-
rungen genötigt habe. Das betr. Heft der „Musen" erschien tief im
Jahre 1813! Vielmehr sind sicher die Auslassungen auf S. 23 und
52 — 56 vorgenommen worden, weil diese Stellen nicht geeignet gewesen
waren, die Kampfstimmung der Freiheitskrieger zu fördern. Die
Auslassung auf S. 16 aber beruht auf der Korrektur, die Clausewitz
an einer falschen Auffassung Fichtes — über den Reichtum der fran-
zösischen Heere an Artillerie — in dem Brief an Fichte vom Jahre
1809 vorgenommen hatte, den Schulz im Anhang abdruckt (S. 60).
Besonders gerade wegen dieser Verbesserung nach einem Privatbrief
ist anzunehmen, daß Fichte selbst für die Änderungen im zweiten
Druck seiner Arbeit verantwortlich ist. Wahl.
In Reclams Universalbibliothek (Nr. 5928) ist Fichtes Schrift
unter dem Titel „Inwiefern Machiavellis Politik auch noch auf unsere
Zeiten Anwendung habe" schon im Sommer 1917 von Jos. Hof-
miller veröffentlicht worden. Diese volkstümliche Ausgabe mit kurzer
Einleitung liegt jetzt in 2. Auflage vor.
Im vorigen Hefte ist in der Notiz über Roloffs Aufsatz S. 536
Z. 10 V. u. statt „Fälschung" „Plagiat" (s. Roloff S. 213) zu lesen-;
denn das von Hoffmann mitgeteilte Memoire Leibnizens ist nur die
französische Übersetzung des von Guhrauer (s. Leibnitz I, Anm.S. 18.)
herausgegebenen Epistola ad Regem Franciae de expeditione Aegyptiaca.
(Leibnitz' Werke ed. Klopp II, 78—92).
Der Abdruck der Kreuz- und Querzüge von A. L. Fr. Schau-
mann (s. zuletzt 119, 354) ist im Januar- und Februarheft der Deutsch.
Rundschau 1919 mit der erneuten Teilnahme an der englischen Ex-
pedition nach Portugal, April 1809, wieder aufgenommen: Reise,
Landung, erste Kämpfe, Eroberung von Oporto, Abmarsch nach
Spanien.
Aus Eichhorns Nachlaß (s. zuletzt 119,354) hat W. Windel-
band Briefe an Gneisenau 1809 — 1818 abgedruckt, mit manchen
wertvollen Einzelheiten über die Pläne der Patrioten aus der Zeit
der Reform, der Erhebung und der Verfassungskämpfe nach 1815.
Hingewiesen sei auf den Brief vom 31. März 1815 über Schmalz und
den Justizrat Hoffmann von Rödelheim (Dtsch. Revue, Januar — März
1919).
A
Neuere Geschichte von 1789—1871. 171
Die Bedeutung der deutschen Geschichtschreibung seit den Be-
freiungskriegen für die nationale Erziehung von Max Lenz (Geschicht-
liche Abende im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, 9. Heft,
Berlin, E. S. Mittler & Sohn. 1918. 27 S.). — Der Vortrag bietet
einen mit feinen und treffenden, aber meist allzu knappen Bemer-
kungen über eine große Zahl von deutschen Historikern des 19. Jahr-
hunderts ausgestatteten Überblick, um dann, nach gerechter Abwägung,
wie es sich gebührt, Ranke die Palme zuzusprechen. Auch dieser
schöne Vortrag zeigt nur zu deutlich (s. z. B. S. 5), daß wir vor dem
Zusammenbruch in einer Traumwelt gelebt haben: der erzieherische
Einfluß unserer Geschichtschreibung und gerade auch der Rankes
ist, zum Verderben unseres Volkes, auf eine überaus kleine Oberschicht
beschränkt geblieben. Wahl.
Zwei Berichte, die Varnhagen v. Ense über die Ermordung
Kotzebues dem König aus Karlsruhe am 24. und 25. März 1819 ein-
sandte, veröffentlicht Paul Bai Heu in der Unterhaltungsbeilage der
Täglichen Rundschau vom 22. März 1919.
Gegenüber den von D. Anguial erhobenen Einwürfen (s. 119,
355) bezüglich der Beurteilung der Ernennung Batthianys zum unga-
rischen Ministerpräsidenten am 17. März 1848 und der „Erschleichung"
des Handschreibens gegen Jellacic durch Batthiany am 10. Juni hat
H. Friedjung (in der österr. Rundschau 1918, Bd. 54, 73ff.) seine
Darstellung aufrecht erhalten. D. Anguial seinerseits bleibt in einer
erneuten Replik („Monarchie" 1918, auf S. 14) bei seiner Auffassung.
Er will bei der Ernennung Batthianys, für deren Legalität er eine
mündliche, sonst nirgends beglaubigte Ermächtigung durch den Herr-
scher geltend macht, höchstens „einen Formfehler von untergeordneter
Bedeutung" gelten lassen: es dürften die Ernennung Batthyanys und
die Entsendung der Ministerialkommission nicht als revolutionäre,
eher als gegenrevolutionäre (!) Akte bezeichnet werden. Auch be-
streitet Anguial nach wie vor freilich in sehr gewundener Argumen-
tation, daß für das Handschreiben vom 10. Juni der Ausdruck „er-
schlichen" „zulässig" sei.
Einige hübsche Jugendbriefe von Kurd von Schlözer (s. 117,
176) brachte die Deutsche Revue, März 1919: über den Septemberauf-
stand in Frankfurt vom 18. und 24. September und über die Bewegung
in Berlin vom 10. November und 4. Dezember 1848.
Briefe des Präsidenten Lette, des bekannten liberalen Politikers
und Begründers des Lettevereins, aus dem Frankfurter Parlament
an Ignaz von Olfers vom 15. Oktober 1848 bis 9. Februar 1849 hat
L. Bergsträßer im Februarheft der Deutsch. Rundschau mitgeteilt.
Erwähnenswert ist besonders der Novemberbrief über die Mission
172 Notizen und Nachrichten.
von Rodbertus und Schulze-Delitzsch nach Frankfurt (S. 177 ist wohl
zweimal Schulze statt Schmidt zu lesen) und über Bassermanns Mission
nach Berlin.
H. Schütter macht in der österr. Rundschau 1919,2 kurze
Mitteilungen aus den Akten der Ministerialkonferenzen über die Hal-
tung der österreichischen Regierung gegenüber der polnischen Revo-
lution und der Diplomatie der Westmächte vom März bis November
1863. Sie zeigen, daß man in Wien wohl erkannte, welche Gefahren
die von den Westmächten, insbesondere von Napoleon III. angeregte
Wiederherstellung Polens für die Habsburgische Monarchie, speziell
für die Behauptung Galiziens, heraufbeschwören würde, daß aber die
Wiener Politik sich aus schwankenden Erwägungen zu aktiver Tätig-
keit nicht zu erheben vermochte und daß dabei das durch die Bundes-
reformfrage verstärkte Mißtrauen gegen Preußen lähmend einwirkte.
Inhaltreiche, mit Apologetik und Polemik reichlich durchsetzte
Mitteilungen über die ministerielle Tätigkeit des Grafen Richard
Belcredi und Österreichs innerstaatliche und auf den Krieg bezüg-
liche Politik vor und nach der Entscheidung von 1866, u. a. über die
beim Ausgleich mit Ungarn auftretenden Gegensätze und die Rollen
der maßgebenden Personen hat H. Traub aus den Belcredischen
Familienpapieren in „Österreich" I, 4 veröffentlicht.
Im Märzheft der Deutschen Revue druckt W. Schüßler Teile
aus den Tagebüchern des hessischen Ministers Frhr. R. v. Dalwigk.
zu Lichtenfels aus den Jahren 1866 bis 1871 ab, die demnächst in
Buchform erscheinen sollen.
Roms letzte Tage unter der Tiara. Erinnerungen eines römischen
Kanoniers aus den Jahren 1866 bis 1870. Von Klemens August Eick-
holt, päpstlichem Offizier a. D. Mit 8 Bildern. Freiburg, Herder
[1917]. VIII u. 320 S. 3,50 M. — Das hübsch ausgestattete Büchlein
ist nach Inhalt und Darstellung so gehalten, daß man es sich gern in
den Händen der Familie und der nächsten Freunde des greisen Ver-
fassers denkt. Für die Wissenschaft bietet es nichts außer einigen
Mitteilungen über römisches Leben und vereinzelten kleinen Beob-
achtungen. Nützlich sind manche Nachrichten über das päpstliche
Heer, namentlich über den inneren Dienst, auch etwa über die geist-
lichen Exerzitien (S. 194f.), endlich über die Verteidigung Roms im
September 1870 (S. 266 ff. bei Porta S. Giovanni am 20. September);,
ein Verzeichnis der bei der Einnahme Roms verwundeten und gefal-
lenen päpstlichen Soldaten, Offiziere und Ärzte ist beigegeben. Von
Einzelheiten sind nennenswert: S. 140f. schüchterne Bemerkungen über
Kanoniker im Kirchenstaat; S. 204f. über die Landbevölkerung; 250f.
und 261 über die Römer; über Pius IX. S. 160 und 289 (seine „herr-^
1
Neueste Geschichte seit 1871. 173
liehe, klangvolle Stimme"); zu dem Tod des Kardinals Franchi 181
^Anm. 2); S. 221 ff. über das „widerliche Gespenst" des Chauvinismus
in Marseille im Juli und August 1870 (S. 233 f. über einen Ausbruch
tierischer Wut des französischen Pöbels ; auch 237ff .). An der streng
kirchlichen, papsttreuen Gesinnung Eickholts würde gewiß auch dann
niemand gezweifelt haben, wenn sie etwas weniger aufdringlich her-
vorträte. Der Verfasser, der sich als päpstlicher Soldat in Wort und
Tat etwas eilfertig zeigt, ist noch jetzt in seinem Urteil einseitig und
heftig, besonders wenn er auf das Königreich Italien zu sprechen kommt.
Der Spott über Bixio (1866) S. 280 bekundet mehr Vorurteil als Sach-
kenntnis. F. Vigener.
Neue Bücher: Bitterauf, Geschichte der französischen Revo-
lution. 2. Aufl. (Leipzig, Teubner. 2 M.) — Hub. Klein, Napoleon I.
und die Presse. Napoleons Kampf gegen die Presse 1799 — 1805. (Bonn,
Behrendt. 2 M.) — Hansen, Preußen und Rheinland von 1815 bis
1915. (Bonn, Marcus & Weber. 9 M.) — Leitzmann, Wilhelm v.
Humboldt. (Halle, Niemeyer. 3,50 M.) — Charmatz, Geschichte
der auswärtigen Politik Österreichs im 19. Jahrhundert. 2., veränd.
Auflage. 2 Bde. (Leipzig, Teubner. Je 2 M.) — Charmatz, Öster-
reichs innere Geschichte von 1848 — 1895. 3., veränderte Auflage.
2 Bde. (Leipzig, Teubner. Je 2 M.) — O. Weber, 1848. 3. Aufl.
{Leipzig, Teubner. 2 M.)
Neueste Geschichte seit 1871.i)
Von höchstem Interesse sind die auf Bismarcks Sturz bezüg-
lichen Korrespondenzen, die H. Schütter in der österr. Revue 1919,3
aus dem Wiener Archiv mitgeteilt hat. Am 22. März 1890 hat Franz
Joseph in einem von Kalnoky entworfenen Schreiben an Bismarck
sein aufrichtiges Bedauern über dessen Abgang und seine dankbare
Anerkennung für die Freundschaft und die Allianz mit der Habsburger
Monarchie ausgesprochen (I). In seiner Antwort vom 26. März (II)
betont Bismarck die Stärkung des monarchischen Gedankens in Preußen
und im übrigen Deutschland seit seinem Amtsantritt; daß er nicht
freiwillig seinen Posten verlassen, hebt er zweimal nachdrücklich her-
vor. Man möchte vermuten, daß die Kenntnis dieses Schriftwechsels
Kaiser Wilhelm veranlaßt hat, am 3. April in einem umfangreichen
(7^ Druckseiten), anscheinend eigenhändigen und selbstverfaßten
Briefe (III) „einen vertraulichen Überblick zu geben über die Ent-
wicklung und das schließliche Eintreten des Rücktritts des Fürsten
von Bismarck". Es ist natürlich ganz subjektive Darstellung in der
^) Wo nichts anderes angegeben, ist das Erscheinungsjahr 1918.
174 Notizen und Nachrichten.
temperamentvollen Art des jungen Kaisers, völlig unter dem Eindruck
der Krise und der Katastrophe. Bemerkenswert ist es, daß Wilhelm
hier — wohl in bewußter Absicht — Meinungsverschiedenheit mit
Bismarck auf dem Gebiete der auswärtigen Politik entschieden be-
streitet und nur „rein innere, meist taktische Gesichtspunkte" gelten
lassen will: zunächst beim großen Bergarbeiterstreik von 1889 (was
schon Marcks, Otto von Bismarck 1915, 220 f. angedeutet hat); dann
den Arbeiterschutz; Bismarcks Intrigen gegen die von Wilhelm ge-
wünschte internationale Konferenz (auch hier die Rolle des schweize-
zischen Gesandten Roth, wie sie Hohenlohe II 468 vom Kaiser im
Juni 1890 vernommen hat), die Erneuerung des Sozialistengesetzes
(die Kartellparteien hätten von Bismarck nur die Zusage verlangt,
das Fallenlassen des Ausweisungsparagraphen „in Erwägung zu ziehen");
überhaupt die Frage einer vom Kaiser abgelehnten, von Bismarck ge-
wünschten kraftvollen, wenn nötig gewaltsamen Unterdrückungspolitik
gegen die Sozialdemokratie; die Kabinettsordre von 1852; die Audienz
Windthorsts. Von der Einbringung einer neuen Militärvorlage mit
ihren möglichen politischen Konsequenzen und von den von Delbrück
behaupteten Wahlrechtsänderungs- und Staatstreichplänen ist nicht
die Rede. Entscheidend aber für die Notwendigkeit der Trennung
(zunächst in allmählichem, von Bismarck selbst gewünschtem Aus-
scheiden), dann der in schroffem Zerwürfnis erfolgten Entlassung ist
nach Wilhelms Darstellung die krankhafte Gereiztheit, das brüskie-
rende, unehrerbietige und intrigierende Auftreten Bismarcks geworden,
als der Kaiser erkannte, daß „der Dämon der Herrschaft den hehren,
großen Mann erfaßte, und daß er jede Gelegenheit zum Kampf gegen
seinen Kaiser benützte." „Da riß mir die Geduld; mein alter hohen-
zollerscher Familienstolz bäumte sich auf, jetzt galt es, den alten
Trotzkopf zum Gehorsam zu zwingen oder die Trennung herbeizufüh-
ren." — Bemerkenswert ist des Kaisers Mitteilung, daß er nach dem
Tode Kaiser Wilhelms I. sich allein für Bismarck in die Bresche ge-
schlagen und dadurch den Zorn des sterbenden Vaters und den un-
auslöschlichen Haß der Mutter auf sich gezogen habe. — Es folgt die
Antwort Franz Josephs vom 12. April, ein kurzer Dank Wilhelms
vom 14. April (IV u. V). — Bekannt ist ja Caprivis Uriasbrief vom
9. Juni 1892 an den Prinzen Reuß. Jetzt sehen wir (mit der zusagen-
den Antwort Franz Josephs vom 15. Juni), daß am 12. Juni 1892
Wilhelm selbst dem österreichischen Kaiser die Bitte vorträgt, den
„ungehorsamen Untertan" (vgl. Friedrich Wilhelm III. an Stein,
Lehmann, Stein I, 451), der „in der perfidesten Manier in seiner Presse
und der fremder Länder gegen mich, Caprivi, meine Minister usw.
Krieg geführt" und „unter ungezogenster Ignorierung meines Hofes
sich nach Dresden und Wien begibt, um dort den alten treuen Mann
Neueste Geschichte seit 1871. 175
herauszubeißen", nicht zu empfangen, ehe er nicht peccavi gesagt. —
Diese Veröffentlichung, besonders der mit erstaunlicher Deutlichkeit
auch in den Einzelheiten über Bismarck und die Minister geschrie-
bene Brief vom 3. April, der hoffentlich ausführliche Mitteilungen von
Bismarckscher Seite veranlassen wird, wird wohl zu erneuter Erörte-
rung über das vielumstrittene Problem von Bismarcks Sturz führen.
K. J.
The Official Index of the Times (jährlich vier Bände), der sich
auch auf Leit-, Spezialartikel und Besprechungen erstreckt, ist ein.
vorzügliches Hilfsmittel zum Studium der neuesten Geschichte, über
deren Quellen H. Hall in der Contemporary Review 113 eine Ab-
handlung veröffentlicht.
Zur deutschen Kriegsliteratur äußern sich ebenda Th. F. A.
Smith, ferner W. Epstein im Hibbert Journal 14, 1915, W. Goetz
in der Europäischen Staats- und Wirtschaftszeitung 1916 und Drey-
haus in den Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen
Geschichte 30/1, 1917/8.
Lehrreich und dankenswert ist die in der Neuen Zeit 11 von
E. Dähn gegebene Übersicht über „das Archiv der sozialdemokra-
tischen Partei Deutschlands, seine Geschichte und Sammlungen"»
Dagegen kann man sich mit der für das Berichtsgebiet häufig in Be-
tracht kommenden, bis 1918 einschließlich vorliegenden Biblio-
graphie der Sozialwissenschaften und der Bibliographie der
einheimischen und fremden Zeitschriften- bzw. Zeitungsliteratur weder
technisch noch sachlich ganz einverstanden erklären.
Zwei Akademiereden von 1915/16, die J. Bryce unter der Über-
schrift: Reflexions d'un Historien sur la guerre in den Januarheften
der Revue de Paris und außerdem in den Essays and adresses in
war Urne veröffentlicht, sind nicht sehr ergiebig und halten sich im
allgemeinen an der Oberfläche. Dagegen verdienen H. Grubers Dar-
legungen: „Das lateinische Kultundeal, die Freimaurerei und der
Ententefrieden" (Deutsche Rundschau 45) wegen des Hinweises auf
anglo-italienische geschichtliche Zusammenhänge Beachtung. Mit der
Theorie der öffentlichen Meinung befaßt sich F. Tön nies in Schmollers
Jahrbuch 40.
Der mit Fragen der diplomatischen Vorgeschichte des Krieges
neuerdings wieder stark beschäftigte E. Daudet widmet der inter-
nationalen Krise von 1875 in der Revue des Deux Mondes (1915, April
15) eine Untersuchung. Auch Bismarcks Rückversicherungsvertrag
von 1887 gibt immer wieder zu förderlichen geschichtlichen Betrach-
tungen Anlaß, wie M. v. Hagen s Artikel im Neuen Deutschland 7
erkennen läßt. Nicht minder fordert die Politik der Nachfolger Bis-
176 Notizen und Nachrichten.
marcks zu nachprüfender Betrachtung heraus, zumal da Bülows
Deutsche Politik dafür einen kräftigen Anstoß gegeben hat. Hier
seien einige Besprechungen des Werkes nachgetragen: Cromer,
Spectator 1914, Febr. 14, J. de Wlassics, Revue de Hongrie 15, und
<j. Kaufmann, Internationale Monatschrift 9 (1915), E. H. Moorhouse,
Londoner Outlook 38, H. Oncken, Deutsche Politik 1, M. Spahn,
Hochland 13, G. v. Schmoller, Jahrbuch 40, E. Bernstein, Neue Zeit
34, n, M. Schippel, Sozialistische Monatshefte II und Wittschewsky,
Grenzboten 75 (1916), auch H. Welschinger, Revue des Deux Mondes
1917, Mai 1. Hierher gehören auch die durch die Burtzeff-Enthüllun-
gen angeregten Aufsätze über den Vertrag von Björkö von 1905 aus
der Feder von A. Nekludow, ebenda März 1, und von M. Bompard,
Revue de Paris, Mai 1915. Zur Polemik zwischen Delbrück und
Haller äußert sich Spectator, Neue Zeit 35, II (1917).
Von den zahlreichen Nachrufen auf Kaiser Franz Joseph sind
die von R. Pinon, Revue des Deux Mondes VI, 37, und von L. Eisen-
mann, Revue de Paris 24, I (1917) beachtenswert.
Aus derselben Zeitschrift 25, III sei der gut geschriebene, über-
sichtliche Beitrag von J. Duhem, La question serbe et les origines de
la guerre hervorgehoben. Über den Titel hinausgehend, gewährt er
einen trefflichen Einblick in die (feindliche) Anschauung über die
österreichisch-ungarische Balkanpolitik und ihr Verhältnis zur Vor-
geschichte des Krieges. Sofern sie Eisenbahnpolitik ist, hat sie auf
französischer Seite öfters besondere Aufmerksamkeit gefunden. Be-
zeichnend dafür ist R. Gonnard, Uexpansion austro-hongroise et
les nouvelles lignes croato-dalmates. Die Arbeit dieses in austro-balka-
nischen Fragen bewanderten Lyoner Professors ist in der Revue Poli-
tique et Parlamentair e 79 (1914) erschienen und noch vor dem Kriege
verfaßt. Aus der Kriegszeit stammt J. Thureau, Les chemins de
fer balkaniques et leur röte dans les origines de la guerre (ebd. 86, 1916),
die den interessanten Gegenstand in noch weiterem Rahmen behandelt.
Die sich noch immer vermehrenden Arbeiten über die diploma-
tischen Kämpfe vor Kriegsausbruch werden besonders auf feindlicher
Seite gepflegt. Ein Beispiel bietet die kritische, recht tendenziöse
Studie des auf diesem Gebiete auch sonst eifrig tätigen A. Gauvain,
Mitarbeiters am Journal des Dibats, über die Anfang 1919 auch in
Deutschland erschienenen Enthüllungen Lichnowskys, Mühions und
des im Herbst 1917 herausgegebenen Griechischen Weißbuchs (Revue
de Paris 25, III). Anderseits hat die Schmähschrift faccuse, als deren
Verfasser sich Ende 1918 R. Grelling bekannt hat, mehrfach auch
auf neutraler Seite begründeten Widerspruch erfahren, so bei dem
Arzte E. von Dieren, Gedanken eines Holländers über den Welt-
krieg (1916).
Neueste GeßChichte seit 1871. 177
Im Archiv für Straf recht hat Pharos das auch gesondert er-
schienene Protokoll des Prozesses gegen die Attentäter von Sarajewo
herausgegeben. J. Hashagen.
Der „Deutsche Geschichtskalender", von Fr. Purlitz bearbeitet,
hat sich zu einem unentbehrlichen, überaus stoffreichen zeitgeschicht-
lichen Hilfsmittel für die Geschichte des Weltkrieges entwickelt. Als
Sonderausgabe unter dem Titel „Der Europäische Krieg" umfaßt er
jetzt schon 53 bis zum Dezember 1918 reichende Lieferungen (Verlag
von F. Meiner, Leipzig). Darunter befinden sich Sonderhefte über
den Frieden von Brest-Litowsk, den Waffenstillstand und die deut-
sche Revolution. Man wird mit Ergriffenheit, diese letzten Hefte
durchsehend, noch einmal die furchtbaren Tage unseres plötz-
lichen Zusammenbruches durchleben. Dabei wird man freilich auch
einen Mangel in der Anlage des Sammelwerkes gewahr, der sich aus
seiner raschen Herstellung erklärt und ganz wohl nicht beseitigt wer-
den, aber doch durch eine umsichtige Redaktion gemildert wer-
den kann. Nebeneinander stehen nämlich jetzt die kurzen Tatsachen-
vermerke und eine Fülle von Preßstimmen des In- und Auslandes
über die Ereignisse, in denen in oft versteckter Weise auch kausal
wichtige, ja unentbehrliche Mitteilungen enthalten sind, die der Her-
ausgeber eigentlich an hervorragender Stelle, unmittelbar den Haupt-
tatsachen angefügt, bringen müßte. Wer könnte, wenn er nur diesen
Geschichtskalender liest, ahnen, aus welchen Beweggründen unser
Waffenstillstandsangebot vom 5. Oktober entsprang. Die damaligen
Urteile der rechtsstehenden Blätter, die der Geschichtskalender ihnen
unmittelbar anreiht, würden ihm ein völlig falsches Bild der Situation
vorspiegeln. Viele Seiten später (S. 132) erfährt man dann erst, daß
die Tägl. Rundschau die Verantwortung für das unglückliche Waffen-
stillstandsangebot in erster Reihe Ludendorff zurechnet. Der Heraus-
geber des Geschichtskalenders hat nun zwar nicht die Pflicht, zu
untersuchen, inwieweit solche Behauptungen zutreffen, aber er müßte
dem künftigen Forscher wenigstens dadurch vorarbeiten, daß er sie
an hervorragender Stelle bucht und mit den schon erreichbaren Zeug-
nissen belegt. M.
\ In den Annalen für Soziale Politik und Gesetzgebung 6, 3/4
I hat H. Oncken über die inneren Ursachen der Revolution von 1918
I gehandelt.
! In einem Heftchen der Sammlung „Die neue Zeit. Schriften
I zur Neugestaltung Deutschlands" sind durch Felix Salomon „Die
j neuen Parteiprogramme mit den letzten der alten Parteien zusammen-
gestellt" (Leipzig und Berlin, Teubner. 1919. IV u. 688. 1,50 M.).
Franz Ehrle S. J. „Neu-Deutschland und der Vatikan. Er-
wägungen über Artikel 3 des Entwurfes der neuen Reichsverfassung"
Historische Zeitschrift (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd. 12
178 Notizen und Nachrichten.
(Flugschriften der „Stimmen der Zeit", 2. Heft. Freiburg i. Br., Her-
der. 1919. 18 S. 60 Pf.) tritt für eine gegenseitige Vertretung des
Reiches und der Kurie ein. Er führt auch geschichtliche Erwägungen
ins Feld.
Neue Bücher: Fried jung, Das Zeitalter des Imperialismus
1884—1914. 1. Bd. (Berlin, Neufeld & Henius. 20 M.) — Sauer-
beck, Die Großmachtspolitik der letzten zehn Friedensjahre im Licht
der belgischen Diplomatie. (Basel, Finckh. 6 M.) — Hammann,
Zur Vorgeschichte des Weltkrieges. (Berlin, Hobbing. 4,50 M.) —
Platykas, La Grtce pendant la guerre de igi4 — igi8. (Bern, Wyß.)
— Reinke, Politische Lehren des großen Krieges. (Berlin, Mittler
& Sohn. 3,80 M.) — L6vay, Logik des Weltkrieges. (Wien, Brau-
müller. 4 M.) — Löwe, Das neue Rußland und seine sittlichen Kräfte.
(Halle, Niemeyer. 5,30 M.)
Deutsche Landschaften.
Neue historische Literatur über die deutsche und italienische
Schweiz stellt C. Brun zusammen im Anzeiger für Schweizerische
Geschichte 1918, 3.
Aus dem Sammelwerk, das Karl Strupp als Werbeschrift unter
dem absonderiichen Titel „Unser Recht auf Elsaß-Lothringen" (München
und Leipzig, Duncker und Humblot. 1918) herausgegeben hat, darf
hier der Beitrag Karl Stählins: Politische und kulturelle Geschichte
Elsaß- Lothringens, rühmlich hervorgehoben werden. Mit Fug und
Recht werden kritische Streitfragen umgangen; um so anregender
ist der Versuch, die Geschichte beider Länder, Elsaß und Lothringens,
die bekanntlich vor 1870 weit weniger als die meisten anderen deut-
schen Stämme gemeinsam hatten, im großen Rahmen der europäischen
Kultur und Politik in enge Beziehungen zu setzen. Leider endet die
Darstellung mit der Einverleibung des Reichslandes ins Neue Reich;
ihre Fortsetzung erst bis in die Kriegsjahre hinein kann die große
Frage nach der „Schuld" lösen, die der kleine deutsche Bundesstaat
mit der Angliederung von Volksgenossen auf sich lud, die in der
politischen Luft des nationalen Einheitstaates zu leben gewöhnt
waren und jetzt in einen Partikularismus hineingespannt wurden,
den sie längst überwunden hatten. Hier gilt es, uns und den
kommenden Geschlechtern ein neues „Recht" auf das ehemalige
„Reichsland" zu erwerben, und hier muß auch die Geschichtschrei-
bung einsetzen zur rückhaltlosen nationalen Selbstkritik.
P. Wentzcke,
i
Deutsche Landschaften. 179
An Hand von aus der Heidenzeit noch erhaltenen Gräbern und
Steinen erzählt C. Matthis in seiner Schrift: Wasgowiana, Straßburg,
Heitz, 1918, 47 S., allerlei Sagen des nördlichen Wasgaus.
Den Inhalt des Visitationsprotokolls betreffs des Klosters Trochtel-
fingen vom Jahre 1661 analysiert Friedrich Eisele in den Mitteilungen
des Vereins für Geschichte und Altertumskunde in Hohenzollern
Bd. 51. Aus dem fürstl. Hohenzollernschen Hausarchiv veröffentlicht
Hebeisen das Fragment einer unbekannten Handschrift über die
Königskrönung Maximilians I. im Jahre 1486 und den Brief eines
Augenzeugen über den Zustand des französischen Heeres beim Durch-
marsch durch Vilsingen, als es sich 1799 nach der Schlacht bei Stockach
vor Erzherzog Karl zurückziehen mußte.
Eine Reihe von wertvollen Aufsätzen sind aus dem Oberbayri-
schen Archiv für vaterländische Geschichte Bd. 61 zu erwähnen: Ph.
Wehner: Die burschenschaftliche Bewegung an der Universität Lands-
hut-München 1815 — 1833; besonders geht der Verfasser auf die De-
zemberunruhen von 1830 ein, als deren Kern er einen Studentenulk
bezeichnet, der sich nur infolge des ungeeigneten Vorgehens der Polizei
und der Militärorgane zu öffentlicher Ruhestörung ausgewachsen habe.
Auf Grund des Briefwechsels des kurbayrischen Ministers Grafen Maxi-
milian von Berchem mit seinem ältesten Sohn schildert August Rosen-
lehne r das bayrische Leben in den Jahren 1759 — 1776. Die Artikel,
die Joseph und Guido Görres für die Allgemeine Zeitung geliefert
haben, stellt Karl Alexander v. Müller zusammen. Franz Feld-
meier beweist, daß das angeblich kurbayrische Manifest von 1704,
wie schon Heigel behauptet hatte, nicht als Kundgebung der bayri-
schen Regierung angesprochen werden darf. Kurfürst Max Emanuel
hat nicht das geringste mit dieser „Rechtfertigungsschrift" zu tun.
Ihr Verfasser ist der französische Abb6 Dubos, und veranlaßt ist sie
von einem der Hauptagitatoren der französischen Partei im Reich,
dem kurkölnischen Oberstkanzler Karg von Bebenburg, der durch
diese angeblich amtlich bayrische Kundgebung den Riß zwischen Max
Emanuel und dem Kaiser noch vertiefen und auf diese Weise den
Kurfürst ganz ohne allen Rückhalt in die Arme Ludwigs XIV. treiben
wollte. Georg Buchner untersucht die Ortsnamen des Karwendel-
gebiets, und schließlich enthält der Band noch den Schluß der an
dieser Stelle schon erwähnten Arbeit von Artur Kleinschmidt über
Karl Vn. und Hessen.
Ein Gesamtbild der Zeit des Eindringens der gotischen Formen
in die altbayrische Baugeschichte aus dem leider sehr lückenhaften
und brüchigen Material herauszuarbeiten, ist die Absicht des Werkes
von Hermann Graf: Altbayrische Frühgotik, München, Piper. 1918.
12*
180 Notizen und Nachrichten,
151 S. und 17 Tafeln. Der Verfasser weist zunächst den französischen
Einfluß in der spätromanischen Epoche und das Auftauchen frühgoti-
scher Einzeiformen im Rahmen noch romanischer Bauten nach. Als
die eigentlichen Träger der aus Frankreich übernommenen Frühgotik
bezeichnet er die Meister der Regensburger Bauhütte. Neben ihnen
steht die Münchener Bauschule, die die einheimische Tradition aus
dem Backsteingebiet fortführt.
Eine Würzburger Dissertation von J. Rottenkolber schildert
die Wirksamkeit des Kemptner Fürstabts Heinrich von Ulm (1607
— 1616); sie ist erschienen im Allgäuer Geschichtsfreund 1918.
Die nur einjährige Wirksamkeit der Friedrichsakademie zu Bay-
reuth 1742 — 1743 untersucht K. W. Aign im Archiv für Geschichts-
und Altertumskunde von Oberfranken 27, 1. Gegründet ist sie 1742
von Markgraf Friedrich, dem Gemahl von Friedrich des Großen Schwe-
ster Wilhelmine; aber aus finanziellen und anderen Schwierigkeiten
wurde sie bereits am 13. April 1743 nach Erlangen verlegt.
Aus dem Archiv für Kulturgeschichte Bd. 14, Heft 1 u. 2: Erich
Frhr. v. Guttenberg beleuchtet durch Beispiele, die er dem Gutten-
bergschen Familienarchiv entnimmt, das Leben fränkischer Edelfrauen
im 16. Jahrhundert; als ihr Lebensprinzip bezeichnet er „die bewußte
Beschränkung auf ein Wirkungsgebiet, das ihre Kräfte und Anlagen
zu umspannen vermochten". Richard Weyl beginnt mit der Schil-
derung eines Vierteljahrtausends Kieler Gelehrtenlebens aus Anlaß des
250jährigen Jubiläums der Universität Kiel. Als Ergänzung zu Kerns
Sammlung deutscher Hofordnungen veröffentlicht Felix Pischel die
Hof Ordnung vom 19. September 1573, die Kurfürst August von Sachsen
für den Aufenthalt seines Mündels, des elfjährigen Herzogs Friedrich
Wilhelm in Jena erlassen hat.
Sechs Briefe der Pfalzgräfin Elisabeth, Äbtissin von Herford,
an ihren Bruder, den Kurfürsten Carl Ludwig von der Pfalz, ver-
öffentlicht Anna Wen dl and in der Zeitschrift für die Geschichte des
Oberrheins, N. F. 34, 1 mit einer etwas reichlich gefühlvollen Würdi-
gung; sie stammen alle aus dem Jahre 1650 und betreffen den Plan
der Heirat von Elisabeths Schwester Henriette Maria mit Sigmund
Räköczy. Karl Baas schildert die Maßnahmen zur öffentlichen Ge-
sundheitspflege in Elsaß-Lothringen von der Römerzeit mit ihren
Bauten von Wasserleitungen usw. bis zum Ausgang des Mittelalters.
Das Heft enthält schließlich den Schluß der Arbeit von K. Vierneisel
über Neutralitätspolitik unter Markgraf Karl Wilhelm von Baden-
Durlach.
Hessische Biographien (hrsg. von Herman Haupt) Bd. 1, Lief. 4
(S. 385 bis 520. Darmstadt, Großh. hess. Staatsverlag. 1918). —
Deutsche Landschaften. 181
Männer von überragender Bedeutung sind in dieser Lieferung, die den
ersten Band der hessischen Biographien zu Ende führt, nicht behandelt.
Das meiste Interesse wird der Historiker dem Leutnant Wilhelm
Schulz entgegenbringen, der in der Revolution von 1848 eine gewisse
Rolle spielte, und dem Fürsten Ludwig zu Solms-Lich, für dessen
Biographie hier freilich kaum mehr als der äußere Rahmen mitgeteilt
wird. Das Fürstenhaus ist vertreten durch den Prinzen Heinrich von
Hessen, der 1866 auf preußischer Seite focht, im Gegensatz zu seinem
doch nicht weniger preußenfreundlichen Bruder Ludwig, dem späteren
Großherzog, sowie durch den Prinzen Friedrich, den Helden der
Idylle, die den Darmstädtern durch Pasques „Es steht ein Baum
im Odenwald" lieb geworden ist. Daneben haben eine stattliche Zahl
von Frauen Arbeiten aus den verschiedensten Lebenskreisen ohne
Übertreibung und lauten Lokalpatriotismus, ihre ansprechende Würdi-
gung gefunden, der Physiker Buff, die protestantischen Theologen
Rinß und Schmidt, der katholische Theologe Humann, der Jurist
Löhr, der Schulmann Bone u.a. (Vgl. H. Z. Bd. 113, S. 624 ff.)
E. Vogt f.
Im Dezember 1578 ließ Herzog Julius von Braunschweig trotz
eifrig evangelischer Gesinnung, um seinem Hause den Besitz gewisser
geistlicher Güter zu sichern, seinem ältesten Sohn die kirchliche Weihe,
seinen beiden jüngeren die Tonsur erteilen. Diese Handlung erregte
den lebhaftesten Widerspruch der Braunschweiger Geistlichkeit, worauf
der Herzog mit der Amtsentlassung des Professors Thimoteus Kirchner,
des ersten Geistlichen der Universität Helmstadt, antwortete. Trotz
einer Eingabe der gesamten Professorenschaft der Universität hielt
der Herzog diese Verfügung aufrecht. Im Braunschweigischen Magazin,
April 1918, teilt Paul Zimmermann den Wortlaut dieser bisher un-
gedruckten Eingabe mit.
Die Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertums-
kunde, Heft 51 bringt eine Arbeit von H. Denker über den Wald-
besitz des Klosters Neuwerk im Oberharz und von M. v. Bahrfeldt
über die letzten Münzprägungen der Grafen von Regenstein 1596
bis 1599.
Den Verlauf und örtlichen Schauplatz der Niederlage der Kaiser-
lichen in der Nähe von Liegnitz am 13. Mai 1634 untersucht Arnold
zum Winkel in den Mitteilungen des Geschichts- und Altertums-
vereins zu Liegnitz, Heft 6; er veröffentlicht eine Anzahl amtlicher
und privater Schlachtberichte. Das Leben des Landeshauptmanns des
Fürstentums Liegnitz, David von Schweinitz (1600 — 1667) schildert
Konrad Klose. Einen wichtigen Beitrag zur Reformationsgeschichte
liefert die Studie von J. Bah low: Die Reformation in Liegnitz; sie
12**
182 Notizen und Nachrichten.
beruht auf guter Literaturkenntnis und auf dem Studium der ein-
schlägigen Akten, von denen die wichtigsten im Anhang abgedruckt
werden.
Die Fortsetzung der an dieser Stelle schon erwähnten Arbeit
von Waldemar Giese: Die JVlark Landsberg bis zu ihrem Übergang
an die brandenburgischen Askanier im Jahre 1291 erscheint in der
Thüringisch-sächsischen Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde
8, 2. Im Anhang wird ein Verzeichnis der zur Grafschaft Wettin bei
ihrem Verkauf an den Erzbischof von Magdeburg 1248 gehörigen Ort>
schatten mitgeteilt. In einem historischen Exkurs beschäftigt sich
der Verfasser mit der Gründungsurkunde des Ciarenklosters zu Weißen-
fels vom 6. September 1284.
„Die Archivverwaltung bei dem Kaiserlich deutschen General-
gouvernement zu Warschau", die im Herbst 1915 unter Leitung des
Danziger Archivdirektors Geh. Archivrat Dr. Warschauer eingerichtet
wurde, erhielt die Aufgabe zugewiesen, gemäß den Bestimmungen der
Haager Landkriegsordnung die beim deutschen Einzug meist hüterlos
zurückgelassenen Archive zu schützen und zugleich den dort vorhan-
denen Quellenstoff zur Geschichte Ostdeutschlands zu erforschen und
wissenschaftlich nutzbar zu machen. In Warschau selbst wurden nicht
weniger als sieben Archive — darunter die der Finanzen und der in-
neren Verwaltung — nebst verschiedenen Geschäftsregistraturen der
Archivverwaltung unterstellt; darüber hinaus aber dehnte diese ihre
Tätigkeit aus auf andere Städte des besetzten Gebietes, auf Privat-
sammlungen, Kirchen- und Gemeindearchive usw. Daß dabei ein außer-
ordentlich reiches Quellenmaterial zur deutschen und besonders zur
preußischen Geschichte im Osten zutage gefördert werden müßte, ist
bei der jahrhundertelangen Verbindung j^ener Landesteile mit Polen
selbstverständlich. Eine besondere Aufmerksamkeit wurde dabei den
Archivalien preußischen Ursprungs zugewandt, die nach dem Tilsiter
Frieden an das Herzogtum Warschau ausgeliefert und nach dem
Wiener Kongreß großenteils nicht zurückgegeben sind. Mit wie schönem
Erfolge die Archivverwaltung dort gearbeitet hat, sieht man jetzt aus
zwei Veröffentlichungen, die in der deutschen Staatsdruckerei in War-
schau gedruckt sind. Der erste Band (Eigentum des Kaiserlich deut-
schen Generalgouvernements. 1917. XL IX u. 190 S.) behandelt „Die
Handschriften des Finanzarchivs zu Warschau zur Geschichte der
Ostprovinzen des preußischen Staates". Nach einer Einleitung über
die Einrichtung der deutschen Archivverwaltung in Warschau und
des polnischen Archivwesens sowie über die bei dieser Veröffentlichung
maßgebenden Gesichtspunkte werden von sachkundigen Händen und
mit größter Sorgfalt nicht wenige^ als 330 Handschriften in vier
Deutsche Landschaften. I8S
Gruppen (Steuerbücher, Zollrechnungen, Lustrationen und Inventare
und Sammelbände) verzeichnet und beschrieben und damit für Ge-
schichte deutscher Städte und deutscher Familien, für Verkehrs- und
Wirtschaftsgeschichte des Ostens, für Baugeschichte — auch der Marien-
burg — usw. Quellen von höchstem Werte erschlossen, die sich der
deutschen Forschung bisher entzogen hatten. Ein Ortsregister erleich»
tert die Benutzung. — Von der zweiten Veröffentlichung „Die preußi-
schen Registraturen in den polnischen Staatsarchiven" liegt bisher
nur der er.te Teil vor (1918, VII u. 153 S.). Unter dem Titel: Die
Gcc^cnichte der preußischen Registraturen" berichtet er die Ausliefe-
rung i reußischer Akten an das Herzogtum Warschau nach dem Til-
siter Frieden, deren Schicksale in polnischer Hand und die höchst
unvollständige Rückgabe nach 1815. In aktenmäßiger, streng sach-
licher Darstellung, die man doch nicht ohne innerste Anteilnahme
lesen kann, wird hier gezeigt, wie nach 1807 die gewalttätige Ein-
mischung der Franzosen, die in die Archive selbst eindrangen, und
nach dem Wiener Kongreß die Nachlässigkeit preußischer Vertreter
die preußischen Archivbestände auf das schwerste geschädigt haben.
— Das zweite Heft dieser Veröffentlichung soll die „vorgefundenen
Bestände der preußischen Zentralregistraturen, ein drittes die in den
jetzt polnischen Bezirken selbst entstandenen Landesregistraturen,
auch die schlesischen Registraturen beleuchten, sowie die Quellen-
nachweisungen und Register für das ganze Werk geben". P. B.
Einen kurzen Überblick über den Kampf der Universität Dorpat
gegen die Russifizierung und über die speziellen Beziehungen zwischen,
den Universitäten Dorpat-Rostockgibt Otto Staude in seiner Rostocker
Rektoratsrede: Dorpat und Rostock. Rostock 1918, 16 S.
Kulturhistorisches Interesse bietet der Artikel über Sitten und
Gebräuche im großen Walsertale von Ignaz Konzett in der Viertel-
jahrschrift für Geschichte und Landeskunde Vorarlbergs, 1918, Heft 3
und 4; besonders ausführlich geht er ein auf die Gebräuche bei Ge-
burt, Taufe, Hochzeit und Tod.
Neue Bücher: Steck und Tob 1er, Aktensammlung zur Geschichte
der Berner Reformation 1521—1532. Lieferg. 1. 2. (Bern, K- J. Wyß
Erben. 5 M.) — Thdr. Pestalozzi, Die Gegner Zwingiis am Groß-
münsterstift in Zürich. (Zürich, Gebr. Leemann & Co. 4,50 M.) —
Urkundenbuch der Abtei Sankt Gallen. VI. Teil, Lief erg. 2 (1448 —
1453), bearb. v. Traügott Schieß. (St. Gallen, Fehr. 28 M.) — Hor-
ning, Der Humanist Dr. Nikolaus Gerbel, Förderer luther. Reforma-
tion in Straßburg (1485—1560). (Straßburg, Heitz. 3 M.) — Soll-
eder, Urkundenbuch der Stadt Straubing. 1. Bd. (Straubing, Hiscor.
Verein für Straubing und Umgebung. 20 M.) — Karl Wagner, Regi-
184 Notizen und Nachrichten.
ster zur Matrikel der Universität Eriangen 1743—1843. (München,
Duncker & Humblot. 28 M.) — Thürauf, Die öffentliche Meinung
Im Fürstentum Ansbach-Bayreuth zur Zeit der französischen Revolu-
tion und der Freiheitskriege. (München, Beck. 6 M.) — Goldschmit,
Geschichte der badischen Verfassungsurkunde 1818 — 1918. (Karlsruhe,
Braun. 6 M.) — Schwemer, Geschichte der freien Stadt Frankfurt
a. M. (1814—1866). 3. Bd., 2. Tl. (Frankfurt, Baer & Co. 7,50 M.)
Vermischtes.
Historische Kommission für Hessen und Waldeck. Seit
dem letzten Jahresbericht (Juli 1914) wurden ausgegeben: 1. Urkund-
liche 'Quellen zur hessischen Reformationsgeschichte. Einleitung: Terri-
torium und Reformation in der hessischen Geschichte 1526 — 1555 von
Walter Sohm (1913). 2. Hessisches Klosterbuch von Wilhelm Dersch
<1915). 3. Klosterarchive. 1. Bd.: Die Klöster der Landschaft an der
Werra. Regesten und Urkunden, bearbeitet von Albert Huyskens
(1916). 4. Quellen zur Rechtsgeschichte der hessischen Städte. 1. Bd.:
Quellen zur Rechtsgeschichte der Stadt Marburg. 1. Bd. bearbeitet
von Friedrich Küch (1918). Die Regesten Ludwigs I. (Armbrust)
liegen seit Herbst 1916 druckfertig vor. Von der „Behördenorganisa-
tion" hat Gundlach den 1. Band ganz und den 2. nahezu abge-
schlossen. Von den Quellen zur Rechts- und Verfassungsgeschichte
der hessischen Städte hat Küch das Manuskript für den 2. Band
Marburg abgeschlossen und Vorarbeiten für andere Städte erledigt.
Von der^Ropp vollendete die archivalischen Vorarbeiten für den
ökonomischen Staat Landgraf Wilhelms IV. Reimer gedenkt die
Arbeit des Ortslexikons binnen wenigen Monaten abzuschließen.
Die Historische Kommission für die Provinz Westfalen
hat, wie wir A. Meisters Bericht über die 22. Jahresversammlung
entnehmen, im Jahre 1917 veröffentlicht: Inventare der nichtstaat-
lichen Archive Bd. 3, H. 3 (Kreis Lüdinghausen); Mindener Geschichts-
quellen Bd. 1: Die Bischofschrpniken des Mittelalters, hrsg. von Kl.
Löffler. — Das Register zum 7. Band des Westfälischen Urkunden-
buchs ist im Druck fast abgeschlossen. Für die Inventare der nicht-
staatlichen Archive hat Archivar H. Müller das Inventar des Hauses
Hülshof bearbeitet, Schmitz-Kallenberg einen Teil des gräfl. Galen-
schen Archivs und einige kleinere Archive des Stadtkreises Münster;
das Inventar für den Kreis Paderborn (Linneborn) ist im Druck.
Von den darstellenden Geschichtsquellen sind durch Löffler der
2. Band der Mindener Geschichtsquellen (Tribbes Beschreibung von
Stift und Stadt Minden) außer der Einleitung und die Chronik von
Frenswegen druckfertig vorgelegt. Die von Didier vorbereitete Aus-
Vermischte». 185
gäbe des Briefwechsels des Fürsten Karl Theodor Otto von Salm-
Salm will man für die Veröffentlichungen der Kommission zu gewinnen
suchen. Ein von Meister vorgelegtes Schema der Bearbeitung des
westfälischen Adelslexikons wurde gebilligt.
Aus dem Bericht der Kommission für neuere Geschichte
Österreichs über das Jahr 1917/18 erwähnen wir folgendes: Von
dem 2. Bande der Familienkorrespondenz Ferdinands I. (W. Bauer)
steht nur die Bearbeitung der Briefe von 1530 und 1531 noch aus.
Bibl hat den 2. Band der Familienkorrespondenz Maximilians II.
(August 1566 bis Ende 1567) druckfertig vorgelegt. Die Arbeiten für
den 3. Band (1568—1569) sind so gut wie beendet.
Preisaufgabe der Samsonstiftung bei der Kgl. Bayrischen
Akademie der Wissenschaften im Jahre 1918: „Die Bestattungssitten
der ältesten Zeit im Bereich der antiken Kultur sollen auf Grund einer
möglichst vollständigen kritischen Sammlung der Funde und Fund-
berichte so dargestellt werden, daß sich Schlüsse auf die Vorstellungen
vom Weiterleben des Toten und auf die Verpflichtungen, für das Wohl-
ergehen des Toten zu sorgen, ergeben, welche aus diesen Vorstellungen
für die Überlebenden erwuchsen. Als zeitliche Grenze dieser ältesten
Zeit wird zweckmäßigerweise die Epoche des geometrischen Stils
(diese noch einbezogen) anzunehmen sein. Eine räumliche Beschrän-
kung auf den Osten oder den Westen der antiken Welt ist gestattet."
Bearbeitungszeit 3 Jahre (nach Beendigung des Krieges). Preis 3000 M.
Preisaufgaben der Teylerschen Theologischen Gesell-
schaft zu Haarlem. 1. Zur Beantwortung vor 1. Januar 1920: „Die
Gesellschaft verlangt eine Entwicklungsgeschichte der , Bewußtseins-
oder Erfahrungstheologie* seit Schleiermacher." 2. Zur Beantwortung
vor 1. Januar 1921: Eine Abhandlung über den Platz der Sünde im
religiösen Leben der Menschen nach moderner Auffassung. — Preis
Goldene Medaille oder 400 fl. Von den Bestimmungen der Gesellschaft
seien die folgenden, da sie sonstigen Gepflogenheiten widersprechen,
einmal im Wortlaut mitgeteilt: „Alle eingesandten Antworten fallen
der Gesellschaft als Eigentum anheim, welche die gekrönten, mit oder
ohne Übersetzung, unter ihre Werke aufnimmt, so daß die Verfasser
sie nicht ohne Erlaubnis der Stiftung herausgeben dürfen. Auch be-
hält die Gesellschaft sich vor, von den nicht mit dem Preis
gekrönten nach Gutfinden Gebrauch zu machen, mit oder
ohne Vermeldung des Namens der Verfasser, doch im ersteren Falle
nicht ohne ihre Bewilligung." Einsendung (mit Kennwort) an: „Fun-
datiehuis van wijlen den Heer P. Teyler van der Hülst, te Haarlem."
Ibero-amerikanischer Studienpreis, anläßlich der drei-
hundertsten Wiederkehr des Todestages von Cervantes begründet für
186 Notizen und Nachrichten.
deutsche Doktordissertationen, Habilitationsschriften und wissen-
schaftliche Erstlingsveröffentlichungen. Erster Preis: 1000 M. und
die Ibero-amerikanische Medaille für wissenschaftliche Studien. Der
Gegenstand einer an dem Wettbewerb teilnehmenden Arbeit muß ganz,
oder vorwiegend der Pyrenäenhalbinsel, dem spanischen Amerika oder
Brasilien angehören. Nur eine 1918 im Druck erschienene wissen-^
schaftliche Arbeit, deren Verfasser deutscher Staatsangehörigkeit ist
oder, von Deutschen abstammend, in einem ibero-amerikanischen
Lande geboren, wurde, wird zum Wettbewerb zugelassen. Sie ist ia
fünf Exemplaren, unter Beifügung der Adresse des Verfassers, seines
Studienlaufes und des Staatsangehörigkeitsnachweises bis zum 1. Juli
1919 dem Wissenschaftlichen Rat des Ibero-amerikanischen Instituts,
Hamburg 36, zur Verfügung zu stellen.
Aus der Totenliste des Jahres 1917 seien nachgetragen : W. Meyer
aus Speyer (geb. 1845), der Meister der lateinischen Philologie des
Mittelalters, t 9. März; der Jesuitenpater Emil Michael (geb. 1852
in Reichenbach, f 12. März), bekannt durch sein tendenziöses Buch
über Döllinger und seine „Geschichte des deutschen Volkes seit dem
13. Jahrhundert bis zum Ausgang des Mittelalters" (6 Bde. 1897 —
1917), die in manchem Kleinen verdienstlich, doch nicht nur äußer-
lich ein Janssen für das Mittelalter ist; Eugen v. Philippovich
(geb. 1858 in Wien, f 4. Juni), von dessen Werken neben dem
„Grundriß der politischen Ökonomie" namentlich die kleine Schrift
„Die Entwicklung der wirtschaftspolitischen Ideen im 19. Jahrhun-
dert" (1910) bei uns Historikern Beachtung gefunden hat; der Stutt-
garter Archivar Adolf Pischek (geb. 1875 in Stuttgart, gefallen in
Flandern am 8. Juni), der mit seiner ungewöhnlich reifen Dissertation
über „Die Vogtgerichtsbarkeit süddeutscher Klöster" (1907) der kirch-
lichen Verfassungsgeschichte eine stark nachwirkende Anregung gegeben
hat; der Senior unter den geistigen Führern des Ältkatholizismus Johan-
nes Friedrich (geb. 1836 zu Poxdorf in Oberfranken, fia Juli), der
seiner Döllinger-Biographie durch den Stoffreichtum, seiner Geschichte
des vatikanischen Konzils durch eine zwar nicht unparteiische, aber
eindringliche Behandlung einzelner Gedankenreihen bleibenden Wert
zu verleihen wußte; Moriz Hoernes (geb. 1851 in Wien, f im Juli), der
Verfasser zahlreicher Einzeluntersuchungen und mehrerer zusammen-
fassender Darstellungen über die Urgeschichte; Heinrich Boos in
Basel (geb. 1851 in Kannstatt, f im Juli), der sich durch seine Quellen-
veröffentlichungen zur Baseler und zur Wormser Geschichte verdient
gemacht hat und durch die namentlich wegen der kraftvollen Zeich-
nungen Joseph Sattlers geschätzte „Geschichte der rheinischen Städte-
kultur" auch weiteren Kreisen bekannt geworden ist; Otto Kaemmel
(geb. 1843 in Zittau, f im September), dessen Forschungen der deut-
J
Vermischteft. 187
sehen Besiedelung des Ostens, der sächsischen Geschichte, dem Un-
terichtswesen und der Geschichte Bismarcks galten, der aber auch
durch seine anspruchslos-hübscnen Bücher über Italien und nament-
Jich seine gut angelegten und gut lesbaren Darstellungen der deut-
schen und der allgemeinen neueren Geschichte eine bei uns Deut-
schen noch viel zu wenig geübte Befähigung zu volkstümlicher Ver-
wertung wissenschaftlicher Arbeit gezeigt hat; Adolf Wagner (geb.
1835 in Erlangen, f 8. November, der unserem Arbeitsgebiete nicht
^anz so nahe stand wie der wenige Monate vor ihm verstorbene
Gustav Schmoller (vgl. H. Z. 118, S. 477 ff.), aber mit seinen theo-
retischen Schriften und seinen finanzgeschichtlichen Forschungen
auch für die Geschichtswissenschaft große Bedeutung gewonnen hat;
Pasquale Villari (geb. 1827 in Neapel, f 6. Dezember), der aus-
gezeichnete italienische Geschichtschreiber, der namentlich durch seine
Werke über Savonarola und Machiavelli auch die von ihm hoch ge-
schätzte deutsche Wissenschaft vielfach anzuregen vermochte.
Am 7. Januar 1918 starb Hugo Laemmer in Breslau (geb. 1835
in AUenstein), der sich als junger Berliner Privatdozent von der evan-
gelischen Theologie zum Katholizismus hinwandte und dann, seit
1859 Priester und Dr. theol., mehr als ein halbes Jahrhundert lang
seine Arbeitskraft der Geschichte der katholischen Kirche, zumal der
Geschichte ihres Rechtes und ihrer Theologie widmete.
Am 7. Januar 1918 starb Julius Wellhausen in Göttingen
(geb. 1844 in Hameln), der hervorragende Kenner des Alten und Neuen
Testaments, der israelitischen und der arabischen Geschichte; seine
glänzenden Bücher „Prolegomena zur Geschichte Israels" (zuerst als
„Geschichte Israels 1. Bd." 1878), „Israelitische und jüdische Geschichte'*
(zuerst 1894) und seine bedeutenden Untersuchungen über die Araber
stellen ihn in die vorderste Reihe der Geschichtsforscher des ausgehen-
den 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Wir verweisen auf den
wundervollen Nachruf von Eduard Schwartz in den Geschäftlichen
Mitteilungen der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften (1918)
S. 43—73.
Theobald Ziegler, geb. 1846 in Göppingen, bis 1911 Professor
in Straßburg, ist im September 1918 gestorben. Von seinen Werken be-
rühren uns am nächsten seine gewandte, halb populäre Geschichte
der Pädagogik, sein umfängliches Buch „Die geistigen und sozialen
Strömungen des 19. Jahrhunderts" — das leider manchmal zu stark
von Tagesstimmungen ergriffen ist und sich gelegentlich zu sehr dem
Ton der Tagesschriftstellerei nähert, als daß es der großen Aufgabe
ganz hätte gerecht werden können — , endlich das mit Wärme geschrie-
bene Werk über David Friedrich Strauß.
188 Notizen und Nachrichten.
Am 2. Dezember 1918 starb der Geh. Oberkonsistorialrat und
Probst Gustav Kawerau in Berlin (geb. 1847 zu Bunzlau). Wir er-
innern an seine Arbeiten zur Reformationsgeschichte, insbesondere
die Neubearbeitung der Lutherbiographie Köstlins, den 3. Band der
Möllerschen Kirchengeschichte und an seine bedeutenden Verdienste
um die Weimarer Lutherausgabe.
Im Januar 1919 starb der Wiener Professor der alten Geschichte
Adolf Bauer (geb. 1855 in Prag). Es sei hier namentlich seiner Ar-
beiten zur Geschichte der antiken Geschichtschreibung, sowie seiner
Untersuchungen und zusammenfassenden Darstellungen über die Ent-
stehung der christlichen Weltchronistik gedacht.
Dem österreichischen Geschichtsforscher Josef von Zahn, der
vornehmlich auf dem Gebiete der steiermärkischen Geschichte gearbeitet
hat, widmete A. von Jaksch in den Mitteilungen des Instituts für
österreichische Geschichte 37 (1916), 534 — 539 einen Nachruf.
Über den 1915 verstorbenen F. L. Baumann (vgl. U.Z. 115,
4, 71) handelten ausführlich: Riedner in den Dtsch. Geschichtsblättern
17 (1916), S. 29—47 und Tumbült in der Zeitschrift für Geschichte
des Oberrheins, N. F. 31 (1916), 116 — 129 (mit einem Verzeichnis der
Arbeiten Baumanns); Edward Schröders Gedächtnisrede auf Wilhelm
Meyer ist in den Nachrichten der Götting. Gesellsch. d. Wissensch.
1917, Geschäftl. Mitteil. S. 76—84 abgedruckt.
Einen kurzen Nachruf auf den durch seine Arbeiten zur badi-
schen und preußischen Verfassungsgeschichte bekannten Göttinger
Privatdozenten Paul Lenel (geb. 1884 in Kiel, gefallen in Frank-
reich 1. Okt. 1918) veröffentlicht C. Brinkmann in der Zeitschrift der
Savignystiftung, Germanist. Abteilung 39 (1918), 378 f.
Beriditigung.
Im vorigen Bande ist S. 473 Z. 30 „h^c" statt „ec" zu lesen,
S. 476 Anm. 1 „Angelo in", S. 477 Z. 161 „petere".
Ein methodischer Versuch
von
Eugen Täubler.
I.
^Römisches Staatsrecht und römische
H Verfassungsgeschichte.
römischen Behandlung stehen geblieben im Ämterrecht. — Ursachen
dessen. — Anschauungen über das Wesen des Staats. — Konsequenzen
für die Konstruktion des Staatsrechts: Funktionen und Organe. —
Bürgerschaft und Magistrat.
Die Römer kannten den Begriff des Staatsrechts in
unserem Sinne nicht. Sie unterschieden öffentliches und
privates Recht nach der bekannten Definition Ulpians
(D. 1, 1, 1, 2): quod ad statum rei Romanae spectat . . quod
ad singulorum utilitatem und sahen den Sachbereich des
öffentlichen Rechts in sacris, in sacerdotibus, inmagistratibus.^)
Diese Dreiteilung enthält eine Ungleichmäßigkeit. Neben
der Parallele von Priesterschaften und Ämtern fehlt auf der
staatlichen Seite das den heiligen Dingen Entsprechende.
Es müßte lauten: in rebus publicis und müßte all das ent-
halten, was über das Ämterrecht hinaus von den staat-
lichen Dingen rechtlich erfaßbar ist: die Organisation und
Zuständigkeit der nichtmagistratischen Organe (des Senats
und der Volksversammlung), die Funktionen des Staats,
^) Die Bezeichnungen, ihren Inhalt und ihren Geltungsbereich
entwickelt E. Ehrlich, Beiträge zur Theorie der Rechtsquellen, 1902,
S. 159 ff.
Historische Zeitschrift (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd. 13
190 Eugen Täubler,
seine Eigenrechte und die rechtlichen Gegenseitigkeits-
Verhältnisse des Staats und der Einzelnen. Aber diese Teile
fehlen doch nur scheinbar. Sie sind in Wirklichkeit im Ämter-
recht enthalten, sind in dieses über die Notbrücke einbezogen
worden, daß die nichtmagistratischen Organe nur zusammen
mit den magistratischen handlungsfähig und die abgestuften
Bürgerrechte die Voraussetzungen beider waren. Wie es
zu dieser Einbeziehung kam, erklärt sich zunächst daraus,
daß die Entwicklung des römischen Rechts aus der Praxis
der verschiedenen magistratischen bzw. priesterlichen Be-
fugnisse erfolgte. An diese hielt sich dann auch die Rechts-
wissenschaft, soweit sie nicht zu begrifflich-systematischer
Bearbeitung gelangte; und dies war nur auf dem Gebiete
des Privatrechts der Fall.
Andere Ursachen kamen hinzu. Ich deute nur an, daß
es nicht die Pontifices und die Fachjuristen, sondern die
Antiquare waren, die das Staatsrecht behandelten, daß auch
bei uns das Staatsrecht viel später als das Privat- und Straf-
recht zu begrifflicher Durchbildung gelangte, daß in der
Blütezeit der römischen Rechtswissenschaft die abgestor-
benen Verhältnisse der Republik dem juristischen Denken
entrückt waren, schließlich, daß das Wesen des Staats
den Römern begrifflich nur mangelhaft zu Bewußtsein
kam.
Während heute als Resultat einer späten Erkenntnis
fast allgemein die Anschauung herrscht, daß zu den Wesens-
bestandteilen eines Staats ein Land, Menschen und eine der
Idee nach unabhängige Willensorganisation gehören, be-
schränkten die Römer, wie die Griechen, den Staatsbegriff
auf ein Element, das Volk. Die beiden anderen Elemente
wurden nur als Zubehör der Bürgerschaft empfunden,
das Land als Besitz, die Herrschaft als gewillkürte Ordnung.
Dieser Staatsbegriff war in unserem Sinne nur ein Gesell-
schaftsbegriff. So erscheint er auch in der philosophischen
Terminologie der Griechen und Römer und als solchen
hat ihn nicht einmal das Staatsrecht des Principats über-
wunden: der Princeps galt nicht als unmittelbarer Träger
der Herrschaft, sondern lege de imperio als rechtlicher Ver-
treter der souveränen Gesamteinheit des Volks.
Römisches Staatsrecht ond römische Verfassungsgeschichte. 191
Diese Verschiedenheit zwischen der modernen und der
antiken Begriffsbestimmung des Staates hat Konsequenzen
in der Konstruktion des Staatsrechts.
Erscheint die Staatsgewalt als selbständiger Wesensteil,
so drängt die staatsrechtliche Konstruktion ebenso wie wohl
immer auch die geschichtliche Entwicklung von selbst zu
einer Einteilung nach dem Maß größtmöglicher Ausschließ-
lichkeit der Unterteile, d. h. zunächst in die bekannte
Teilung von Gesetzgebung, Justiz und allgemeiner Ver-
waltung und weiterhin in die einzelnen Tätigkeitsbereiche;
das sind die Funktionen des Staats. Neben ihnen stehen
in einer gesonderten Reihe die beschließenden und ausfüh-
renden Organe.
In einem Staatswesen, in dem alle Herrschgewalt nur
ein Ausdruck des Volkswillens ist, könnte das natürlich
ebenso der Fall sein. Aber die Verschiedenheit bezeichnet
zugleich eine Verschiedenheit der geschichtlichen Entwick-
lungsstufen und die Funktionenteilung einen sehr hohen
Grad der Staatsentwicklung. Sie ist erst ein Erzeugnis
des 18. Jahrhunderts, wenn Aristoteles ihr auch begrifflich
schon nahe kam. Rom zeigt die Konsequenz der anderen
Voraussetzung. In Rom ist die Befehlsgewalt ungeteilt
auf die Konsuln übergegangen, und abgesehen von dem ganz
aus der Reihe heraustretenden Tribunat sind alle anderen
ordentlichen Ämter Abspaltungen dieses einen, sie der Idee
nach immer in sich vereinigenden Amts. Auf diesem Wege
konnte es zu einer klaren Teilung der Funktionen nicht kom-
men. Wenn auch die Gesetzgebung bestimmt gesondert
war und im Bereich der Stadt seit Schaffung der Prätur
auch die Justiz sich immer deutlicher sonderte, so zeigen
doch nicht nur die außerordentlichen Magistraturen, son-
dern auch der Imperienträger außerhalb des Pomerium
I und die Koerzitionsgewalt im ganzen, alle anderen Funk-
tionen im einzelnen, daß ihre Teilung nur eine unvollkommene
Folgeerscheinung der Ämterabspaltung war.
i Zu den Tatsachen, daß die Römer den Begriff einer
! von der Bürgerschaft gesonderten Staatsgewalt nicht kann-
j ten und daß die Staatsfunktionen ihnen völlig hinter der
I Ämterorganisation zurücktraten, kommt das Verhältnis
i 13*
192 Eugen Täubler,
von Magistrat und Volk hinzu. Rechtlich war der Magi-
strat nur der Beauftragte des Volks. Da das Volk aber ohne
ihn nicht handlungsfähig, jeder Volksbeschluß zugleich
magistratisches Edikt war und die Initiative ausschließlich
bei dem Magistrat lag, so hat dies als Letztes und Augen-
fälligstes bewirkt, daß sich den Römern der Begriff des
Staatsrechts nicht zur Selbständigkeit entwickelte, sondern
völlig im Banne des Ämterrechts blieb.
IL
Das Neue in Mommsens Staatsrecht: der Name, die Begriffe,
Trennung der magistratischen und der nichtmagistratischen Organe.
— Gebundenheit an das Ämterrecht. — Dessen Überwindung im Ab-
riß: am Anfang über die Bürgerschaft und das Reich; Trennung
der Funktionen von den Organen. — Unmöglichkeit genauer Scheidung.
— Staatsrecht und Staatsverwaltung, Verwaltungsrecht und Verwal-
tungsgeschichte. — Für Mommsen ist der Staat wesentlich ein Rechts-
organismus. — Wie weit kann im Staatsrecht das Wesen des Staats
zum Ausdruck kommen ? — Der Blick von innen. — Staatsrechtliche
Schranken in Mommsens Behandlung der Staatsformen. — Wie weit
kann die Verwaltungsgeschichte das Wesen des Staats erfassen? —
Allgemeine Geschichte und Verfassungsgeschichte.
Schon der Ausdruck „Römisches Staatsrecht" bedeutet
deshalb bei Mommsen ein neues Programm. Aber die alte
Form wurde durch die Ausführung nicht überwunden.
Mommsen hat die nichtmagistratischen Organe, Volksver-
sammlung und Senat, aus der Systematik der Magistrate
herausgelöst und die allen Ämtern zugrunde liegenden Rechte
begrifflich zusammengefaßt, als Grundlegung einer „be-
grifflich geschlossenen und auf konsequent durchgeführten
Grundgedanken wie auf festen Pfeilern ruhenden Dar-
legung, die das Wesen wie jedes Rechtssystems so auch des
Systems des römischen Staatsrechts" ist.^) Mommsen
hat damit im Staatsrecht, wie später auch im Strafrecht,
das geleistet, was das Altertum nur auf dem Gebiete des
Privatrechts hervorgebracht hatte: die begrifflich-syste-
matische Bearbeitung. — Aber über den altrömischen Ge-
sichtspunkt des Ämterrechts führte das nicht wesentlich
hinaus: da die Darstellung nicht von der Bürgerschaft, son-
1) Römisches Staatsrecht I, Vorwort zur 1. Auflage.
Römisches Staatsrecht und römische Verfassungsgeschichte. 193
dern von der Magistratur ausgeht, scheinen Bürgerschaft
und Senat, zumal die Initiative für beide bei dem Magistrat
lag, beinahe aus dem Ämterwesen herauszuwachsen, und was
innerhalb der Bürgerschaft gelegentlich darüber hinausführt,
läßt sich, streng genommen, durch die Systematik des Staats-
rechts nicht mehr rechtfertigen.
Sechs Jahre nach der Vollendung des Staatsrechts,
22 Jahre nach dem Abschluß des ersten Bandes, faßte
Mommsen das Ganze noch einmal in ganz neuer Gliederung
in einem Abriß zusammen. Er ließ sich nun durch die über-
ragende Bedeutung der Magistratur nicht mehr an einer
freieren Auffassung des Staatswesens hindern. Im ersten
Staatsrecht hatte er alle Fragen, welche die Entstehung
und Gliederung der Bürgerschaft, die nichtbürgerlichen
Reichsangehörigen, die Verbündeten, die Beziehungen zum
Ausland, das Städtewesen und das Reich als Gebiet betreffen,
in Verbindung mit den Fragen über Organisation und Funk-
tion der Bürgerschaft unter dem überdies völlig unzuläng-
lichen Titel „Die Bürgerschaft*' an der Stelle behandelt,
an die allein die letzten Fragen gehören, i) Im Abriß löste
er die erste Gruppe aus der Unselbständigkeit, in die sie
im Rahmen des Volks als Organ der Staatstätigkeit hinein-
gezwungen war, und stellte sie unter dem Titel „Die Bürger-
schaft und das Reich" an den Anfang. Ebenso verfuhr er
mit den Gebieten der Staatstätigkeit. Im ersten Staats-
recht führten sie kein eigenes Leben, sondern waren uiiter
die Befugnisse der Organe, sowohl der Magistrate als auch
der Volksversammlungen und des Senats, aufgeteilt, und
da nicht einmal innerhalb der Magistrate eine Scheidung
der Tätigkeitsgebiete durchgeführt war, mußten sie völlig
zerrissen werden. Im Abriß sind die Organe und die Funk-
tionen selbständig nebeneinander behandelt, und so wird
neben der Materialisierung des Staats im Bilde seiner Or-
gane seine seelische Erscheinung im Bilde der Funktionen
sichtbar.
Restlos durchführen läßt sich die Teilung allerdings
nicht, namentlich nicht für den Senat, bei dem der Fall
1) 3. Band, 1. Abteilung.
194 Eugen Täubler,
SO liegt, daß nicht die geschichtlich schwankenden Äuße-
rungen seiner Tätigkeit aus normierten Befugnissen, sondern
die Befugnisse gewohnheitsrechtlich aus den usurpierten
Betätigungen abzuleiten sind. Die Unmöglichkeit, die Kate-
gorien sauber gegeneinander abzugrenzen, greift aber viel
weiter, sie erstreckt sich auf die ganze Grenzlinie von Willens-
festsetzung und Willensbetätigung, von Staatsrecht und
Staatsverwaltung. Ideell ist die Verwaltung nur die An-
wendung des Staatsrechts. Tatsächlich geht sie aber weit
über den Kreis dessen hinaus, was sich rechtlich vorher-
bestimmen läßt und schafft aus sich heraus neues Recht.
Wie die Responsa der Rechtsgelehrten und die prätorischen
Edikte auf dem Gebiete des Privatrechts, so muß im Staats-
recht die Befehlsgewalt der Magistrate und die Geltung des
senatorischen Rats rechtverändernd und rechtschaffend ge-
wirkt haben. Der letzte Ausdruck dessen ist die Gesetzes-
kraft der kaiserlichen Konstitutionen, allgemeiner angesehen:
die Überwindung des Volks durch die Magistratur im Prin-
zipat, die Verdrängung des Staatsrechts durch das kaiser-
liche Verwaltungsrecht.
Eine Unterscheidung dieser beiden, wie sie sich erst
seit den letzten Jahrzehnten im modernen Recht durch-
setzt, kann im römischen Recht allerdings nicht versucht
werden. Alles was in der Staatstätigkeit rechtlich erfaßbar ist,
muß in das Staatsrecht hineingezogen werden. Da dies
aber nur für einen Teil der Verwaltungstätigkeit möglich
ist und die Funktion in der Einheit des Rechtlichen und
Tatsächlichen besteht, so ist damit gegeben, daß sich die
Staatsfunktionen rechtlich nicht völlig darstellen lassen.
Neben das Staatsrecht muß, ohne daß Wiederholungen
sich vermeiden ließen, die „materiell geordnete Darlegung"
d. h. die Staatsverwaltung treten, nicht als Verwaltungsrecht,
sondern als Verwaltungsgeschichte.
So hatte Mommsen es sich gedacht i), als er die Insti-
tutionen des römischen Staates aus der lebendigen Anschauung
des gesamten Organismus heraus zur Darstellung brachte
und die der ergänzenden Staatsverwaltung vorbehaltenen
^) Er sprach sich darüber im Vorwort zur 2. Auflage des 1. Ban-
des aus.
Römisches Staatsrecht und römische Verfassungsgeschichte. 195
Funktionen dabei nur soweit berücksichtigte, als es nötig
Mrar, um die Tätigkeit des Organs zur Anschauung zu bringen.
Aber der Rechtsorganismus sollte mehr zum Ausdruck bringen
als sich selbst; Mommsen glaubte, mit ihm seine Ansichten
„über das römische Staatswesen"^) dargelegt zu haben.
War diese Hoffnung erlaubt? Ist das Staatsrecht
imstande, in sich das Wesen des Staates, mehr als das recht-
liche Wesen des Staats, zum Ausdruck zu bringen? Momm-
sen hat das Staatsrecht nicht innerhalb des Zusammenhangs
einer umfassenderen Anschauung vom Wesen des römischen
Staats abgegrenzt und mit keinem Wort eine über das Recht-
liche hinausgehende Wesensbestimmung angedeutet. Nimmt
man den politischen Anschauungskreis hinzu, aus dem er
herauswuchs, so wird man wohl annehmen dürfen, daß die
Lebenserscheinung des Staates sich ihm ihrer Struktur nach
wesentlich als ein Rechtsorganismus darstellte. Der Staat
als Erscheinung blieb ihm an seine Ordnungen gebunden.
Seine Wesensbestimmung, die er weder begrifflich noch in
umschreibender Zusammenfassung versuchte, hätte ihn nicht
über die Grenzen des Staatsrechtlichen hinausgeführt.
Das ist nun die Frage: wie weit ist das Staatsrecht
imstande, das Wesen des Staats in sich zum Ausdruck zu
bringen? Das römische Staatsrecht wird dazu in höherem
Grade als irgend ein anderes fähig sein. Die Allmacht des
Rechtsgedankens durchdringt in Rom den Staat nicht we-
niger als die bürgerlichen Verhältnisse. Der römische Genius
offenbart sich in beiden in der Sprache des Rechts, in einer
begrifflichen Geschlossenheit, die in der Tat „auf konse-
quent durchgeführten Grundgedanken wie auf festen Pfeilern"
zu ruhen scheint. Der Strahlungsbereich der Rechtsord-
nungen ist unbegrenzt; alle Bestandteile und alle Tätigkeits-
bereiche des Staats werden von ihm durchdrungen: die
territoriale Schichtung des Reichs ist ebenso wie die natio-
nale, die gesellschaftliche und die wirtschaftliche des Volks
rechtlich determiniert, ja sogar das freie Spiel der Politik
ist nach innen und nach außen durch Voraussetzungen
und Formen rechtlich gebunden. So stark sich danach der
^) Vorwort zur 3. Auflage des 1. Bandes.
196 Eugen Täublerj
Staat als Ganzes in seinen Rechtsordnungen spiegelt: diese
können sein Wesen doch nur soweit wiederspiegeln, als es
ihrer eigenen rechtlich gebundenen Wesenheit erfaßbar ist.
Der Staat als zusammengesetzter Gebiets- und Volkskörper
und als Machtorganisation, die nicht nur rechtlich mit ihren
Ordnungen, sondern auch handelnd mit den Tendenzen
und Systemen ihrer inneren und äußeren Politik in einer
gewissen Geschlossenheit zur Erscheinung kommt — das
ist eine Anschauung, die über die Grenzen des Staatsrecht-
lichen weit hinausführt. In der geschichtlich umkleideten
Begriffswelt des Staatsrechts wird der Staat nur mechanisch,
nicht auch substanziell, morphologisch und dynamisch
sichtbar, und ferner erscheint er als ein sich nach den Ge-
setzen einer inneren Systematik ganz aus sich selbst ent-
faltendes Eigengebilde, während eine umfassendere An-
schauung nicht verkennen wird, daß auch die politische
Umwelt auf seine äußere und innere Gestaltung eingewirkt
hat.
Das sei hier zunächst nur ganz im allgemeinen zur Be-
gründung einer über das Staatsrechtliche hinausgehenden
Auffassung vom Wesen des Staats angedeutet.
Das Staatsrecht selbst wird von diesen Bemerkungen
nicht berührt, und die Einschränkung dessen, was es im
Verhältnis zum ganzen Staatswesen zum Ausdruck bringt,
soll auch keineswegs bedeuten, daß es nur die eigene Welt
der Begriffe und ihrer geschichtlichen Wirklichkeitsformen
zum Ausdruck zu bringen vermöchte. Jedem Staatsrecht
wohnt eine Anschauung vom Wesen des Staats inne. Jedes
geschichtliche Staatsrecht ist ebenso sehr Geschichte wie
System. Aber es ist immer nur der Blick von innen, der
sich von ihm aus erschließt, und auch dieser streift nur von
fern die politischen und gesellschaftlich-wirtschaftlichen
Inhalte, die Aristoteles und sein Erneuerer Röscher in den
Schematismus ihrer Kategorien zu bannen versuchten.
Der Staat, der in Mommsens Darstellung sich in seinen
Ordnungen offenbart, ist nicht die den weiteren Rahmen
unseres Staatsbegriffs ausfüllende geschichtliche Erschei-
nung, sondern das nur die Bürgerschaft subjektivierende
gemeine Wesen, die res publica. So hochbedeutsam es ist,
Römisches Staatsrecht und römische Verfassungsgeschichte. 197
daß Mommsens Staatsrecht auf diese Weise, gebunden an
die alten Anschauungen von Staat und Ämterrecht, gewisser-
maßen zu einer antiken Quelle wird, uns gewissermaßen
die wiedergefundenen Institutionen des römischen Staats
so gibt, wie sie ein juris publici peritus von seinem Geiste,
mit dem Rom nicht gesegnet war, hätte geben können, so
nötig ist es anderseits, sich der Schranken, die im Prinzip
liegen, bewußt zu werden. Aus dem staatsrechtlichen Prinzip
heraus ist es zu verstehen, daß der Prinzipat in seiner Dar-
stellung weniger als Staatsform, denn als Magistratur er-
scheint und daß ihm über dem Neuen in den Institutionen
Diokletians die entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge
zwischen Prinzipat und Dominat verborgen blieben. Wie
der Prinzipat erscheint auch das Königtum, losgelöst aus
seinem natürlichen Zusammenhange mit dem Stamm- und
Geschlechterstaat, nur als Magistratur, und selbst innerhalb
der Republik, in welcher der Organismus der Institutionen
noch am ehesten imstande ist, eine gewisse Anschauung
vom Wesen des Staats zu vermitteln, macht die systematische
Zergliederung des Staatsrechts es unmöglich, die politischen
Kräfteverschiebungen in ihrer Bedeutung für den inneren
Wandel des Staatsganzen zur Anschauung zu bringen.
Die Verwaltungsgeschichte sollte nach Mommsens An-
sicht den Rahmen des Staatsrechtlichen nur ausfüllen,
nicht erweitern. Sie hat mehr getan, besonders da, wo es
sich um Zusammenhänge mit Hellenistischem handelt und
wo die Verwaltungstätigkeit über den staatsrechtlichen
Rahmen hinauswuchs, i) Aber sie ist zu sehr an die einzel-
nen Gebiete der Staatstätigkeit und an das Innere des Staats-
lebens gebunden und auch nach dieser Seite zu wenig fähig,
die Wirkung der politischen Bewegungen auf die Gestaltung
des Staats zu erfassen, um imstande zu sein, eine einheit-
liche Anschauung vom ganzen Staatswesen zu schaffen.
Staatsrecht und Staatsverwaltung, getrennt oder verbun-
den: der auf die Erfassung der Wesenheit des Staatsganzen
gerichtete Blick muß über beide hinausstreben.
1) Ich hebe hervor 0. Hirschfeld, Die kaiserlichen Verwaltungs-
beamten bis auf Diokletian und U. Wilcken, Griechische Ostraka
aus Ägypten und Nubien.
198 Eugen Täubler,
Es ist unnötig, zu fragen, ob es ratsam sei, ihn dann
auf die allgemeine Darstellung von Volk und Staat hinzu-
lenken oder für ihn noch ein geschichtliches Sondergebiet
abzustecken.
Die Frage ist bereits durch Aristoteles beantwortet
worden. Auch für den, der nicht in seinen Kategorien lan-
den will, ist es der von ihm eröffnete Weg verfassungs-
geschichtlicher Betrachtung, auf dem eine Anschauung
vom Wesen eines Staats gesucht werden muß.
HI.
Die verschiedenen Anschauungsweisen des Staats. — Die An-
schauungseinheit. — Die Abgrenzung des Staats durch das herrschaft-
liche Prinzip. — Der sozialpolitische Charakter der Kategorien des
Aristoteles; die griechischen Stadtstaaten. — Das Problem einer
römischen Territorialverfassung. — Das Ineinanderwirken der sozialen
und der territorialen Bedingungen und Erscheinungen des Staatslebens.
— Die politischen Ideen im Verfassungsleben. — Der Staat als über-
nationales Gebilde. — Die vergleichende Verfassungsgeschichte. —
Verfassungstypen. — Entwicklungsstufen der römischen Verfassungs-
^eschichte. — Der römische GeschlecTiterstaat und die Ämterent-
wicklung. — Verfassung im engeren und weiteren Sinne.
Im Staatsrecht ist die konzentrierteste und abstrakteste,
in der allgemeinen, beschreibenden Geschichte die am weite-
sten aufgelöste und am stärksten an den Stoff gebundene
Betrachtung des Staats enthalten. In der Mitte stehen an-
dere Anschauungsweisen, die auch auf den Staat als Ganzes
gerichtet sein können, ihn aber doch immer nur von einer
Seite aus betrachten: als gesellschaftlichen Organismus,
als Wirtschaftsorganisation, als Verwaltungskörperschaft,
als biogeographische Einheit, als politisch handelnde Per-
sönlichkeit, als Kulturinstrument. Was schafft aus den
Einzelheiten die Einheit? Wie kommen wir zu einer in
sich geschlossenen Anschauung von der geschichtlichen
Wesenheit eines Staats? Ganz gewiß weder durch enzy-
klopädische Zusammenfassung noch durch geschichtliche
Umkleidung einer Begriffsbestimmung. Vielmehr handelt
€S sich m. E. um eine durch den Erkenntniszweck bestimmte
Anschauungseinheit, die in jedem Teile das Ganze sucht
und ihn nur soweit ans Licht hebt, als er der Vorstellung
Römisches Staatsrecht und römische Verfassangsgeschichte. 199
des Ganzen dient; nicht um ein System und Begriffe, son-
dern um eine Parallele zu dem, was Dilthey in der Erfassung
des Menschen als beschreibende und zergliedernde Psycho-
logie bestimmt hat: darum, die Persönlichkeit eines Staats
in seiner Struktur und seinen Lebensäußerungen beschreibend
zu erfassen, einen gegebenen Staat mit dem Denkmittel
des Historikers, der anschauenden Erkenntnis, als Lebens-
«rscheinung zu verstehen. Der Vergleich hat seine Schwächen ;
ich will den Staat nicht als eine Persönlichkeit, ebenso wenig
wie als einen Organismus, bezeichnen. Ich sehe in ihm ledig-
lich eine psychologische Erfahrungstatsache, die sichtbare
Wirkungen zu einer ursächlichen Einheit zusammenfaßt.
Tatsächlich sind auch die Ursachen nur bis in die Elemente
verfolgbar, diese lassen aber schon in der vielfältigen Paralleli-
tät ihrer Entwicklung und in ihrem Ineinanderspielen auf
Schritt und Tritt die ideelle Einheit empfinden.
Die Herauslösung dieser Einheit aus den mannig-
fachen Anschauungsmöglichkeiten bedarf, um nicht im
Unbestimmten zu zerfließen, eines leitenden Prinzips, und
das ergibt sich, wenn wir die Begriffseinheit Staat nach ihren
Elementen umschreiben : als ein der Idee nach unabhängiges,
Land und Menschen umspannendes Machtgebilde. Diese
Gliederung macht deutlich, daß es das herrschaftliche Prinzip
ist, unter dem und in dessen Grenzen sich die verschiedenen
Anschauungsweisen zu einer inneren Einheit zusammen-
finden. Wirtschaft, Recht, Religion — das sind Lebens-
sphären für sich, die mit dem Staate nur in einem Wechsel-
verhältnis der Beeinflussung stehen. Das Verhältnis ist
aber herrschaftlicher Art: mag der Staat im Einzelfall
der Gebende oder der Nehmende sein, mag z. B. die staat-
liche Notwendigkeit eine Klassenbildung bewirken oder
umgekehrt eine soziale Entwicklung sich in staatliche Folgen
umsetzen — immer erscheint nach vollendeter Entwicklung
der Staat als der überlegene Teil, als derjenige, der die
anderen Lebenssphären mit seinem Herrscherwillen durch-
dringt.
In den Kategorien des Aristoteles erscheint der Staat,
ohne tiefere Untersuchung des Wechselverhältnisses, fast
ausschließlich als Ausdruck wirtschaftlich-gesellschaftlicher
200 Eugen Täubler,
Zustände^); das Urkönigtum soll einer ursprünglichen Besitz-
gleichheit und Gemeinfreiheit entsprechen, Aristokratie und
Oligarchie entsprechen dem Gegensatz von vollberechtigten
Besitzenden und minderberechtigten Besitzlosen, Tyrannis
undältere Demokratie sind Ausdrücke des Versuchs, auf dem
Boden eines Mittelstands zu einem politischen Ausgleich zu
kommen. Die Entwicklungsreihe entspricht den Verhältnissen
des griechischen Stadtstaats, und die Ausschließlichkeit wirt-
schaftlich-gesellschaftlicher und politisch-formaler Gesichts-
punkte reicht im ganzen hin, um den an den Mauerring
gebundenen Staat zu kennzeichnen. Innerhalb des Mauer-
rings vollzog sich auch in Rom die Entwicklung in diesen
Stufen, aber Rom war anders als irgend eine griechische
Stadt von allem Anfang an nicht nur tatsächlich, sondern
auch verfassungsmäßig von außen gebunden. Die älteste
Stufe der Staatsentwicklung, die Stammherrschaft und ihre
Zersplitterung in Gauherrschaften, kann bei dem unent-
wickelten Charakter ihrer staatlichen Wesenheit und un-
serer mangelnden Kenntnis in Griechenland wie in Italien
nur als Vorstufe verfassungsgeschichtlicher Betrachtung
angesehen werden. Während dann aber in Griechenland
das Territorium entweder, wie in Attika, zum Weichbild
einer Stadt, oder, wie der Boden der Perioiken in der
Argolis und in Lakonien, unterworfenes Land wurde, oder,
wie in Boiotien, einen Städtebund trug, der so lose war,
daß die territoriale Verfassung des Einzelstaats ebenso-
wenig wie die administrative von ihm berührt wurde, wäh-
rend in Griechenland auch das Verhältnis der Kolonie zur
Mutterctadt trotz der korinthischen Epidemiurgen und
ähnlicher Erscheinungen nicht zu einer territorialen Verbin-
dung führte und des attischen Reiches Herrlichkeit dahin-
sank, bevor sie noch die Reife einer ausgebildeten Staats-
form gewonnen hatte, stand Rom, solange die Geschichte
der Stadt zurückreicht, mit Latium in einem territorial-
politischen Zusammenhang, der nicht nur tatsächlich, son-
dern, ohne daß man die Fiktion eines latinischen Bundes
heranzuziehen braucht, auch verfassungsmäßig, z. B. mit
1) Vgl. 0. Hintze, Histor. und polit. Aufsätze, 4. Band, S. 50ff.
Römisches Staatsrecht und römische Verfassungsgeschichte. 201
den politischen Folgen der Verkehrsgemeinschaft, Form
und Wesen des Staats beeinflußt hat. Zu den sozialen und
machtpolitischen Bedingtheiten und Erscheinungsformen
des Staatslebens treten in Rom, unvergleichlich entschei-
dender als in irgend einem anderen Staate bis auf den heu-
tigen Tag, die territorialpolitischen hinzu: deshalb stärker,
weil das römische Reich wie kein anderes ein zusammen-
gesetztes Gebilde mit abgestuften Territorialrechten war.
Nur das british empire ist von fern vergleichbar, aber auch
nur dem Reich der Kaiserzeit. Die verfassungsgeschichtliche
Wirkung territorialpolitischer Kräfte ist, soweit sie sich
auf italischem Boden vollzog, völlig einzigartig. In der Ent-
wicklung, die aus Italien und den Provinzen die Einheit
des Dominats schuf, sind diese Kräfte zwar in größerem Aus-
maß, aber in geringerer Innerlichkeit wirksam gewesen,
als in den Jahrhunderten, in denen in der vielfältigsten
Wechselwirkung und in Verknüpfung mit weltgeschichtlichen
Gegenwirkungen die Masse der italischen Territorien sich
mit dem Recht und der Macht des römischen Namens er-
füllte.
Es ist in diesem Zusammenhang nicht möglich, auf das
Problem einer römischen Territorialverfassung näher ein-
zugehen. Schon die kleinen Anfänge zeigen deutlich, worauf
es ankommt. Wenn Rom Gabii zerstört, sein Gebiet in-
korporiert, seine Bewohner nach Rom verpflanzt, so ändert
sich formal im Aufbau des römischen Staates nichts. Wenn
Rom aber eine Bürgerkolonie nach Ostia deduziert, den
Tuskulanern das Halbbürgerrecht mit, den Caeriten ohne
Selbstverwaltung gibt, so ändert sich der Aufbau des Staats
insofern, als Rom nun aufhört, eine Einheit zu sein. Das
Problem vervielfältigt und vertieft sich nicht nur durch das
Hinzukommen neuer Kategorien, sondern durch die Gebiets-
erweiterung an sich: je mehr Territorien hinzutreten und
je mannigfacher sie rechtlich gestellt sind, um so mehr ver-
ändert sich das Wesen des Staats, auch wenn die rechtlichen
Kategorien seiner Elemente, seine Ämterorganisation, seine
nationale Zusammensetzung, seine soziale Schichtung die-
selben bleiben. Aber gerade dies war in Rom so wenig wie in
irgend einem anderen entwicklungsfähigen Staate der Fall.
202 Eugen Täubler,
Die äußere Staatsverfassung durchdringt sich mit der inneren.
Zwischen beiden waltet ein Zusammenhang und eine Wechsel-
wirkung. Das tritt besonders in der Wehrverfassung zu
Tage, die, stärker von außen als von innen bedingt, diese
Bedingtheit weit über den eigenen Kreis hinaus auf den
ganzen inneren Aufbau des Staats wirken läßt. ^) So schafft
ein Netz innerer Beziehungen die Einheit der sozialpoli-
tischen und der territorialpolitischen Erscheinungen des
Staatslebens. Sie geben sich dem Auge zunächst als ein
Gefüge von Strukturverhältnissen. Da ihr Ineinanderwirken
aber nicht mechanischer Art ist, sondern ein gestaltender
Wille durch sie hindurchgeht, so kann die Wesenheit des
Staats nicht nur in den an ein Element oder an eine Einrich-
tung gebundenen Beziehungen erkannt, sondern muß auch
nach dem Geist der Verwaltung und den Inhalten der inneren
und äußeren Politik bestimmt werden. Die Auswahl hängt
von der Wertung ab. Es kann sich natürlich nicht um die
Entwicklung der einzelnen politischen Handlungen, sondern
nur um die leitenden politischen Ideen und Tendenzen
handeln, die über lange Räume hinweg in dem natürlichen
Sich-Ausleben und Ableben aller geschichtlichen Erschei-
nungen aus diesen herauswachsen, sie in Bewegung setzen
und in neue Lebensformen überleiten. Mit dem Gegensatz,
einer agrarischen, auf die Vermehrung von Bauernhufen
gerichteten, auf Italien beschränkten und einer kapitalisti-
schen, über Italien hinauswachsenden Politik verband sich
nicht nur ein Gegensatz in der Bevorzugung der Tribus und
der Centurien, sondern die Entwicklung drängte aus dem
alten, bäuerlich-aristokratischen Ämterstaat nach griechi-
schem Muster in die Richtung einer die hauptstädtische
Masse einem Demagogen in die Hände spielenden Demo-
kratie. 2) Die Entwicklung, die mit dem Censor von 310
begann, vollendete sich in Caesar, in einer immer breiteren,
tieferen und verschlungeneren Wechselwirkung völkischer^
gesellschaftlich-wirtschaftlicher und weltpolitischer Span-
^) O. Hintze, Staatsverfassung und Heeresverfassung. 1906 (Neue
Zeit- und Streitfragen, her. von der Gehe-Stiftung zu Dresden. 3. Jahrg.,
4. Heft).
2) Ed. Meyer, Weltgeschichte und Weltkrieg S. 46 ff.
Römisches Staatsrecht und römische Verfassungsgeschichte. 20S
nungen. Der Wandel der Regierungsform kündete sich schon
seit den Gracchen stückweis an. Aber das war nur die ad-
ministrative Ausprägung einer Entwicklung, die den Staat
als Lebenserscheinung von früher her und in allen seinen
Teilen durchdrang und schichtweise veränderte.
Wenn man in den Verfassungsgebilden nur Institutionen
und nicht Erscheinungen einer von politischen Ideen gelenk-
ten, als Einheit zu betrachtenden Staatswesenheit sieht,
wird man, um noch einen Fall zu geben, z. B. die provinziale
Sonderstellung Achajas nicht in ihrem Kern erfassen können.
Die administrativ nicht zu voller Durchführung gekommene,,
in den Gegensätzen von griechischer Stadtfreiheit und make-
donischem Militärkommando zwitterhaft hin- und herschwan-
kende Provinz war staatsrechtlich, wie in anderer Weise
auch Ägypten, eine Anomalie. Geht man ihren Wurzeln
nach, so erklärt sich die administrative Unvollkommenheit
aus dem Zwang einer politischen Idee: der von Persien
über Makedonien auf Rom fortwirkenden Idee des Schutzes
der hellenischen Freiheit, i) Unter dem Zeichen dieses
Programms wuchs Rom nicht nur tatsächlich, sondern auch
verfassungsmäßig in das Erbe der hellenistischen Staaten-
welt hinein; auch die nationale Romantik Octavians hat
die in Caesars Geist zur Vollendung gekommenen Ideen
und Formen hellenistischer Großstaatsbildung nicht ganz
auszuschalten vermocht 2), und ihnen gehörte die Zukunft.
Die Aufgabe bestand in einer Reichsgestaltung, die über
eine lose Vielheit von Herrschaften und Abhängigkeiten
hinauswuchs. Die nationale, römisch-italische Entwicklung
blieb dieser Aufgabe fern; die Ideen und Kräfte, die in ihr
wirksam wurden, wuchsen von außen in den Staat hinein.
Ich deute dies nur an, um zu dem Schluß zu kommen, daß
die Entwicklung der politischen Ideen ebenso wie die Be-
obachtung der territorialpolitischen Bedingungen und Be-
ziehungen zu einer Anschauung vom Staate führt, die ihn,
im Gegensatz zu allen nur auf den gesellschaftlichen und
^) E. Täubler, Imperium Romanum. Studien zur Entwicklungs-
geschichte des röm. Reichs. I. S. 432 ff.
2) Ed. Meyer, Kaiser Augustus (Hist. Zeitschrift Bd. 91, N. F. 55,
1903, S. 385ff. = Kleine Schriften S. 443 ff.).
204 Eugen Täubler,
nationalen Grundlagen erwachsenden Anschauungen, als
ein übernationales Gebilde erscheinen läßt.
Das Staatsrecht sieht den Staat von innen; die Ver-
fassungsgeschichte ist auf die universalgeschichtliche An-
schauung eingestellt. So hat 0. Hintze sie für den Kreis der
romanisch-germanischen Völker begründet i), und überall,
wo es im Volkstum oder in geschichtlichen Beziehungen
begründet ist, die Entwicklung mehrerer Staaten unter dem
Gesichtswinkel einer höheren geschichtlichen Einheit zu
betrachten, wird der Vergleich ein unentbehrliches Er-
kenntnismittel verfassungsgeschichtlicher Beobachtung sein,
ja man wird, mit größerer Vorsicht, bestimmte Erscheinungs-
formen der Staatsbildung auch noch über die Kreise der ge-
schichtlichen Einheiten hinaus miteinander in Vergleich
bringen dürfen. Denn bei aller Freiheit individueller Ge-
staltung hat das Gemeinschaftsleben auf der Grundlage
einer gewissen Gleichheit in den wirtschaftlichen und gesell-
schaftlichen Voraussetzungen stufenweise in gleichartigen
Erscheinungen Gestalt gewonnen, und die vergleichende
Beobachtung dieser typischen Verfassungsformen, die man
wohl als das oberste Prinzip verfassungsgeschichtlicher
Studien bezeichnen kann, wird auch für die Erkenntnis
der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung eines einzel-
nen Staates immer von Bedeutung sein. Aristoteles, der die
spartanische Verfassung mit der kretischen und der kartha-
gischen verglich, hat dabei mit je einem Beispiel gezeigt,
wie man es machen und, ohne daß er auch dies beabsich-
tigte, wie man es nicht machen soll.
Wenn das Prinzip vergleichender Betrachtung typischer
Verfassungsformen einleuchtend ist, so muß ihm gegenüber
doch die große Schwierigkeit hervorgehoben werden, die
Veränderungen eines Staatswesens periodisch zu gliedern
und in geschlossene Ausdrucksformen zu bringen. Darin
liegt etwas Gewaltsames; aber damit steht die Verfassungs-
geschichte nicht allein. Jede Periodisierung unterbricht
Zusammenhänge und schichtet das zeitlich und sachlich
Entfernte auf einen Höhepunkt hin zusammen; und unsere
^) Ich weise hier nur auf die Antrittsrede in der Berliner Akademie
der Wissenschaften hin, Sitzungsberichte 1914, S. 744ff.
Römisches Staatsrecht und römische Verfassungsgeschfchte. 205
geschichtliche Anschauung baut sich keineswegs aus den
singulären Erscheinungen, wie aus wilder Wurzel, auf,
sondern paßt diese gewissen Kategorien des geschichtlichen
Sehens, ihren Grundzügen nach festen Vorstellungsformen,
an. Die Verfassungsgeschichte, die nicht System, aber doch
auch nicht erzählende Geschichte ist, muß darin weiter
als jede andere geschichtliche Anschauungsweise gehen.
Das ist ihre besondere Gefahr, aber auch ihr besonderer
Vorzug: denn sie erscheint dadurch als die schärfste Ausprä-
gung aller auf das Ganze von Volk und Staat gerichteten
Betrachtungsweisen.
Für die römische Geschichte steht die Gliederung in
Königszeit, Republik, Prinzipat und Dominat fest. Diese
Gliederung folgt dem Prinzip der Herrschaftsform und ist
deshalb auch für die Verfassungsgeschichte brauchbar,
deren Aufgabe es aber ist, das, was sich in den vier Bezeich-
nungen über die Herrschaftsform hinaus an Vorstellungen
über die Substanz, die Morphologie, die Dynamik des Staats-
wesens verbirgt, diese Elemente, für die die Herrschafts-
form nur der organisatorische Ausdruck ist, zu greifbarer
Vorstellung zu bringen. In welchem Maße die Abwandlungen
innerhalb der Perioden und innerhalb der einzelnen Elemente
auf das Ganze wirken, hat z. B. selbst innerhalb des so
einförmig erscheinenden Prinzipats der ersten 150 Jahre
die Verwaltungsgeschichte gezeigt.^) Ich kann hier höch-
stens für die erste Periode wagen, eine speziellere Andeutung
zu geben, um zugleich abschließend den Unterschied zwi-
schen der staatsrechtlichen und der verfassungsgeschicht-
lichen Anschauungsweise an einem besonderen Fall schärfer
als bisher hervortreten zu lassen.
Während das Königtum im Staatsrecht wesentlich als
Magistratur erscheint, ist es für eine umfassendere Anschauung
nur der Exponent einer Staatsform, die territorial durch die
Auflösung der Stammeinheit in Gauherrschaften, sozial durch
das Auseinandertreten von Patriziern und Plebejern ge-
kennzeichnet wird. In Griechenland sehen wir, wie das
Königtum innerlich durch das Aufsteigen der Geschlechter
^) Vgl. bes. das zusammenfassende Schlußkapitel in 0. Hirsch-
ields S. 197 zitiertem Buche.
Historische ZeitschrUt (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd. 14
206 Eugen Täubler,
abgebaut wird. In Rom sind diese frühen Zeiten für uns
verloren, und außerdem ist der Versuch eines Schlusses
von dem Späteren auf das Frühere auch noch dadurch er-
schwert, daß der Zusammenhang durch die tarquinische
Fremdherrschaft unterbrochen ist. Aber eins können wir
auch in Rom erkennen, daß nämlich die Ämterbildung
bereits in die Königszeit zurückreicht. Wie ist sie zu be-
urteilen? Wir stehen vor der Wahl eines Vergleichs mit
dem deutschen Fürstenstaat, in dem die Ämter sich aus dem
Hofgesinde entwickelten, oder mit dem griechischen Stamm-
staat, in dem sie die Abschichtung der Königsmacht durch
die Vertreter der Geschlechter zum Ausdruck bringen. Die
Wahl kann nicht zweifelhaft sein, zumal auch die patres
nicht mehr ein königliches consilium, sondern ein Geschlech-
terrat sind. Aus diesem Anschauungskreis eines sich im
Geschlechterstaat abbauenden Königtums gehe ich an die
Frage der Entstehung des Konsulats heran. Das Staatsrecht
konstruiert eine Verdoppelung des Königtums nach seinem
Sturze. Die Verfassungsgeschichte kann nicht so mechanisch
verfahren; sie hat den heranwachsenden Geschlechter-
staat und die sich in ihm vollziehende Auflösung des König-
tums in den Adelsämtern vor Augen und muß nach der Paral-
lele des Ephorats und wohl auch der athenischen Polema-
chie die Vermutung wagen, daß die Konsuln bzw. Praetoren,
wie wohl auch die vier Tribunen der Stadtquartiere ^), in die
Königszeit zurückreichen. 2)
Auch wenn diese Vermutung nicht gebilligt werden
sollte, scheint sie mir ihrem Prinzip nach geeignet, an dem
Verhältnis des Ganzen der Staatsverfassung zu einem Giiede
die Verschiedenheit der Voraussetzungen und des Wesens
1) Ed. Meyer, Der Ursprung des Tribunals und die Gemeinde
der vier Tribus (Hermes XXX 1895 S. 1 ff = Kleine Schriften S. 353 ff.).
*) Erst nachdem ich dies niedergeschrieben hatte, werde ich
durch Rosenbergs Referat in Bursians Jahresbericht über die Fort-
schritte der klass. Altertumswiss. 1918, Bd. 176, S. 207 darauf auf-
merksam, daß diese Vermutung bereits von G. de Sanctis in seiner
Storia dei Romani (11907, 8.403 f.) geäußert wurde; ich möchte die
Überemstimmung nicht als Bestätigung, aber als Bekräftigung gelten
lassen. Rosenberg a. a. O. : „eine Gedankenreihe, die zumindest Be-
achtung verdient".
Römisches Staatsrecht und römische Verfassungsgeschichte. 2Ö7
staatsrechtlicher und verfassungsgeschichtlicher Anschauung
deutlich zu machen. Das Staatsrecht ist ein System; es
findet seine Einheit in Begriffen und Kategorien. Die Ent-
wicklung der Verfassung ist Geschichte; ihre Einheit ruht
in der lebendigen Wesenheit des Staats.
In meinen Ausführungen fehlt eine Begründung dafür,
daß ich die Vorstellung von der Wesenheit eines Staats mit
seiner Verfassung gleichstelle. Der Ausdruck Verfassung
bezeichnet in der modernen Staatslehre in viel engerem
Sinn als Teil des Staatsrechts nur die auf die Grundgesetze
aufgebauten Staatseinrichtungen. Aber es wird für den
Gebrauch im weiteren Sinne genügen, auf Aristoteles und
die allgemeine vergleichende Verfassungsgeschichte hin-
zuweisen.
Anlage.
Als von Mommsens Römischem Staatsrecht der erste Band
und die erste Hälfte des zweiten erschienen waren, führte Jacob
Bernays das Werk in der Deutschen Rundschau (II 1875, S. 54
bis 68 = Gesammelte Abhandlungen II S. 255 — 275) mit einem
Aufsatz über die Behandlung des römischen Staatsrechts bis auf
Theodor Mommsen in ausgezeichneter Weise einem weiteren
Kreise vor. Wie Mommsen selbst seine antiquarischen Vor-
gänger nur einer stummen Widerlegung für wert erachtet hatte
(Vorwort des ersten Bandes, S. IX), so unterdrückte auch Bernays
die Namen der „zahllosen Verfertiger von mageren Oktavbänden
oder ungeschlachten Folianten und Quartanten, welche in älterer
Zeit neben anderen auch die sog. staatlichen Antiquitäten zu
Häuf getragen haben" und würdigte als Vorgänger Mommsens
nur zwei der Erwähnung, den Modenesen Carolus Sigonius mit
seinem Hauptwerk De antiquo iure avium Romanorum (1560)
und den in Holland ansäßigen Franzosen Louis de Beaufort,
j der auf sein Jugendwerk De Vincertitude de cinq premiers sikles
I de Vhistoire Romaine (1738) im Alter (1766) noch eine Verfassungs-
geschichte in zwei Quartbänden folgen ließ, mit dem belangreichen
I Titel: La republique Romaine, ou plan general de fanden gou-
1 vernement de Rome oü Von diveloppe les differents ressorts de ce
; Gouvernement, Vinfluence qu'y avoit la Räigion; la Souveraineti
I de la Peuple et la maniire dont il Vexergoit; quelle äait l'autoriti
du Sinat et celle des Magistrats, Vadministration de la Justice,
14*
\
208 Eugen Täubler,
les Prärogatives du Citoyen Romain et les diffirentes conditions
des Sujets de ce vaste empire. Sigonius hatte sein Werk mit der
Definition des Bürgerrechts begonnen und aus ihr alle staats-
rechtlichen Elemente entwickelt. Es ist der staatsrechtliche
Gedanke, der ihm in seiner Einheitlichkeit und Verzweigtheit
zum ersten Male bewußt wurde. Beaufort wollte ihn in seiner
allgemeineren, geschichtlichen Bedingtheit aufzeigen: es ist der
verfassungsgeschichtliche Gedanke, der ihn leitet. Daß Macchia-
velli einige Jahrzehnte vor Sigonius schrieb, ist für dessen Werk
ohne Bedeutung geblieben; auf Beaufort scheint aber Montes-
quieu ebenso eingewirkt zu haben, wie Beaufort selbst mit dem
Gedanken von der Beeinflussung der Verfassung durch die Religion
auf Fustel de Coulanges.
Einen guten Oberblick über die Behandlung der römischen
Staatsaltertümer von Niebuhr an, mit Versuchen, die anti-
quarische, staatsrechtliche und die sog. verfassungsgeschichtliche
Anschauungsweise gegeneinander abzugrenzen, gibt Herzog,
Geschichte und System der römischen Staatsverfassung (I. II,
1. 2, 1884—1891, darin I, S. I— L). Die Verschiedenheit der
Arbeitsweisen äußert sich nach ihm darin, daß die antiquarische
„die Institutionen nebeneinander stellt, ohne sie in ein inneres
Verhältnis zueinander zu setzen" (S. XI 11^)), während die staats-
rechtliche „die Einrichtungen des römischen Staats als ein ge-
schlossenes Ganze darzustellen und die einzelnen Institute als
die Glieder eines solchen Organismus zu erfassen" sucht
(S. XXXIV). Damit steht Mommsen allein. Die Versuche,
über die Äußerlichkeit einer rein antiquarischen Methode hinauszu-
kommen, führten sonst nur zu einer gewissen geschichtlichen
Systematik, die nur bei Rubino die Tiefe staatsrechtlicher und
verfassungsgeschichtlicher Anschauung gewann (Untersuchungen
über römische Verfassung und Geschichte. I. Ober den Entwick-
lungsgang der römischen Verfassung bis zum Höhepunkte der
Republik. 1839. Ober seine Methode die Vorrede und Herzog,
S. XIIIss.). Hier findet sich der Grundsatz: „die staatsrecht-
lichen Begriffe der Römer auf ihrem eigenen Boden zu gewinnen
und auf ihm allein die Fortbildung derselben zu verfolgen."
Damit sprach er das aus, was erst Mommsen zur Erfüllung brachte.
*) Eine andere Charakteristik lautet, daß sie „sich in bewußter
Absicht darauf beschränkt, sorgsam zu registrieren und in chrono-
logischer bzw. systematischer Ordnung vorzuführen, was die Über-
lieferung von einzelnen Äußerungen der Staatsgewalt meldet (K. J.
Neumann über L. Langes Römische Alterthümer in Bursians Bio-
graph. Jahrb. 1865, 8.50 f.).
Römisches Staatsrecht und römische Verfassungsgeschichte. 209
Ihm selbst mußten schon die Voraussetzungen über die Quellen
unmöglich machen, den Grundsatz entscheidend durchzuführen,
ebenso außerdem der Mangel rechtlich-begrifflicher Systematik
und eines ausreichenden Oberblicks über das Ganze der Ent-
wicklung.
Wie Mommsens neue Art auf diejenigen wirkte, welche
glaubten, die Antiquitäten mittels eines geschichtlichen Rahmens
in Verfassungsgeschichte umwandeln zu können, zeigt L. Langes
Rezension des ersten Bandes von Mommsens Staatsrecht (Kleine
Schriften auf dem Gebiete der klassischen Altertumswissenschaft I,
S. 154 ff.).
Was Herzog sich unter verfassungsgeschichtlicher Arbeits-
weise dachte, sollte sein eigenes Werk zeigen. Es zeigt aber nur,
daß er die Antiquitäten etwas stärker geschichtlich umkleidete
und gliederte, ohne im entferntesten auch nur an die staats-
rechtliche Behandlungsweise heranzukommen, geschweige denn,
über sie hinauszuwachsen. Noch unzulänglicher blieb Madwigs
Verfassung und Verwaltung des römischen Reichs (I. II 1881.
1882). Die jüngsten Leistungen auf diesem Gebiete führten nicht
weiter; weder Nieses Staat und Gesellschaft der Römer noch
Wengers Verfassung und Verwaltung des europäischen Altertums
(beide in der Kultur der Gegenwart) kamen über knappe geschicht-
liche Abrisse hinaus. K. J. Neumann läßt zwar in seinen Römi-
schen Staatsaltertümern (in Gercke-Nordens Einleitung in die
Altertumswissenschaft) die Verschiedenheit des Staatsrechtlichen
und des Verfassungsgeschichtlichen einmal anklingen (S. 473),
seine in der Anlage wenig durchdachte Darstellung gibt aber nur
einen dürftigen staatsrechtlichen Abriß.
Die in die Rechtsgeschichten und Institutionen aufgenom-
menen Darstellungen des Staatsrechts haben keine eigene Be-
deutung; mit Recht sprach schon Herzog (S. XXXVIII) nur
von einer gewissen Erweiterung des spezifisch juristischen Stand-
punkts der Verfasser im Gegensatz zu dem vollständigen In-
einanderaufgehen der juristischen Anschauungsweise in die
historisch-philologische bei Mommsen.
Die Förderung lag in einzelnen Untersuchungen, in der Ver-
waltungsgeschichte und in der an Eduard Meyers Namen ge-
knüpften Durchsetzung universalgeschichtlicher und vergleichen-
der Anschauungsweise.
Kaiser Priedridi IL und der Abfall
der deutsdien Pursten.
Von
Manfred Stimming.
Seit der Gründung des Deutschen Reiches hat es keinen
König gegeben, der nicht seine Kräfte mit einzelnen oder
mehreren unbotmäßigen Kronvasallen und Fürsten hätte
messen müssen. Die Kämpfe zwischen der Krone und den
aufrührerischen Großen waren jedoch nach Wesen und Be-
deutung keineswegs zu allen Zeiten gleichartig. In der älte-
ren Zeit trugen die Rebellionen in der Regel einen rein per-
sönlichen Charakter. Man muß sich, um sie richtig zu ver-
stehen, die mittelalterlich-germanischen Anschauungen vom
Staate vor Augen halten. Der Staat galt als eine Art von
stillschweigendem Vertrage, der beiden Vertragschließenden,
dem Herrscher wie den Beherrschten, gewisse Pflichten auf-
erlegte, denen sich keiner von beiden entziehen durfte. Einem
pflichtvergessenen König durften nach der Rechtsüberzeu-
gung des Mittelalters die Untertanen mit Gewalt begegnen;
gegen ungerechte oder vermeintlich widerrechtliche Maßregeln
galt bewaffneter Widerstand für erlaubt.^) Wenn auch das
Widerstandsrecht im früheren Mittelalter vielfach mißbraucht
worden ist, so waren doch die Auflehnungen der Großen
niemals im revolutionären Sinne gegen die königliche Ge-
walt als solche gerichtet; sie hatten nicht das Ziel, die Macht
des Königtums zugunsten der Fürsten dauernd zu schwächen.
^) F. Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren
Mittelalter (1915) S. 167 u. 183ff.
J
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. 211
Das änderte sich, als sich die Fürsten zu Territorial-
herren entwickelten. Aus Grafschaften, Grafschaftstrüm-
mern, Vogteien, Grundherrschaften und anderen öffentlichen
und privaten Rechten begannen sich im Laufe der Zeit
Territorien herauszubilden. Ihre zerstreuten und verschieden-
artigen Besitzungen zu vergrößern, abzurunden und fest
zusammenzuschließen, war seit dem 12. Jahrhundert das
Hauptbestreben der Fürsten. Maßgebend für die fürstliche
Territorialpolitik war in erster Linie der Wunsch nach Stei-
gerung der Einnahmen und Vermehrung der Machtmittel.
Die Schaffung größerer geschlossener Gerichtsherrschaften
und zusammenhängender Domänenkomplexe verbürgte eine
bessere Rentabilität, eine bequemere Verwaltung und leich-
tere Sicherung der Besitzungen. Die Burgen, welche die
Fürsten in großer Zahl während des 12. Jahrhunderts er-
bauten oder in ihre Hand brachten, und die Ministerialen,
die sie in steigendem Maße in der Verwaltung ihrer Be-
sitzungen verwandten, bildeten die festen Klammern der
entstehenden Territorien.
Je mehr sich nun die locker organisierten, anfangs vor-
nehmlich durch das Lehnsband zusammengehaltenen Für-
stentümer zu territorialen Herrschaften ausgestalteten, je
enger die Fürsten mit ihren Herrschaftsgebieten verwuchsen,
um so stärker traten die Bestrebungen in den Vordergrund,
die Macht des Königs in den fürstlichen Besitzungen aus-
zuschalten und die Leistungen an das Reich nach Möglich-
keit zu beschränken. Schon im 12. Jahrhundert führte die
dynastische und territoriale Interessenpolitik der Fürsten
hier und da zu heftigen Zusammenstößen mit der Reichs-
gewalt; zu einer wirklichen Gefahr für die Machtstellung
des Königtums wurde sie jedoch erst im 13. Jahrhundert.
Solange nämlich die Krone noch über bedeutende
Massen von Reichsgut verfügte, solange sie durch Beherr-
schung der Reichskirche eine unerschöpfliche Quelle finan-
zieller und militärischer Machtmittel besaß, konnte ihr ein
einzelner Fürst oder auch eine Koalition mehrerer kaum
gefährlich werden. Auch war die Territorialpolitik der
Reichsgewalt nicht überall schädlich. Soweit es sichoim
die geistlichen Fürsten handelte, war das Anwachsen und
212 Manfred Stimming,
der festere Zusammenschluß der Besitzungen sogar von er-
heblichem Vorteil für das Königtum. Die dadurch gesteigerte
Leistungsfähigkeit der Bistümer und Reichsabteien kam in-
direkt der Stärkung der Königsmacht zugute, solange die
Abhängigkeit der Reichskirche aufrechterhalten wurde.
Die Herrschaft über die Kirche ging jedoch zu Beginn
des 13. Jahrhunderts verloren, indem Otto IV. im Jahre
1209 und nach ihm Friedrich II. im Jahre 1213 gegenüber
der Kurie durch Anerkennung der uneingeschränkten Frei-
heit der Kapitelwahlen stillschweigend auf die alten Königs-
rechte des Wormser Konkordates verzichteten und auch
das Spolien- und das Regalienrecht preisgaben, Zugeständ-
nisse von einschneidender Bedeutung, die um so schwerer
ins Gewicht fielen, als um dieselbe Zeit auch ein erheb-
licher Teil des Königsgutes der Krone entfremdet wurde.
Friedrich II. konnte für seine Person diese Einbußen noch
zur Not verschmerzen, da er für die Machtmittel, die er in
Deutschland vermissen mußte, in seinem sizilianischen Erb-
reiche einen reichlichen Ersatz fand. Aber für das deutsche
Königtum als solches war der Schaden unberechenbar und
nicht wieder gutzumachen.
Die Zugeständnisse der beiden Kaiser waren dazu be-
stimmt, der Befreiung der Kirche von der weltlichen Ge-
walt zu dienen; sie kamen aber in erster Linie den welt-
lichen Machtbestrebungen der geistlichen Fürsten zugute.
Daß jene das Privileg von 1213 in diesem Sinne auffaßten,
geht deutlich daraus hervor, daß die deutschen Bischöfe
und Reichsäbte sich die königlichen Versprechungen noch-
mals im Jahre 1220 in der Confoederatio cum principibus
ecclesiasticis zusammen mit anderen materiellen Zugeständ-
nissen, die ihrer Territorialpolitik Vorschub leisten sollten,
bestätigen ließen. i)
Die Confoederatio bildete eine weitere wichtige Etappe
auf dem Entwicklungswege der geistlichen Fürstentümer.
Durch sie wurden die letzten Reste des Eigenkirchenrechtes
beseitigt. In der bisher vom Könige geübten Praxis, auf
dem Grund und Boden der Bistümer und Reichsabteien
1) Mon. Germ. Constitut II (1896) p. 89.
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. 213
Burgen zu bauen und Kirchenlehen für sich in Anspruch
zu nehmen, waren noch die letzten Nachwirkungen des alten
Eigentumsrechts am Reichskirchengut verspürbar gewesen.
Nunmehr wurde beides untersagt. Damit hatten die geist-
lichen Fürsten den Vorsprung, den ihnen ihre weltlichen
Standesgenossen bis dahin voraus hatten, eingeholt. In
der Stellung zur Reichsgewalt gab es künftig keinen Unter-
schied mehr zwischen weltlichen und geistlichen Fürsten-
tümern. 1)
Friedrich II. zerschnitt das enge Band, das so lange
Krone und Reichskirche vereinigt hatte. Nachdem die
letzten Reste des ehemaligen Beamtencharakters der Bi-
schöfe abgestreift waren, hielt ein neuer Geist in den deut-
schen Episkopat seinen Einzug. Die geistlichen Fürsten
stellten in Zukunft ihre Territorialpolitik allen anderen Auf-
gaben voran. Wohl gab es auch später noch Vertreter des
Episkopates, die ihre landesfürstlichen Aufgaben mit den
Pflichten gegenüber dem Reiche wohl zu vereinigen ver-
standen — man braucht sich nur an Engelbert von Köln
oder Eberhard von Salzburg zu erinnern — , aber die Zahl
dieser Männer war doch nur eine sehr geringe.
Weltliche und geistliche Fürsten fühlten sich seit dem
13. Jahrhundert in erster Linie als Territorialherren und
wandten ihre Kräfte hauptsächlich dem Ausbau ihrer Terri-
torien zu, die damals von geschlossenen Gebieten noch weit
entfernt waren. Das gilt sowohl für die weltlichen wie für
die geistlichen Herrschaften. Im allgemeinen zeichneten sich
allerdings die Besitzungen der Laienfürsten durch größere
Geschlossenheit aus. Ihr Hauptfundament bildeten in der
Regel eine oder mehrere Grafschaften, die sich vom Vater
auf den Sohn vererbten, und in denen meist auch die Fami-
liengüter lagen. Jedoch waren fast alle alten Grafschafts-
sprengel durch Teilung und durch eingestreute kirchliche
Immunitäten in mannigfacher Weise zerstückelt und durch-
löchert. Dazu hatten die weltlichen Fürsten als Lehen,
durch Erbschaft, Kauf oder auf andere Weise auch zahl-
reiche zerstreute und entlegene Hoheitsrechte und Besit-
^) Stimming, Die Entstehung des weltlichen Territoriums des
Erzbistums Mainz (1915) S. 90.
214 Manfred Stimming,
Zungen gewonnen, so daß zur Schaffung von geschlossenen
Herrschaftsgebieten noch viel zu tun übrig blieb. Noch weit
ungünstiger war es mit den geistlichen Herrschaften bestellt.
Da die Kirchen ihre Güter durch zahlreiche einzelne Schen-
kungen von Königen und Privatpersonen erworben hatten,
so lagen die Besitzungen meist über weite Gebiete zerstreut
und entbehrten jeglicher territorialen Geschlossenheit.
Indem nun die weltlichen und geistlichen Fürsten wett-
eifernd ihre Besitzungen abzurunden und zusammenzuschlie-
ßen suchten, gerieten sie sich häufig ins Gehege, zumal in
Süd- und Westdeutschland, wo zahlreiche größere und klei-
nere, weltliche und geistliche Herrschaften in buntem Ge-
menge durcheinanderlagen. Eine besondere Rolle spielten
bei den Reibungen zwischen den weltlichen und geistlichen
Fürsten die Kirchenlehen. Bekanntlich durften die Bischöfe
nach kanonischen Vorschriften die Blutgerichtsbarkeit nicht
selbst ausüben. Sie waren daher gezwungen, ihre wichtig-
sten Hoheitsrechte, die Grafschaften und Vogteien über das
kirchliche Grundeigentum, zu Lehen auszugeben; und zwar
waren sie dabei nach dem Gewohnheitsrechte des früheren
Mittelalters auf Personen edelfreien Standes beschränkt.
So kam ein großer Teil der kirchlichen Gerichtsherrschaften
in den erblichen Lehnsbesitz der weltlichen Fürsten, welche
diese Besitzungen den Kirchen gänzlich zu entziehen und
2u ihren entstehenden Territorien zu schlagen trachteten.
Die geistlichen Fürsten dagegen nahmen jede Gelegenheit
wahr, um die Grafschaften und Vogteien wieder in den un-
mittelbaren Besitz ihrer Kirchen zu bringen und sie, nach-
dem das Gerichtsmonopol der Edelfreien beseitigt war, durch
Ministeriale oder Beamte verwalten zu lassen.
Trotz der starken Gegensätze zwischen den weltlichen
und geistlichen Fürsten hatte sich doch gegenüber der Krone
eine Interessengemeinschaft herausgebildet. Bischöfe und
Laienfürsten waren in gleicher Weise daran interessiert, die
Zentralgewalt zu schwächen, um dadurch ihre Unabhängig-
keit zu sichern und für eine ungehinderte Territorialpolitik
freie Bahn zu schaffen. Im Jahre 1231 traten sie der Krone
zum ersten Male in geschlossener Phalanx gegenüber und
erzwangen die Erfüllung ihrer Forderungen, welche die
Kaiser Friedrich H. und der Abfall der deutschen Fürsten. 215
Reichsregierung durch das Statutum in favorem principum
verbriefte. Das Neue und Bedeutungsvolle dieser Vorgänge
liegt darin, daß sich die Fürsten als eine Einheit zu fühlen
begannen und durch gemeinsames Vorgehen ihre Selbstän-
digkeitsbestrebungen und ihre territoriale Interessenpolitik zu
fördern suchten, Ziele, denen sie bis dahin nur einzeln oder
gruppenweise nachgegangen waren.
Die ersten Jahrzehnte des 13. Jahrhunderts brachten
eine starke Machtverschiebung zwischen Reichsgewalt und
Fürstentum. Während die Landeshoheit der Fürsten ent-
scheidende Fortschritte machte, büßte die Krone einen guten
Teil ihrer materiellen und ideellen Machtmittel ein. In dem
Kampfe zwischen den Weifen und Hohenstaufen um die
Krone sahen sich die Gegenkönige genötigt, einen bedeuten-
den Teil des verfügbaren Reichsgutes zu verwenden, um
Anhänger zu gewinnen. Dadurch wurden große Lücken in
das unter Friedrich I. und Heinrich VI. ansehnlich ver-
mehrte Reichsgut gerissen, während den territorialen Be-
strebungen der Fürsten mächtig Vorschub geleistet wurde.
Aber die Verschwendung des Reichsgutes hatte noch eine
andere bedenkliche Folge. Die Fürsten lernten die Notlage
des Königtums auszunutzen; sie gewöhnten sich daran, ihre
Leistungen für das Reich nicht als eine PfUcht anzusehen,
sondern als eine Hilfe, die einer Gegenleistung bedürfte.
Friedrich II. war gezwungen, dieser Auffassung Rechnung
zu tragen und auch später immer wieder aufs neue die
Fürsten mit Schenkungen und Zugeständnissen zu bedenken,
um sie sich geneigt zu erhalten oder um etwas Besonderes
von ihnen zu erreichen. Daß diese Politik keineswegs dazu
angetan war, das Ansehen des Königtums und des Reiches
zu heben, liegt auf der Hand. Die Fürsten begannen immer
mehr den verfallenden Bau des Reiches als einen Steinbruch
zu betrachten, aus dem sie mit oder ohne Erlaubnis des
Königs und Herrn Stein für Stein herausbrachen, um diese
in die entstehenden Gebäude ihrer Territorien einzufügen.
Die Gleichgültigkeit der Fürsten gegen Kaiser und Reich
wurde auch dadurch gefördert, daß Friedrich II. den Sitz
seiner Herrschaft und den Schwerpunkt des Reiches nach
Süditalien verlegte. Der Hof des Königs war in Deutsch-
216 Manfred Stitnming,
land stets der lebendige Mittelpunkt des Reiches gewesen.
Während der König durch das Land zog, gingen die Großen
des Reiches bei ihm aus und ein: sie nahmen an den Fest-
lichkeiten des Hofes teil, sie waren die Berater des Herr-
schers bei allen wichtigen Reichsangelegenheiten und wurden
zu politischen und diplomatischen Missionen verwandt. Die
gewohnte Leistung der pflichtmäßigen Hof- und Heerfahrt,
der persönliche Umgang mit dem Könige, der ständige An-
teil an den Regierungsgeschäften, alles dies hielt das Inter-
esse der Fürsten an dem Reiche wach, brachte in ihnen
den Gedanken zu lebendigem Bewußtsein, daß es über ihren
fürstlichen Herrschaften noch etwas Höheres, alle Verbin-
dendes gäbe, und knüpfte das Band zwischen dem König
und den Großen des Reiches enger. Gar manche Unstim-
migkeit und mancher drohende Konflikt wurde durch un-
mittelbare Verständigung zwischen Herrscher und Vasallen
geregelt und geordnet. Wie stark das persönliche Moment
selbst noch in der Zeit Friedrichs II. wirkte, trat nach dem
Abfalle Heinrichs VII. deutlich hervor. Nicht einmal eines
Heeres bedurfte es; das persönliche Erscheinen des Kaisers
genügte, um die Ruhe und Ordnung im Reiche, die bereits
empfindlich gestört waren, wieder herzustellen.
Friedrich IL, ein Kind des sonnigen Südens, stand dem
Reiche ganz anders gegenüber als seine Ahnen und Vor-
gänger, die Deutschland als ihre Heimat und die feste Grund-
lage ihrer Macht und die übrigen Gebiete des Imperiums
nur als Nebenländer betrachtet hatten. Italien und Deutsch-
land galten ihm als gleichgestellte Glieder des umfassenden
Universalreiches. Der riesige Umfang der beherrschten Län-
der mit ihren gewaltigen Entfernungen machte es bei den
damaligen mangelhaften Verkehrsmitteln unmöglich, das
Ganze persönlich und unmittelbar zu regieren. Friedrich
hatte zwischen dem Norden und dem Süden zu wählen.
Es kann kaum wundernehmen, daß er sich für das König-
reich Sizilien entschied, das er als seine eigentliche Heimat
ansah. Nicht nur sein Herz zog ihn dorthin; hier fand er
auch das, was ihm in Deutschland fehlte: eine Hausmacht,
ein einheitlich organisiertes und reiches Land mit einer
starken königlichen Zentralgewalt.
I
Kaiser Friedrich IL und der Abfall der deutschen Fürsten. 217
Deutschland stand dem Kaiser erst in zweiter Linie.
Er hat keinen Versuch gemacht, hier etwas Neues, Durch-
greifendes zu schaffen. Er fand sich mit dem bestehenden
Zustande der Dezentralisation ab und gab den Wünschen
der fürstlichen Territorialpolitik auf der ganzen Linie nach.
So hatte es Friedrich während des ersten Aufenthaltes in
Deutschland in den Jahren 1212—1220 gehalten; auch 1235
war sein ganzes Streben darauf gerichtet, das gute Ver-
hältnis zu den Fürsten aufrechtzuerhalten und, wo es ge-
stört war, wiederherzustellen, um sich so die finanziellen
und militärischen Hilfsquellen Deutschlands offenzuhalten
und sich die Hände freizumachen für die Aufgaben, die
damals im Vordergrunde seines Interesses standen.
Über das Ziel seiner Politik hat sich Friedrich im Jahre
1236 in dem bekannten Brief an den Bischof von Como
ausgesprochen: die Lombardei, die auf allen Seiten von
kaiserlichen Machtgebieten umgeben sei, sollte zur Unter-
werfung unter den kaiserlichen Willen gebracht und wieder
eng mit dem Imperium vereinigt werden, i) Wollte der Kaiser
die südlichen und nördlichen Länder des Reiches zu einer
festen Einheit bringen, so war es in der Tat notwendig,
den hemmenden Wall der lombardischen Unabhängigkeit
zu beseitigen.
Die Kurie dagegen hatte der Vereinigung von Deutsch-
land und Sizilien von Anfang an mit allen Mitteln entgegen-
gearbeitet. Die Unterwerfung von Norditalien hätte vollends
das Patrimonium Petri hoffnungslos zwischen zwei gewaltige
kaiserliche Machtgebiete eingekeilt. Das konnte und wollte
Gregor IX. nicht zulassen. Als der Sieg des Kaisers in
gefahrdrohende Nähe rückte, fiel der Papst Friedrich in
den Arm und schleuderte am 20. März 1239 den Bann gegen
den Kaiser. Die geistlichen Waffen konnten jedoch nur durch
die Hilfe des weltlichen Armes wirksam werden. So trat
denn Gregor nicht nur mit den Lombarden in enge Fühlung,
^) Huillard-Br^holles, Historia diplomatica Friderici II Bd. IV,
S. 49: „ut Sic illud Halte medium nostris undique viribus circumdatum
ad nostre serenitatis obsequia et ad imperii redeat unitatem. Daß die
Lombardei, nicht Mittelitalien gemeint sei, geht aus dem Zusammen-
hang hervor.
218 Manfred Stimming)
sondern suchte auch mit den deutschen Fürsten anzuknüpfen,
um sie gegen den Kaiser aufzuwiegeln.
In Deutschland waren durch die Maßnahmen Friedrichs
in den Jahren 1235 und 1236 Ruhe und Ordnung wieder
hergestellt. Auf dem Tage von Wien wurde der neunjährige
Kaisersohn Konrad zum deutschen Könige gewählt; neben
ihn wurde der Erzbischof Siegfried von Mainz als Reichs-
verweser gestellt. Die Ernennung eines neuen Reichsproku-
rators war nur von geringer praktischer Bedeutung; sie ge-
schah wohl hauptsächlich, um dem Herkommen zu genügen.
Jedenfalls hat Siegfried auf die Regierung des Reiches keinen
nennenswerten Einfluß gehabt. Die ganze Schwäche seiner
Stellung trat zutage, als er für den 14. März des Jahres 1238
einen Reichstag nach Erfurt berief. Nur zwei Fürsten lei-
steten seiner Einladung Folge, i) Den eigentlichen Sitz der
Reichsregierung bildete der Hof Konrads IV. Der König
selbst war freilich infolge seines jugendlichen Alters noch
nicht imstande, die Zügel der Regierung zu führen. Aber
Friedrich hatte ihm eine Anzahl erprobter Männer beigegeben,
in deren Händen die Erziehung des jungen Herrschers und
die Leitung des Reiches lag. Es waren dem Kaiser ergebene
Persönlichkeiten wie Gottfried von Hohenlohe und andere,
die keineswegs zu den Großen des Reiches gehörten. 2) Es
ist klar, daß diese Reichsräte lediglich ausführende Organe
des kaiserlichen Willens waren. Auf diese Weise war Fried-
rich der eigentliche Regent von Deutschland geblieben. Vor-
kommnisse, wie sie unter der Regierung Heinrichs VIL
stattgefunden hatten, waren damit so gut wie ausgeschlossen.
Eine Stärkung der Zentralgewalt war freilich durch die
Einsetzung der neuen Reichsregierung nicht erfolgt. Wenn
in den folgenden Jahren die Ruhe im Reiche leidlich er-
halten blieb, so lag das vornehmlich daran, daß Friedrich
die Fürsten mit Privilegien übersättigt hatte. Das hielt eine
Zeitlang vor.
*) Annales Erphordenses fratrum praedicatorum. Monumenta Er-
phesfurt ed. Holder-Egger (1899) p. 94.
2) K. Weller, Geschichte des Hauses Hohenlohe Bd. I (1904),
S. 80. — K. Weller, Gottfried von Hohenlohe. Württembergische
Vierteljahrschrift für Landesgeschichte NF. Bd. V (1896), S. 223,
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. 219
Nur im Südosten war an dem Körper des Reiches nach
dem Weggange Friedrichs eine offene Wunde zurückgeblieben.
Dem Kaiser war es nicht gelungen, den Herzog Friedrich
von Österreich und Steiermark völlig unschädlich zu machen.
Der geächtete Babenberger trat in Verbindung mit den
beiden mächtigsten Fürsten im Südosten des Reiches, dem
Könige von Böhmen und dem Herzoge von Bayern. Diese
beiden waren unzufrieden, weil sie sich Hoffnungen auf Teile
der eingezogenen Herzogtümer gemacht hatten und sich be-
trogen fühlten, als der Kaiser Österreich und Steiermark für
das Reich verwalten ließ. Bei dem Bayernherzog kam außer-
dem eine persönliche Feindschaft zu dem Reichsverweser,
dem Mainzer Erzbischof, hinzu, dem er die Reichsabtei
Lorsch streitig zu machen suchte. ^) Herzog Friedrich von
Österreich versprach dem Böhmenkönig die Abtretungen be-
trächtlicher Grenzgebiete 2) und gelangte tatsächlich mit
Hilfe seiner beiden Verbündeten wieder in den Besitz seiner
Herzogtümer. Durch den Passauer Bund vom 7. März 1239
schlössen sich die Fürsten von Böhmen, Bayern und Öster-
reich eng aneinander an.^)
So war eine nicht unbedeutende Fürstenopposition im
Südosten des Reiches entstanden. Sie bot dem Papste die
erwünschte Gelegenheit, die Hebel seiner Politik hier mit
Erfolg gegen den Kaiser einzusetzen. Als päpstlicher Agent
wirkte für die Sache der Kirche der Passauer Archidiakon
Albert, dessen teilweise erhaltene Briefbücher eine unschätz-
bare Quelle für die Verhältnisse in Deutschland um das
Jahr 1240 sind.*) Albert, welcher der kirchlichen Sache
zweifellos aus ehrlicher Überzeugung diente und wegen
seiner Tätigkeit mancherlei Unbilden zu erdulden hatte^),
zeichnete sich mehr durch Eifer als durch diplomatisches
1) Regesten der Pfalzgrafen ed. Koch und Wille Bd. I (1884)
n« 429ff.
2) Heiligenkreuzer Fortsetzung der Melker Annalen. Mon. Germ,
SS IX, p. 639.
*) Constantin Höfler, Albert von Beham. Bibliothek des lite-
rarischen Vereins in Stuttgart Bd. XVI (1847), S. 4.
*) Herausgegeben von C. Hofier; vgl. die vorige Anm.
*) Höfler S. 30 u. 32. — Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands
d. IV*, S. 829.
i
220 Manfred Stimming,
Geschick aus. Anfangs war freilich sein Vorgehen nicht
ohne Erfolg. Das Passauer Dreifürstenbündnis war vor-
nehmlich sein Werk. Es kam in der Folge alles darauf an,
für die päpstliche Partei unter den deutschen Fürsten neuen
Anhang zu gewinnen und ihr durch die Wahl eines Gegen-
königs einen Führer zu geben. Die darauf gerichteten Be-
strebungen Alberts endeten freilich mit einem vollen Miß-
erfolge. Die feindliche Haltung des Herzogs von Bayern
bewirkte, daß die bayerischen Bischöfe, die in ihrer Terri-
torialpolitik die natürlichen Gegner des Herzogs waren, sich
um so fester an den Kaiser anschlössen. Nicht mehr Glück
hatte Albert bei den übrigen Fürsten des Reiches. Auf dem
Reichstage, den König Konrad und der Reichsprokurator
am 1. Juni 1239 in Eger abhielten, wurden die bisher noch
unsicheren Fürsten, der Markgraf von Meißen und der Land-
graf von Thüringen, der durch die Heirat einer Tochter des
geächteten Babenbergers in einen gewissen Gegensatz zur
Reichsregierung getreten war, vollends für die staufische
Sache gewonnen.^) Man versteht, daß unter diesen Um-
ständen weder der Prinz Abel von Dänemark, noch der
Herzog Otto von Braunschweig, noch auch Robert, der
Bruder des französischen Königs, das Danaergeschenk der
ihnen angebotenen deutschen Königskrone annehmen woll-
ten. 2) Die nach Lebus und Bautzen angesagten Wahltage
kamen nicht zustande. Schließlich fiel auch die Fürsten-
koalition im Südosten des Reiches auseinander: der König
von Böhmen und der Herzog von Österreich zogen es vor,
ihren Frieden mit dem Kaiser zu machen.^) Der Herzog
von Bayern war völlig isoliert. Je mehr die päpstliche Sache
zurückging, mit um so schärferen Mitteln ging der Archi-
diakon Albert vor. Gregor IX. hatte ihm Auftrag und Voll-
macht gegeben, alle Anhänger und Begünstiger des Kaisers
zu bannen.*) Hiervon machte Albert ausgiebigen Gebrauch.
1) Höfler S. 5. — Annales Erphord. Mon. Erph. p. 96, deren
Berichte in einigen Punkten von den Angaben Alberts abweichen.
*) Chronicon Alberichs von Trois-Fontaines. Mon, Germ. SS.
XX IM, p. 949.
8) 1240 vor März 23: Höfler S. 10 u. 14.
*) Höfler S. 6.
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. 221
Seine Massenexkommunikationen blieben jedoch wirkungslos
und stifteten mehr Schaden als Nutzen. Besonders die baye-
rischen Bischöfe wurden nur in ihrem Widerstände bestärkt.
Sie leisteten den Anordnungen des Legaten keine Folge und
kümmerten sich nicht um seine Vorladungen. Der Bischof
Siegfried von Regensburg machte sich öffentlich über Albert
lustig und gab ihm zu verstehen, daß er seine Vollmacht
für gefälscht halte. Der Erzbischof von Salzburg und der
Bischof von Brixen sperrten den Boten Alberts, die zum
Papste gingen, den Weg. Eberhard von Salzburg scheute
sich nicht, ein an ihn gesandtes päpstliches Schreiben mit
Füßen zu treten, i) Der Bischof von Freising beantwortete
die Ladung des päpstlichen Delegatrichters, des Straßburger
Bischofs, mit den kecken Worten, der Papst habe in Deutsch-
land überhaupt nichts zu schaffen (nil iuris in Alemannia
habere).^) Irgendwelche kirchlichen Motive suchen wir bei den
Anhängern und Gegnern des Papstes vergebens. Auch für
die Haltung Ottos von Bayern waren ausschließlich terri-
torialpolitische Gesichtspunkte maßgebend. Er benutzte den
päpstlichen Legaten als Werkzeug der bayerischen Politik.
Die Exkommunikationen Alberts ergingen vornehmlich gegen
diejenigen Fürsten, die Widersacher und Rivalen des baye-
rischen Herzogs waren: gegen die bayerischen Bischöfe, den
Erzbischof von Mainz, den Herzog von Österreich, den Land-
grafen von Thüringen und andere. 3) Als dann Herzog Otto
seine Isolierung gefährlich zu werden drohte, begann er sich
der kaiserlichen Partei zu nähern, indem er sich zunächst
mit den Bischöfen von Freising und Passau aussöhnte.*)
Der Versuch zur Bildung einer päpstlichen Partei in
Deutschland war völlig gescheitert. Wohl war es der Kurie
gelungen, unter Ausnutzung der persönlichen und terri-
1) Höfler S. 12, 16, 19 u. 28.
2) Höfler S. 5.
3) Ratzinger, Albert d. Böhme. Historisch-politische Blätter
Bd. 64 (1869), S. 209. Um die Exkommunikation des thüringischen
Landgrafen hatte der Herzog von Bayern besonders gebeten: Höfler
S. 6 u. 11.
*) Höfler S. 4.
Historische Zeitschrift (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd. 1 5
222 Manfred Stimming,
torialen Gegensätze unter den deutschen Fürsten eine An-
zahl von Anhängern zu gewinnen; sie aber dauernd zu-
sammenzuhalten oder gar ihnen das Übergewicht zu ver-
schaffen, dazu reichten die Mittel, deren Gregor IX. sich
bediente, nicht aus. Die geistlichen Waffen erwiesen sich
als stumpf und wirkungslos; nur an wenigen Stellen wurde
die Exkommunikation des Kaisers verkündet. Nicht einmal
ein päpstlich gesinnter Fürst wie der Erzbischof von Bremen
wagte es zu tun, da er für seine Stellung fürchtete, i) Nach
wie vor leisteten die weltlichen und geistlichen Fürsten und
die Städte dem Kaiser bewaffneten Zuzug in die Lombardei.
Ja, die kaiserliche Sache gestaltete sich so günstig, daß es
Friedrich gelang, auf dem Egerer Fürstentage durch dorthin
gesandte Boten die anwesenden Großen von der Ungerech-
tigkeit des päpstlichen Vorgehens zu überzeugen und ihnen
die eidliche Verpflichtung abzunehmen, den Versuch einer
Versöhnung zwischen Papst und Kaiser zu machen. Freilich
darf man aus der Vermittlungsaktion keine zu weit gehen-
den Schlüsse auf die reichstreue Gesinnung der Fürsten
ziehen. Sie handelten nicht aus eigener Initiative, sondern
fügten sich dem Drängen des Kaisers, weil sie selbst ein
Interesse daran hatten, den Frieden und den damaligen Zu-
stand des Reiches aufrechtzuerhalten. Immerhin ging im
Jahre 1240 nicht nur eine Abordnung der deutschen Fürsten
unter der Führung des Deutschmeisters Konrad von Thü-
ringen nach Rom, um den Papst zum Frieden zu bewegen,
sondern der persönliche Versöhnungsversuch wurde noch
durch zahlreiche schriftliche Kundgebungen unterstützt.
Ficker hat nachgewiesen, daß auch diese Vermittlungs-
schreiben dem besonderen Betreiben König Konrads und
der Reichsregierung ihre Entstehung verdankten. 2) Die in
den Briefen genannten Daten und Ausstellungsorte stimmen
mit dem Itinerar des jungen Königs überein, der im Früh-
jahre des Jahres 1240 vom Niederrhein über Lüttich, Köln
und Mainz nach Würzburg reiste, überall die Fürsten an
1) Höfler S. 12.
2) J. Ficker, Erörterungen zur Reichsgeschichte des 13. Jahrhun-
derts. Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung.
Bd. III (1882), S. 337.
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. 223
den Hof lud und sie veranlaßte, brieflich beim Papst zu
intervenieren.
Der Vermittlungsversuch war wohl von dem Kaiser als
eine grandiose Kundgebung gedacht, durch welche die Für-
sten — ähnlich etwa wie in dem Manifeste Reinaids von
Dassel auf dem Reichstage zu Besangon im Jahre 1157 —
in einmütiger Entschlossenheit die ungerechten Übergriffe
der Kurie zurückweisen und den Papst zum Nachgeben
zwingen sollten. Daraus ist allerdings nichts geworden. Nur
durch lebhaftes Drängen und beträchtliche Zugeständnisse
erreichte es die Reichsregierung, daß wenigstens eine größere
Anzahl von Fürsten sich, einzeln oder zu Gruppen vereinigt,
an die Kurie wandte.
Auch die Formulierung der fürstlichen Vermittlungs-
schreiben entsprach keineswegs überall den Wünschen der
Reichsregierung. Am nachdrücklichsten traten die weltlichen
Fürsten am Niederrhein für die Sache des Kaisers ein, jedoch
nicht ohne daß sich König Konrad in den Lütticher Ver-
handlungen dafür zu erheblichen Zugeständnissen bequemen
mußte. Er ging mit den Fürsten ein enges Bündnis ein und ver-
sprach ihnen, Beistand gegen jeden Angreifer zu leisten und
keinen Frieden ohne sie mit dem Papst zu schließen; außer-
dem entband er sie im Namen seines Vaters von der Pflicht
der Heeresfolge nach Italien. i) Man sieht: die Reichsregie-
rung trat den Fürsten gegenüber nicht als gehorsamheischen-
der Staatsgewalt auf, sondern verhandelte mit ihnen auf
diplomatischem Wege wie mit gleichgestellten Mächten. Mit
ähnlicher Entschiedenheit wie die niederrheinischen Großen
schrieben auch — wie es scheint ohne besondere Zugeständ-
nisse — der Landgraf von Thüringen und einige andere
Fürsten an den Papst. Dagegen vermochte Konrad die
Lütticher Fassung bei der Mehrzahl der geistlichen Fürsten
nicht durchzusetzen, da die führende Persönlichkeit, der Erz-
bischof Konrad von Köln, bereits stark zur päpstlichen Seite
neigte. Das Schreiben der Bischöfe, die sich gemeinschaft-
lich mit dem Kölner Erzbischof an den Papst wandten, war
1) Huillard-Br^holles V, p. 1116. — Vgl. Ficker a.a.O. 111,
S. 341 und Böhmer, Regesta imperii Bd. 5 (1882). Bearb. v. J. Ficker
n« 4414.
15*
224 Manfred Stimming,
bedeutend zurückhaltender und ließ die Möglichkeit des
Übertritts auf die kirchliche Seite offen. Vorsichtig war
auch die Kundgebung Erzbischof Siegfrieds von Mainz ge-
halten, i)
Unter diesen Umständen konnte der Vermittlungsver-
such kaum den erwünschten Eindruck auf den Papst machen.
Es fehlte die nachdrückliche Entschlossenheit und die Ein-
mütigkeit, wodurch allein ein Erfolg hätte erzielt werden
können. Aus der Verschiedenheit der Formulierung leuchtet
deutlich der innere Zwiespalt der deutschen Fürsten hervor.
Die Bischöfe ließen in ihrem Schreiben durchblicken, daß
sie sich auf die Seite des Papstes stellen würden, wenn der
Vermittlungsversuch vergeblich sein würde. So mußte die
vom Kaiser veranlaßte und ohne inneren Anteil von den
Fürsten unternommene Aktion scheitern. Sie ist tatsächlich
ohne Ergebnis geblieben.
Indessen ging die päpstliche Agitation in Deutschland
weiter und machte einige Fortschritte. Der König von Böh-
men hatte sich niemals völlig der kaiserlichen Sache an-
geschlossen; seit dem Jahre 1240 begann er sich wieder der
päpstlichen Partei zu nähern. Für seine Haltung war der
Umstand bestimmend, daß der Herzog von Österreich, der
seit 1239 ein treuer Anhänger des Kaisers war, die 1238
versprochenen Gebietsabtretungen nicht ausgeführt hatte.
Darüber kam es zwischen beiden Fürsten zum Kriege, der
bis 1241 dauerte. 2) Der Archidiakon Albert bemühte sich
auf das eifrigste, den König von Ungarn für die Sache der
Kirche zu gewinnen und einen neuen kaiserfeindlichen Für-
stenbund zwischen Bayern, Ungarn und Böhmen zu stiften.
Er wurde dabei von dem Herzoge von Bayern unterstützt. 3)
Da machte ein unvorhergesehenes Ereignis alle Pläne
zunichte. Die drohende Gefahr des Mongolensturmes ver-
anlaßte den König Bela IV. von Ungarn, sich dem Kaiser
in die Arme zu werfen: er trug ihm im Mai des Jahres 1241
sein Land zu Lehen auf, um dafür Hilfe gegen die Barbaren
1) HuiIIard-Br6hoIles Bd. 5, p. 985 ff.
*) Heiligenkreuzer Fortsetzung der iVlelker Annalen. Mon. Germ.
SS, Bd. 9, p. 640.
») Höfler S. 27 u. 28.
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. 225
zu erhalten, i) Ebenso wandte sich der König von Böhmen
hilfesuchend an König Konrad. 2) Auch im Reiche hörten
unter dem Drucke der drohenden Gefahr alle Sonderbestre-
bungen auf. Der Herzog von Bayern söhnte sich im Mai
des Jahres 1241 wieder mit dem Kaiser aus.^) Damals hätte
Friedrich das Kaisertum wohl aufs neue zu Ansehen und
Macht bringen können, wenn er die Kräfte und Bestrebungen,
die sich im ganzen Reiche für die gemeinsame Sache regten,
zusammengefaßt hätte und an der Spitze der vereinigten
deutschen Fürsten den Feinden des Reiches und der abend-
ländischen Kultur entgegengetreten wäre. Wahrlich, eine
kaiserliche Aufgabe! Aber Friedrich blieb in Italien. Er
glaubte damals dicht am Ziele seiner italienischen Pläne zu
sein und hätte nach seiner Ansicht durch seinen Weggang
alles aufs Spiel gesetzt. Um eben diese Zeit, im Juni 1241,
unternahm er eine Heerfahrt gegen den Kirchenstaat, durch
welche der Papst bezwungen und die staufische Herrschaft
in Mittelitalien aufgerichtet werden sollte.*) Die deutschen
Angelegenheiten mußten hinter diesen Unternehmungen zu-
rückstehen. Friedrich überließ die Abwehr der Mongolen
der Reichsregierung, die zu wenig Macht und Ansehen be-
saß, um etwas Durchgreifendes zu unternehmen, geschweige
denn die Situation zur Stärkung der Zentralgewalt aus-
zunutzen.^)
Die Mongolengefahr verschwand ebenso schnell als sie
gekommen war, ohne eine nachhaltige Wirkung auf die
deutschen Verhältnisse ausgeübt zu haben. Zwar mit der
Fürstenkoalition im Südosten war es ein für allemal vorbei.
Der König von Böhmen hatte in den folgenden Jahren genug
zu tun, um die Wunden, die der Mongoleneinfall seinem
Lande geschlagen hatte, zu heilen. Statt dessen aber ent-
stand in Westdeutschland ein neuer Mittelpunkt reichsfeind-
licher Bestrebungen. Schon im Jahre 1240 meldete der
Archidiakon Albert frohlockend nach Rom: ,Jam episcopos
^) Regesta Habsburgica ed. H. Steinacker Bd. 1 n^ 184.
2) Codex diplomaticus Moraviae ed. Boczek Bd. 3 (1841) r\^ 23.
^) Regesten der Ffalzgrafen n® 466.
*) Reg. Imp. V, 2 n« 3207 u. 3211.
*) Huillard-Br^holles V, p. 1145.
226 Manfred Stimming,
I
I
incipere ruminare tarn circa Rhenum et alibV'.^) Zu den in '
ihrer Treue wankenden Bischöfen, die Albert im Auge hatte, ^
gehörte gewiß in erster Linie der Kölner Erzbischof Konrad 1!
von Hochstaden, der bereits bei dem fürstlichen Vermitt-
lungsversuch eine zweideutige Rolle gespielt hatte. Er wurde
in den folgenden Jahren die Seele der kaiserfeindlichen Partei
in Deutschland.
Es kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß für die
Parteinahme Konrads in erster Linie die Gesichtspunkte der
Territorialpolitik maßgebend waren. Während seines mehr
als 20 jährigen Episkopates hatte der Erzbischof unablässig
und mit dem größten Erfolge an der Vermehrung und der Ab-
rundung der Kölner Besitzungen gearbeitet. 2) Dies brachte ihn
in feindlichen Gegensatz zu den benachbarten niederrheini-
schen Fürsten, die wetteifernd mit dem Erzbischof Territorial-
politik trieben. Seit der Wahl Konrads im April des Jahres 1 238
verging kein Jahr ohne größere Kämpfe am Niederrhein:
1238 finden wir den Kölner in eine Fehde mit dem Pfalzgrafen
um die Burg Thuron an der Mosel verwickelt^) ; 1239 kämpfte
er gegen den Grafen von Sayn*), die Herzöge von Brabant
und Limburg^), die Grafen von Berg und Jülich«); und
auch in den folgenden Jahren dauerten die Kämpfe an.
Nicht ganz mit Unrecht nennt ein Kölner Bischofskatalog
des 13. Jahrhunderts Konrad einen „v/r furiosus et belli-
cosüs'',"*) In der Regel stand der Erzbischof allein gegen
einzelne oder mehrere niederrheinische Fürsten. Diese aber
hielten enge Fühlung mit der Reichsregierung, und wurden
von König Konrad stark begünstigt, s) Unter solchen Um-
1) Höfler S. 15.
2) H. Cardauns, Konrad von Hochstaden, Erzbischof von Köln
(1880) S. 51ff.
3) Regesten der Erzbischöfe von Köln ed. Knipping Bd. 3 (1909)
n» 923.
*) ib. n« 934.
^) ib. n» 981—86.
•) ib. n» 947/48, 951, 959 u. 964.
') Mon. Germ. SS Bd. 24, p. 353.
■) Conradus rex . . ., qui etiam fovit partes laicorum adver sus
Coloniensem electum: Gesta Trevirorum. Continuatio IV zu 1239. Mon.
Germ. SS. Bd. 24, p. 403.
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. 227
ständen mußte der Kölner Erzbischof jede Umwälzung in
Deutschland begrüßen, da sie ihm Befreiung von der Um-
klammerung durch seine Gegner versprach. Er entschloß
sich daher schon bald nach der Verkündigung des Bannes
gegen den Kaiser, auf die Seite der Kirche zu treten. An einen
offenen Abfall freilich konnte er damals wegen seiner iso-
lierten und bedrohten Lage nicht denken. Er hielt sich zu-
nächst abwartend zurück, weil er einen Kampf scheute, in dem
er der Übermacht der Reichsregierung und seiner nieder-
rheinischen Widersacher preisgegeben worden wäre. Im April
oder Mai des Jahres 1239 reiste er heimlich nach Rom.^)
Was dort zwischen dem Papste und ihm abgemacht wurde,
ist nicht bekannt. Wir wissen nur, daß er dem kaiserlichen
Elekten von Lüttich abschwor, und daß er sich seither in
hervorragendem Maße der Gunst der Kurie erfreute, die ihn
mit Privilegien und Gnadenbezeugungen überschüttete. 2) In
den folgenden zwei Jahren verhielt sich Konrad ruhig; ja
er nahm sogar zum Scheine an dem fürstlichen Vermittlungs-
versuche teil. Die Reichsregierung war sich der Gefahren,
die ihr von dem Kölner Erzbischof drohten, wohl bewußt:
sie ließ nach der Verkündigung des Bannes gegen den Kaiser
den Verkehr zwischen der Kurie und dem Niederrhein mit
besonderer Sorgfalt überwachen und suchte die territorialen
Widersacher des Erzbischofs durch Privilegien und Gunst-
bezeugungen enger an sich zu fesseln. 3)
Erst als Konrad von Hochstaden in der Person des
Erzbischofs Siegfried von Mainz einen mächtigen Verbün-
deten fand, entschloß er sich zum offenen Abfall. Der
Mainzer Erzbischof galt anfangs als eine der festesten Stützen
des staufischen Kaisertums; sonst hätte ihn Friedrich IL
wohl kaum zum Reichsprokurator bestellt. Noch bei dem
fürstlichen Vermittlungsversuch im Jahre 1240 war seine
Haltung durchaus loyal. Allerdings stand er seit 1239 in
näheren Beziehungen zu dem Erzbischof von Köln. Als er
1) Kölner Reg. III, n» 936.
*) Privilegien von 1239, Mai 9, 10, 24, 28 usw. Köln. Reg.
ni, n« 940ff.
') Gesta Trevirorum, Continuatio IV. Mon, Germ, SS. Bd. 24,
p. 403.
228 Manfred Stimming,
nämlich am 6. Juni dieses Jahres ein Bündnis mit dem
Herzog von Braunschweig abschloß, verpflichtete er sich
diesem zur Hilfe gegen jedermann außer gegen das Reich
und Köln.i) w^g den Mainzer Erzbischof an die Seite seines
niederrheinischen Amtsgenossen führte, war wohl vornehm-
lich die Gegnerschaft des Herzogs Otto von Bayern. Seit
Jahren führten Bayern und Mainz einen erbitterten Streit
um die Abtei Lorsch. Als die Aussöhnung zwischen dem
Kaiser und dem Bayernherzog zustande kam, begann Erz-
bischof Siegfried wohl für seine Lorscher Besitzungen zu
fürchten. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß dem Herzog
Otto bei seinem Parteiwechsel von der Reichsregierung be-
stimmte Versprechungen auf die alte Reichsabtei gemacht
wurden. 2) Jedenfalls unternahm König Konrad, als es zum
Bruch mit Mainz gekommen war, wohl zugunsten des baye-
rischen Herzogs einen Feldzug gegen das Gebiet von Lorsch,
jedoch ohne einen größeren Erfolg zu erzielen. 3) Wie dem
auch sei; Tatsache ist, daß es Erzbischof Konrad gelang,
den Mainzer Erzbischof völlig für seine Pläne zu gewinnen.
Am 10. November 1241 schlössen beide Fürsten ein enges
Bündnis, das seine Spitze gegen das Reich richtete.*) Nun-
mehr hatte Konrad das, was er brauchte: er sah einen
mächtigen Verbündeten an seiner Seite; und das gab ihm
die erwünschte Freiheit des Handelns. Der offene Abfall
von der kaiserlichen Sache ließ denn auch nicht lange auf
sich warten. Die beiden Erzbischöfe verkündeten die Ex-
kommunikation des Kaisers und fielen im September des
Jahres 1241 raubend, sengend und mordend in die Besit-
zungen des Reiches in der Wetterau ein.*) Daß die beiden
1) Kölner Regesten III, n» 946.
*) Daß es zu bestimmten Abmachungen kam, geht aus einem
Briefe Friedrichs II. hervor (Winkelmann, Ada imperii inedita I (1880)^
n® 362). Ich nehme an, daß dabei auch die Lorscher Frage eine Rolle
spielte.
8) Annales Wormat. zu 1243. Mon. Germ. SS. Bd. 17, p. 48.
*) Lacomblet, Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins
Bd. 3 (1846), n« 257.
*) Gesta Trevirorum. Mon. Germ. SS. XXIV, p. 404. — Annales
sandi Rudberti Salisburgenses. Mon. Germ. SS. IX, p. 787. — Chri-
stiani über de calamitate ecdesiae Moguntinae. Mon. Germ. SS. XXV,
247.— Kölner Regesten III, n« 1033.
J
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. 229
Fürsten lediglich im egoistischen Interesse und keineswegs
aus kirchlicher Devotion handelten, geht mit Sicherheit aus
der Tatsache hervor, daß sie die Feindseligkeiten eröffneten,
als Papst Gregor IX. bereits gestorben war (am 22. August),
Wäre es ihnen um die Sache der Kirche zu tun gewesen,
so hätten sie die Wahl und Stellungnahme des neuen Papstes
abwarten müssen. Aber der Friede zwischen Kaiser und
Kurie war gerade dasjenige, was sie zu vermeiden wünschten.
So eröffneten sie, der Entscheidung der Kirche vorgreifend,
den Kampf.
tDie Reichsregierung traf der Abfall nicht unvorbereitet,
eit langem stand sie in enger Fühlung mit den niederrheini-
schen Fürsten. Schon 1240 hatte König Konrad sich be-
müht, die Stadt Köln durch Begünstigungen für sich zu
gewinnen; diese Versuche wurden im folgenden Jahre von
den Verbündeten der Reichsregierung wieder aufgenommen. i)
Der gefährlichste Gegner war zweifellos der Erzbischof von
Köln. Nicht ohne Grund berichten die Gesta Trevirorum von
ihm, daß er „quasi capitaneus Imperium impugnaviV ^) König
Konrad entfaltete im Herbst des Jahres 1241 eine fieber-
hafte Tätigkeit, um den Kölner Erzbischof im Schach zu
halten. Die Reichsburgen am Niederrhein wurden in Ver-
teidigungszustand gesetzt; die befreundeten Fürsten gegen
den Kölner aufgeboten.^) Am 1. Dezember ging die Reichs-
regierung ein enges Bündnis mit dem Herzog Wilhelm von
Jülich und der Reichsstadt Aachen ein.
In dem ausbrechenden Kriege zwischen Köln und Jülich
geriet Erzbischof Konrad im Februar des Jahres 1242 in
der Schlacht von Lechenich in die Gefangenschaft seiner
Gegner.*) Ein glücklicher Zufall hatte der staufischen Partei
ihren gefährlichsten Widersacher in die Hände gespielt. Die
Reichsregierung setzte sofort alle Hebel in Bewegung, um
1) Lacomblet II, n» 247. — Kölner Regesten III, n« 1044.
2) Mon. Germ. SS. Bd. 24, p. 405.
3) Huillard-Br^holles VI, p. 818. Urkundenbuch der Mittelrhei-
nischen Territorien Bd. 3 (1874), n*' 720 u. 746. — Lacomblet II,
n** 258. — Vgl. J. Ficker in den Sitzungsberichten der kaiserl. Aka-
demie der Wissenschaften in Wien Bd. 69/70 (1872), S. 356.
«) Kölner Regesten HI, n» 1046—50.
230 Manfred Stimming,
die Auslieferung des Gefangenen zu erlangen und den glän-
zenden Fang im Interesse des Reiches auszunutzen. Der
Mainzer Domkustos Graf Friedrich von Eberstein, einer der
eifrigsten staufischen Parteigänger, begab sich im Auftrage
König Konrads an den Niederrhein, um den Grafen von
Jülich zu veranlassen, den Kölner Erzbischof unter keinen
Umständen frei zu lassen, sondern ihn in sicherem Gewahr-
sam zu halten. 1) Dann eilte König Konrad selbst herbei,
um die Auslieferung des Gefangenen zu betreiben. Von
Speyer, wo er im Februar weilte, reiste Konrad über Trier
nach Aachen, wo die Verhandlungen Mitte März stattfanden.
Obwohl der König eine bedeutende Summe Geldes bot,
konnte er doch die Auslieferung nicht durchsetzen. 2) So
gering war die Macht der Reichsregierung! Nur soviel ver-
mochte Konrad zu erreichen, daß Wilhelm von Jülich sich
eidlich verpflichtete, den Erzbischof als Gefangenen des
Reiches anzusehen und in Haft zu behalten. Nicht einmal
dieses Zugeständnis machte der Graf umsonst, sondern ließ
sich dafür die Reichsstadt Düren verpfänden.^) Graf Wil-
helm hielt den Kölner dreiviertel Jahre lang in Gewahr-
sam. Dann aber brach er sein eidliches Versprechen und
ließ den Gefangenen im November des Jahres 1242 frei,
nachdem er sich eine Anzahl persönlicher Zusicherungen
hatte machen lassen.*) Lediglich zu seinem privaten Vorteile
nutzte er die Gefangennahme des Reichsfeindes aus. Seine
Haltung war wie die der meisten damaligen Fürsten aus-
schließlich von dynastischen und territorialen Gesichts-
punkten bestimmt. So trug er kein Bedenken, durch die
Freilasoung des Gefangenen Kaiser und Reich schweren
Schaden zuzufügen, um seinem persönlichen Vorteil zu
^) In einer ungedruckten Urkunde Erzbischof Siegfrieds von
Mainz von 1242 August 23 (München, Reichsarchiv, Mainz Erzstift
fasc. 260) heißt es: ... eundo in legatione regis ad principes inferiores
et eos ad obsequium regis inducendo, inflammando comitem Juliacensem,
ut archiepiscopum Coloniensem pro negocio ecclesie captum non solum
non dimitteret, sei fortius compediret.
2) Gesta Trevirorum. Continuatio V. Mon. Germ. SS. Bd. 24, p. 405.
') Ficker in den Sitzungsberichten der Wiener Akademie Bd. 69/70
(1872), S. 93. — Reg. Imp. V, 2, n« 4452 b.
*) Lacomblet II, n« 270. — Kölner Regesten III, n» 1056.
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. 231
dienen. Man versteht, wie schwer unter diesen Umständen
die Aufgaben der Reichsregierung waren. Nur unter bestän-
digen Opfern an Rechten und Besitzungen vermochte sie
ihre Anhänger bei der Stange zu halten und mußte trotz-
dem gewärtig sein, daß diese abfielen, wenn durch Übertritt
auf die Gegenseite größerer Vorteil lockte.
König Konrad mußte im März des Jahres 1242 unver-
richteter Sache Aachen den Rücken kehren. Er suchte
wenigstens seine Anwesenheit im Westen des Reiches dazu
auszunutzen, um überall Anhänger zu werben und neue
Stützen für die staufische Sache zu gewinnen. Dabei wurde er
von dem Mainzer Domkustos Friedrich tatkräftig unter-
stützt; diesem gelang es, den Grafen von Nassau auf die
kaiseriiche Seite zu ziehen. i) In Trier setzte König Konrad
nach dem Tode Erzbischof Dietrichs den Propst von St.
Paul, einen Grafen Rudolf von Saarbrücken, ein und be-
lehnte ihn mit den Regalien. Der staufische Erzbischof
vermochte sich jedoch trotz der Unterstützung durch den
Herzog von Lothringen und die Grafen von Sayn und
Luxemburg auf die Dauer nicht gegen den Erwählten des
Domkapitels, den Dompropst Arnold von Isenburg, zu be-
haupten. 2) Von Trier reiste der König nach Mainz weiter.
Eine bisher unbeachtete Urkunde des Münchener Reichs-
archivs wirft ein helles Licht auf die damaligen Vorgänge
in der rheinischen Bischofsstadt. 2) Mainz hatte im Kampfe
der Reichsregierung mit ihrem Landesherren, dem Erzbischof,
noch nicht Partei ergriffen. Wiederum eilte der rührige
Domkustos Friedrich seinem Herrn voraus. Er erwirkte für
den König Einlaß in die Stadt, nachdem die Bürgerschaft
die geforderte Zusicherung erhalten hatte, daß gegen den
Klerus keine Gewalt angewendet werden dürfte. Konrad
versammelte die Mainzer Geistlichkeit um sich und suchte
(tu
) Ungedruckte Urkunde von 1242: comitem etiam de Nassowe
{tunc fidelem nostrum) per multa mendacia et promissa a nostro (idest:
chiepiscopi Moguntini) et ecclesie servicio revocando, sicut publice se
ctavit.
2) Gesta Trevirorum. Contin. V. Mon. Germ. SS. Bd. 24, p. 405
Iu. 406.
V •) Vgl. S. 230 Anm. K
I
232 Manfred Stimming,
sie in Güte zum Abfall von dem Erzbischof zu bewegen.
Diese weigerte sich jedoch standhaft, etwas gegen ihr kirch-
liches Oberhaupt zu unternehmen, obwohl der Domkustos
Friedrich seine ganze Beredsamkeit aufbot, um sie für die
staufische Sache zu gewinnen. Ebensowenig zeigte sie frei-
lich eine reichsfeindliche Gesinnung. Und so machte denn
Konrad Miene, ihr unbedenklich den erbetenen Königs-
schutz zu verleihen. Da aber sprang der Domkustos erregt
auf und rief, das dürfe er nicht tun ; denn unter dem Klerus
befänden sich viele geheime Feinde des Reiches. Er fürchtete
eine Annäherung zwischen dem Könige und dem Mainzer
Erzbischof und suchte eine solche unter allen Umständen
zu hintertreiben. Darum erklärte er unzweideutig, daß er
sofort zur Gegenpartei übertreten würde, falls es zu einer
Aussöhnung zwischen dem Kaiser und Erzbischof Siegfried
kommen sollte.^) Auch bei diesem treuesten Parteigänger
der Hohenstaufen waren es lediglich persönliche Motive, der
glühende Haß gegen seinen kirchlichen Oberen und der
Wunsch, diesem zu schaden, die ihn bestimmten, seine Kräfte
der Reichsregierung zur Verfügung zu stellen.
Trotz aller Bemühungen gelang es dem Könige nicht,
der beiden aufständischen Erzbischöfe Herr zu werden. Der
Abfall fraß langsam weiter. Vornehmlich waren es die Suf-
1) Ungedruckte Urkunde von 1242: In reditu regis de inferiori-
bus partibus eum prevenit cum litteris suis et nuntiis in civitaiem no-
stram Maguntinam et per multas trufas et mendacia in civitaiem no-
stram dicto regi contra nos impetravit ingressum. Vobis (sc. clericis
Magunt.) quoque in unum publice convocatis presente rege vos sollicita-
vit attente, ut a nostra (sc. archiepiscopi Magunt.) obedientia recedentes
regi et patri suo contra nos velletis assister e, quod tamen saniori usi
consilio vestri gratia facere recusastis. Et nisi sollicitudo ä fidelitas
civium Maguntin. ex pacta speciali obtinuisset a rege, quod nullam
violentiam faceret clero nostro, vos ad recedendum a nobis et ecclesia,
quantum in ipso fuisset, manu violenta instigante custode procul dubio
compulisset. Preterea cum universitas vestra defensionem postulasset a
rege et ipse vellet armuere votis vestris, surrexit infamis in publicum
dicens: hoc facere non debere, quia multi ex vobis faverent nobis ä dido
negocio et essent regis et patris sui clandestini inimici; palamque fuit
temere protestatus, quod, quamdiu essemus f antares ecclesie, ipse a rege
et patre suo nollet aliquaienus declinare; et si nos eis adherere vellemus,
ipse statim in partem contrariam se transferret
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. 233
fragane von Köln und Mainz, die in der folgenden Zeit dem
Beispiele ihrer Metropoliten folgten und zur antistaufischen
Partei übertraten. Auch die reichstreue Fürstengruppe am
Niederrhein fiel auseinander: dort dauerten in den nächsten
Jahren die lokalen Fehden und Kämpfe mit wechselnder
Parteikonstellation an.^)
Dagegen fand die kaiserliche Sache eine feste Stütze
an denjenigen Fürsten, die früher ihre schärfsten Gegner
gewesen waren. Der König von Böhmen stellte im Früh-
jahr 1242 ein Heer gegen den Erzbischof von Mainz ins
Feld. 2) Der treueste und zuverlässigste Anhänger der Hohen-
staufen aber war seit dem Jahre 1241 der Herzog Otto von
Bayern. Die Verlobung König Konrads mit Ottos Tochter
Elisabeth im Jahre 1243 und die 1246 erfolgte Vermählung
knüpften das Band zwischen den Witteisbachern und Hohen-
staufen nur noch fester. Freilich dürfen wir bei dem Bayern-
herzog ebensowenig wie bei den anderen Anhängern des
Kaisers auf eine besonders reichstreue Gesinnung schließen.
Man braucht sich nur an das eine Gespräch zu erinnern,
welches Otto mit dem Archidiakonen Albert geführt hatte,
als er noch auf der Seite der Kirche stand. Albert meinte
einmal: da die deutschen Wahlfürsten versäumt hätten,
einen neuen König zu wählen, so könnte sich die Kirche
einen Franzosen oder einen Lombarden oder irgendeinen
anderen zum Vogt nehmen und so das Reich auf andere
Nationen übergehen lassen. Darauf erwiderte der Herzog:
wenn es doch der Papst schon getan hätte; er wolle in
diesem Falle gerne für sich und seine Erben auf seine beiden
Wahlstimmen, die bayerische und die pfälzische, verzichten
und darüber der Kirche eine feierliche Verbrief ung ausstellen. 3)
So geringschätzig dachte dieser Fürst über die Würde und
die Rechte des Reiches. In der Tat ließ sich Herzog Otto
nur von persönlichen und partikularistischen Beweggründen
leiten. Nur da griff er in den Kampf zwischen dem Reich
und der Kirche handelnd ein, wo seine territorialen Inter*
1) Lacomblet II, n« 278 u. 282. — Mittelrhein. Urkundenbuch
III, n0 778.
«) Höfler S. 31.
«) ib. S. 16.
234 Manfred Stimming,
essen in Frage kamen. An der Seite der Hohenstaufen glaubte
er seine Pläne zur Vermehrung seines Länderbesitzes am*
besten fördern zu können. Er hoffte, mit Hilfe des Kaisers J
seinen Mainzer Rivalen im Kampfe um die Reichsabtei
Lorsch aus dem Felde zu schlagen und das Herzogtum
Österreich nach dem Tode des Babenbergers Friedrich, der
keine Erben besaß, mit Bayern zu vereinigen.^) Blieben auch
die Hoffnungen auf Lorsch und Österreich unerfüllt, so ver-
dankte doch Otto andere bedeutende Erwerbungen wie die
der Grafschaften Wasserburg und Kirchberg und die mera-
nische Erbschaft seinem engen Anschluß an die staufische
Sache.
In Mitteldeutschland war der mächtigste Fürst der
Landgraf Heinrich Raspe von Thüringen, der seit der Ex-
kommunikation des Kaisers eine schwankende Haltung ein-
genommen hatte. 2) Deshalb glaubte der Archidiakon Albert
leichtes Spiel zu haben, jenen für die Sache der Kirche zu
gewinnen. Darin sah er sich freilich getäuscht, denn Heinrich
war nicht geneigt, solange die Reichsregierung das Über-
gewicht hatte, seine Stellung durch Anschluß an die Gegner
zu gefährden. 1240 schloß er sich sogar mit aller Entschie-
denheit dem fürstlichen Vermittlungsversuch an und verfiel
deshalb der Exkommunikation durch den Passauer Archi-
diakonen. Eine der hervorstechendsten Charaktereigen-
schaften des Landgrafen war sein Ehrgeiz.^) Auf diesen
spekulierte der Kaiser wohl in erster Linie, als er Heinrich
im Frühjahre 1242 anstelle des abgefallenen Mainzer Erz-
bischofs zum Reichsprokurator machte, um so den mäch-
tigen Fürsten dauernd an die Sache des Reiches zu fesseln.
Der feindliche Gegensatz zu der Mainzer Kirche, deren Vor-
steher von alters her Widersacher der landgräflichen Terri-
torialpolitik in Thüringen und Hessen waren, mag außerdem
1) A. Schreiber, Otto der Erlauchte, Pfalzgraf bei Rhein und
Herzog von Bayern (1861), S. 20. — S. Riezler, Geschichte Bayerns
II (1880), S. 88. — A. Lindemann, Die Ermordung Herzog Ludwigs
von Bayern und die päpstliche Agitation in Deutschland. Rostock.
Diss. 1894, S. 65.
2) A. Rübesamen, Landgraf Heinrich Raspe von Thüringen. Halle,.
Diss. 1885, S. 30. — R. Maisch, Heinrich Raspe (1911), S. 34 ff.
3) K. Wenck, Heinrich Raspe. Die Wartburg (1907), S. 215.
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. 235
Heinrich Raspe mitbestimmt haben, offen und ohne Vor-
behalt in das kaiserliche Lager überzutreten. Die Ernennung
des neuen Reichsprokurators war lediglich ein politischer
Schachzug des Kaisers. Tatsächlichen Einfluß auf die Reichs-
regierung hat der Landgraf nicht gewonnen. Die Leitung
des Reiches lag nach wie vor in den Händen König Konrads
und seiner Räte, die ihre Weisungen von Friedrich aus
Italien erhielten. Auch an der Bekämpfung der Reichs-
feinde hat sich Heinrich nicht aktiv beteiligt. Als die kirch-
liche Partei in Deutschland erstarkte, war er vorsichtig genug,,
den Reichsverwesertitel abzulegen. i)
Der Abfall der Erzbischöfe von Köln und Mainz hatte
die Gesamtlage in Deutschland nicht wesentlich geändert.
Die meisten deutschen Fürsten, die nicht unmittelbar von
den Kämpfen berührt wurden, sahen dem Streite teilnahms-
los zu und gingen ihren territorialen Interessen nach. Da
indessen die Reichsregierung der Insurrektion nicht Herr
zu werden vermochte, so blieb die Situation bedrohlich.
Eine völlige Änderung der Verhältnisse trat ein, als
Innozenz IV. den Stuhl des heiligen Petrus bestieg und nach
vergeblichen Ausgleichsversuchen den Kampf gegen das
staufische Kaiserhaus mit aller Kraft wieder aufnahm. Aus
politischen Machtfragen entbrannte der Streit zwischen
Kaisertum und Papsttum aufs neue. In den kirchlichen
Streitpunkten hatte Friedrich auf der ganzen Linie nach-
gegeben; dagegen konnte und wollte er nicht auf seine
Herrschaftsansprüche in Nord- und Mittelitalien verzichten.
Das Papsttum aber mußte sich um jeden Preis von der
drohenden Erdrückung durch die staufische Macht befreien,
wenn es die Freiheit des Handelns wiedergewinnen wollte.
Es waren unvereinbare Gegensätze, die in den hochge-
schrobenen Machtansprüchen und in dem rivalisierenden
Universalismus von Kaisertum und Papsttum begründet
lagen: sie konnten nur durch einen Kampf auf Tod und
Leben entschieden werden.
1) Seit Juli 1243 nannte er sich nicht mehr so: Dobenecker,
Regesta Thuringiae -IM (1904), n« 1094. — Im Dezember 1243 wird
der König von Böhmen einmal „sacri per Germaniam imperii procu-
raior" genannt: Codex Moraviae III, p. 33.
236 Manfred Stimming,
Dieser Kampf, der auf beiden Seiten mit der größten
Erbitterung und mit allen zu Gebote stehenden geistigen
und materiellen Machtmitteln geführt wurde, umspannte
die ganze christliche Welt. Innozenz IV. war seinen Vor-
gängern nicht nur an Großzügigkeit, sondern auch an
Skrupellosigkeit weit überlegen: er wandte das gesamte
furchtbare geistige Rüstzeug der Kirche gegen den Kaiser
auf und suchte das ganze Abendland wider ihn aufzu-
wiegeln. Indem er die Exkommunikation und die Abset-
zung Friedrichs durch ein allgemeines Konzil aussprechen
ließ, nahm er seinem Vorgehen den Charakter einer aus
persönlicher Feindschaft ergriffenen Maßregel und erzielte
eine um so größere Wirksamkeit. Er wandte sich an
die Herrscher von Frankreich und England, um ihren Bei-
stand zur Vernichtung des Kaisers zu gewinnen. Er suchte
überall in den Ländern des Imperiums den Boden der
staufischen Herrschaft zu unterwühlen.
Mit besonderer Virtuosität wußte Innozenz die öffent-
liehe Meinung für sich zu gewinnen und der Förderung
seiner Pläne dienstbar zu machen. Er trug Sorge, daß die
Anklagen gegen den Kaiser und das Urteil des Lyoner
Konzils überall verbreitet wurden. Vortrefflich kam ihm
hierbei der alle Länder umspannende, hierarchisch geglie-
derte Bau der Kirche zustatten. Von der Kurie aus ge-
langten die päpstlichen Anklagen an die Erzbischöfe und
Bischöfe und wurden von ihnen an die unteren Organe
bis zu den niedrigsten Stufen der Hierarchie weitergegeben.
Weltgeistliche und Mönche sorgten dafür, daß die An-
schuldigungen gegen den Kaiser und die über ihn ver-
hängten Strafen überall in allen Gesellschaftsklassen der
abendländischen Laienwelt bekannt gemacht und verbreitet
wurden. Wo sich die oberen Instanzen der Hierarchie ver-
sagten, da setzten andere Kräfte ein: Dominikaner und
Franziskaner durchzogen als Wanderprediger im speziellen
Auftrage des Papstes die Länder; sie verkündeten überall
das Urteil gegen den Kaiser und wirkten erfolgreich für
die päpstliche Sache. ^) Dieser Organisation hatte Fried-
*) Chron. S. Pari Erphord. Monumenta Erphesfurt. p. 239. —
Vgl. A. Lindemann, Die Ermordung Herzog Ludwigs von Bayern,
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. 237
rieh II. etwas Ebenbürtiges nicht entgegenzusetzen. Der
Kaiser suchte den päpstlichen Treibereien auf diplomati-
schem Wege und durch Rundschreiben, die er zu seiner
Verteidigung ausgehen ließ, entgegenzuarbeiten. Am eng-
lischen und französischen Hofe war sein Vorgehen mit Er-
folg gekrönt. Aber die öffentliche Meinung vermochte er
doch nur wenig zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Hier
behauptete die Kirche das Feld. In zahlreichen zeitgenös-
sischen Chroniken und Geschichtswerken lesen wir von der
Exkommunikation des Kaisers, von seinen angebHchen Ver-
brechen und Missetaten, welche die Kirche ihm vorwarf
und geflissentlich verbreitete; aber von den Gegenwirkun-
gen Friedrichs finden wir kaum irgendwo eine Spur. Sie
gelangten entweder nicht bis zu den geistlichen Chronisten
und Geschichtsschreibern oder blieben doch ohne Eindruck.
Vor allem war der Kaiser gegenüber der Maulwurfsarbeit
der päpstlichen Wanderprediger machtlos; über ihre ver-
derbliche Tätigkeit hat er sich bitter beklagt.^) In seinem
sizilianischen Königreiche freilich war es ihm möglich, die
Bettelmönche durch ein Machtgebot auszuweisen 2); in
Deutschland aber war etwas Derartiges ausgeschlossen. 3)
Hier standen für die päpstlichen Einflüsse alle Wege offen.
In dem gewaltigen Endkampf zwischen Imperium und
Sacerdotium war zwar Italien der Hauptkampfplatz, für die
Entscheidung aber war vor allem die Stellungnahme
Deutschlands von hervorragender Bedeutung. Der Kaiser
zog aus seinen Ländern nördlich der Alpen Jahr für Jahr
ansehnliche militärische und finanzielle Kräfte und Hilfs-
S. 76ff. J. Zorn, Umfang und Organisation des päpstlichen Eingrei-
fens in Deutschland (1238—1250). Programm Baden bei Wien 1909,
S. 9. Hauck, Kirchengesch. IV*, S. 865ff.
^) . . . vitam nostram reprobam predicando multifariam deprave-
runt nos et iura nostra minor averunt, quod simus iam ad nihilum redacti.
Iselinus, Petrus de Vinea II (1740), p. 220.
^) Jastrow und Winter, Deutsche Geschichte im Zeitalter der
Hohenstaufen II (1901), S. 479.
^) Hier konnte der Kaiser höchstens auf diplomatischem Wege
bei den einzelnen Fürsten der päpstlichen Agitation entgegenwirken,
wie er es gegen Albert Beheim bereits 1240 am bayerischen Hofe ver-
sucht hatte: Höfler S. 26.
Historische Zeitschrift (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd 16
238 Manfred Stimming^
mittel, die bei den Kämpfen in der Lombardei schwer in
die Wagschale fielen. Gelang es dem Papst, diese Mittel
zu sperren und die Herrschaft Friedrichs in Deutschland
zu stürzen, so war das Hauptziel der kirchlichen Politik,
die Trennung von Sizilien und Deutschland erreicht. Fried-
rich wäre vom weitgebietenden Weltkaiser zum Herrscher
eines Mittelstaates herabgedrückt und der Kirche kein ge-
fährlicher und unüberwindlicher Gegner mehr gewesen.
Innozenz IV. hat die Bedeutung Deutschlands für den
Entscheidungskampf und die günstigen Aussichten für ein
erfolgreiches Eingreifen nördlich der Alpen von vornherein
durchschaut und seine ganze Kraft darauf konzentriert,
dem Kaiser Deutschland zu entreißen. i) Als der Papst sich
entschloß, die Hohenstaufen nördlich der Alpen anzugreifen,
standen die drei rheinischen Erzbischöfe bereits im Kampfe
mit der Reichsgewalt. Aber die Insurrektion ging kaum
über den Charakter einer lokalen Empörung hinaus. Erst
Innozenz war es, der sie durch zielbewußte Förderung und
durch Organisation der kaiserfeindlichen Kräfte zu einer
wirklichen großen Gefahr für das staufische Kaisertum
machte. Schon wenige Monate nach seiner Stuhlbesteigung
trat er mit den Häuptern der antistaufischen Partei in
Fühlung: Erzbischof Siegfried von Mainz erhielt bereits im
August des Jahres 1243 die Würde und Vollmachten eines
päpstlichen Legaten 2); am 19. Dezember und an den fol-
genden Tagen wurden dem Erzbischof von Köln eine An-
zahl Privilegien verliehen. 3) Die Vergünstigungen, die der
Papst in den ersten Monaten des folgenden Jahres den
rheinischen Erzbischöfen zuteil werden ließ, trugen bereits
deutlich eine antistaufische Tendenz. Am 22. Januar belegte
Innozenz .die Bischöfe von Augsburg und Worms und
mehrere Äbte, die im Bunde mit König Konrad in das
Gebiet des Mainzer Erzbischofs eingedrungen waren, mit
dem Bann.*) Am 5. Mai verlieh er den Erzbischöfen von
1) Bei weitem die meisten päpstlichen Anordnungen und Schreiben
in den Jahren 1245 und 1246 beziehen sich auf Deutschland.
2) Mon. Germ. Epistolae pontificum saec. XIII Bd. 2, n^ 9.
3) Kölner Regesten Bd. 3, n» 1107ff.
*) Mon. Germ. Epistolae pontificum saec. XIII Bd. 2, n® 49.
t
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. 239
Köln und Mainz das Recht, in ihren Kirchenprovinzen
eine hohe Steuer von allem kirchlichen Einkommen zu er-
heben.i) Q^g bedeutete eine erhebliche finanzielle Stärkung
der aufständischen Fürsten, die Friedrich mit Recht zu
hintertreiben suchte.^) Die Beziehungen zwischen der Kurie
und der deutschen Opposition waren also bereits angebahnt,
bevor der endgültige Bruch zwischen Kaiser und Papst er-
folgte. Als dann Innozenz aus Italien geflohen war, trat
er offen mit den Rebellen in Verbindung: er lud die Erz-
bischöfe von Köln und Mainz zu sich nach Lyon und faßte
dort mit ihnen im März oder April des Jahres 1245 die
für das Vorgehen in Deutschland entscheidenden Be-
schlüsse.^) Dürfen wir den Wormser Annalen trauen, so
wurde damals bereits, also vor der Absetzung des Kaisers
durch das Konzil, die Wahl eines Gegenkönigs in Deutsch-
land verabredet.^)
Nachdem das Urteil des Lyoner Konzils verkündet war,
setzte die päpstliche Agitation in Deutschland mit Macht
ein; sie begann jedoch erst sehr allmählich zu wirken.
Hatte Gregor IX. durch scharfe Maßregeln sein Ziel zu er-
reichen gesucht, so trat Innozenz umgekehrt vorsichtig
und diplomatisch auf und hatte damit weit größere Er-
folge. Nicht durch die Zugkraft der großen kirchlichen
Ideen, sondern durch kluge individuelle Behandlung brachte
der Papst einen Fürst nach dem andern zum Abfall. Er
rechnete mehr mit dem Egoismus als mit den edleren
Eigenschaften der Menschen.^) Seine Freunde und An-
hänger suchte er durch Privilegien enger an sich zu fesseln.
Schwankende und Gleichgültige durch lockende Verspre-
chungen und Vergünstigungen zu gewinnen. So bedachte
1) Mon. Germ. Ep. pont Bd. 2, n^ 65 u. 66. — Kölner Regesten
Bd. 3, n® 1139. — Chronica s. Petri Erph. moderna. Mon. Erphesfurt.
p. 238. — Menconis Wrumens, chronicon. Mon. Germ. SS. XXIII,
p. 537. Die Suffragane sträubten sich jedoch zu zahlen.
2) Huillard-Breholles Bd. 5, p. 1131.
^) Am Konzil selbst nahmen sie nicht teil: E. Fink, Siegfried III.
von Eppenstein, Erzbischof von Mainz. Rostock, Diss. 1892, S. 117ff.
*) Mon. Germ. SS. Bd. 17, p. 49.
^) C. Rodenberg, Innozenz IV. und Sizilien, 1892, S. 6. — Hauck,
Kirchengesch. Bd. 4*, S. 878.
10*
240 Manfred Stimming,
er in entgegenkommender Weise geistliche Schützlinge der
Fürsten mit Provisionen und gestattete ihnen die Häufung
von Pfründen. 1) Bei der Zulassung von unkanonischen
Ehen zeigte er sich weitherzig: in den Jahren 1244 bis 1245
erteilte der Papst in nicht weniger als 11 Fällen deutschen
Fürsten Ehedispense.^) Vor allem aber sparte er nicht mit
Geld, um seine Pläne zu fördern. Innozenz hatte richtig
erkannt, daß bei den deutschen Fürsten damals die Terri-
torialpolitik im Vordergrunde des Interesses stand. Heirat,
Kauf und Krieg, der ebenfalls Geld kostete, bildeten die
wichtigsten Mittel zur Erwerbung neuer Besitzungen. In-
dem der Papst der Heiratspolitik Hindernisse aus dem
Wege räumte und den finanziellen Bedürfnissen Rechnung
trug, leistete er den territorialen Bestrebungen der Fürsten
Vorschub und konnte hierbei am ehesten auf Gegendienste
rechnen.
Friedrich suchte den schädlichen Einflüssen des Papstes
in Deutschland nach Kräften entgegenzuwirken. Während
das Konzil in Lyon tagte, versammelte der Kaiser in Verona
König Konrad und die treu gebliebenen deutschen Fürsten
um sich, um die Richthnien für die Politik der Reichs-
regierung festzulegen. 3) Auch Friedrich sparte nicht mit
Zugeständnissen und Vergünstigungen, um seine Anhänger
fester an sich zu fesseln.*) Freilich hätte man erwarten
sollen, daß der Kaiser, als sich die Verhältnisse in Deutsch-
land immer drohender gestalteten, wie im Jahre 1235 über
die Alpen eilen würde, um durch das Gewicht seiner Per-
sönlichkeit die Lage wieder herzustellen. Vor der Wahl des
Gegenkönigs hätte sein persönliches Eingreifen wohl noch
von entscheidender Bedeutung sein können. Aber wir hören
nicht einmal von der Absicht des Kaisers, nach Deutsch-
land zu gehen, sei es, daß er die Gefahren des päpstlichen
Eingreifens unterschätzte, sei es, daß er sich nicht ohne
1) Mon. Germ. Ep. pont, Bd. 2 n» 149, 194, 195 u. n« 141, 143,
144 150 154 185 186.
2) ib. n«'55, 56, 67, 68, 71, 72, 73, 107, 118, 121, 132.
') Reg. Imp. V n» 3478 b.
*) So wurde in Verona dem Herzog von Österreich die Erhebung
seines Landes zum Königreich in Aussicht gestellt.
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. 241
Schaden für seine Stellung aus Italien entfernen zu dürfen
glaubte. 1) Erst im Jahre 1247 faßte der Kaiser den Ent-
schluß, nach Norden zu reisen, um, wie er dem Kapitaneus
des Königreiches Sizilien schrieb, den Aufstand, der durch
die Bosheit einiger Ungetreuer hervorgerufen sei, heilsam
zu unterdrücken. 2) Als er bereits bis Turin gekommen war,
zwang ihn der Abfall von Parma zur Umkehr. Die mili-
tärischen und politischen Mißerfolge hielten ihn weiter in
Italien fest.
Die ganze Schwere der deutschen Aufgaben lastete seit
dem Jahre 1245 auf den Schultern des jungen Königs Kon-
rad. Dieser war nicht imstande, den weiteren Rück-
gang der staufischen Sache in Deutschland aufzuhalten.
Der Papst und seine Anhänger zeigten sich in jeder Weise
überlegen. Besonders in West- und Mitteldeutschland fielen
ihnen immer größere Erfolge zu. Dagegen blieben die nord-
deutschen Fürsten, welche durch die Bekämpfung des stau-
fischen Kaisertums keinerlei Gewinn zu erwarten hatten,
die Herzöge von Sachsen und Braunschweig, die Mark-
grafen von Brandenburg und Meißen, der Erzbischof von
Magdeburg und andere, neutral und hielten den Verkehr
sowohl mit der Kurie wie mit dem Kaiserhofe aufrecht.^)
Ja es fehlte sogar nicht an einzelnen Stimmen unter den
deutschen Fürsten, welche die Absetzung des rechtmäßig
gewählten Königs durch den Papst offen mißbilligten und
darin einen Eingriff in die Reichsrechte sahen.*) Aber ihre
Zahl war doch nur gering im Verhältnis zu denen, welche
den Kampf zwischen Kaiser und Papst nur unter dem Ge-
; Sichtspunkte ihrer persönlichen Interessen betrachten und
ausnutzten.
1) Die Nachricht des Matthäus Parisiensis von der angeblichen
Reise des Kaisers nach Deutschland (Mon. Germ. SS. XXVIII, 219
u. 244) wird mit Recht allgemein als unglaubwürdig abgelehnt.
2) Iselinus, Petrus de Vinea I, p. 344, n** 49. — Winkelmann,
Acta imperii I, p. 362. — Regesta Imperii V, n^ 3608 u. 3634.
■) Rodenberg, Innozenz IV. und das Königreich Sizilien, S. 29.
*) Qua sententia (sc. concilii Lyonensis) per mundum volante qui-
dam principum cum multis aliis reclamabant dicentes: ad papam non
pertinere imperatorem eis vel instituere vel destituere, sed electum a prin-
cipibus coronare. — Annales Stadenses. Mon. Germ. SS. Bd. 16, p. 369.
242 Manfred Stimming,
Die päpstliche Partei in Deutschland stand auf schwa-
chen Füßen, solange sie nicht durch die Erhebung eines
Gegenkönigs einen festen Mittelpunkt erhielt. Einen solchen
zu bestellen, wandte Innozenz alsbald lebhafte Bemühungen
auf. Seine Blicke lenkten sich auf den thüringischen Land-
grafen, der einer der mächtigsten Fürsten in Deutschland
war, und der ihm wegen seiner kirchlichen Devotion und
seines Ehrgeizes die geeignete Persönlichkeit zu sein schien.
Noch ehe das Konzil zu Lyon sein Urteil gesprochen hatte,
verließ Heinrich Raspe die staufische Sache. i) Die drei
Privilegien, die ihm Innozenz am 12. und 13. April 1244
verlieh, lassen über seinen Parteiwechsel keinen Zweifel. 2)
Aus den drei genannten Urkunden geht mit Deutlichkeit
hervor, daß bei den Verhandlungen mit dem Papst
wiederum die Frage der Territorialpolitik im Vordergrund
stand. Die Machtstellung Heinrich Raspes beruhte zum
guten Teil auf den Grafschaften Hessen, Schönstedt und
Mittelhausen und anderen Besitzungen, die er von der
Mainzer Kirche zu Lehen trug. 3) Indem der Papst ihm
den ungestörten Besitz seiner Kirchenlehen versprach,
stellte er ihn gegen befürchtete oder vielleicht bereits er-
hobene Ansprüche des Erzbischofs von Mainz auf den
thüringischen Territorialbesitz sicher. Im August des Jahres
1245 begab sich der päpstliche Legat Philipp von Ferrara
an den Hof des Landgrafen, um das Nötige für die Königs-
wahl vorzubereiten.*) Es gingen freilich noch Monate ins
Land, bevor es dem Papst gelang, durch Befehle und Er-
mahnungen und nicht zum wenigsten auch durch reichliche
Geldgeschenke die Erhebung Heinrich Raspes durchzu-
setzen.5) Die Wahl zu Veitshöchheim fand unter den
1) Regesta Imperii V, n'' 4865 b.
2) Mon. Germ. Ep. pont. Bd. 2, n^ 55, 57, 58.
3) Stimming a. a. O. S. 119ff.
*) Kölner Regesten Bd. 3, n« 1210.
*) Daß der Papst der Urheber der Wahl war, berichten fast alle
Quellen: Annales sancti Justini Patavenses. Mon. Germ. SS. Bd. 19,
p. 159; Annales sancti Rutberti Salisburg. Mon. Germ. SS. Bd. 9,
p. 789; Matthaeus Parisiensis. ib. Bd. 28, p. 279; Gesta Trevirorum.
ib. Bd. 24, p. 411; Annales Erphord. fratrum praedicatorum. Mon.
Erphesfurt. p. 100.
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. 243
Augen des päpstlichen Legaten am 22. Mai 1246 statt; an
ihr nahmen neben einer Anzahl hessischer und thüringischer
Grafen nur einige geistliche Fürsten teil. Aber die kirch-
lichen Mittel arbeiteten weiter, um dem Gegenkönig neue
Anhänger zu gewinnen und ihm das Übergewicht über seinen
Gegner zu verschaffen. Innozenz unterstützte seinen Schütz-
ling mit bedeutenden Geldmitteln^), er ließ unter Verheißung
weitgehender Indulgenzien das Kreuz gegen den Kaiser pre-
digen und gewann ihm auf diese Weise zahlreiche bewaffnete
Helfer, 2) Der Legat Philipp von Ferrara wurde mit um-
fassender Vollmacht ausgestattet und erhielt die Weisung,
mit aller Macht für die Anerkennung Heinrich Raspes zu
wirken. 3) Außerdem wandte sich der Papst persönlich an
die angesehensten Reichsfürsten.*) Mit Exkommunikationen
war Innozenz sparsam, denn er wollte die Hohenstaufen
isolieren, aber nicht, wie es durch das schroffe Vorgehen.
Gregors IX. geschehen war, die Fürsten auf die Seite des
Gegners treiben. Nur eine Anzahl geistlicher Fürsten, die
trotz des ausdrücklichen päpstlichen Befehls auf dem Frank-
furter Reichstage nicht erschienen waren, verfielen dem
Banne und der Suspension durch den päpstlichen Legaten.^)
Innerhalb der Kirche hielt Innozenz IV. gleich seinem großen
Vorgänger Innozenz III. den päpstlichen Absolutismus im
vollen Umfange aufrecht und duldete keinen Widerspruch.
So wenig er gegen die weltlichen Machtbestrebungen der
Bischöfe einzuwenden hatte, so hielt er doch streng darauf,
daß diese sich als Beamte und Diener der Kirche fühlten,
die in kirchlichen Dingen ihrem Oberhaupte unbedingten
^) W. Wattenbach, Erfurter Urkunden. Neues Archiv Bd. 1
<1876), S. 197; Siegfried von Balnhausen. Mon. Germ. SS» Bd. 25,
p. 707. — Vgl. Regesta imperii V, n'>4865d und O. Lorenz, Deutsche
Geschichte im 13. u. 14. Jahrhundert Bd. 1 (1863), S. 43.
2) Mon. Germ. Ep. pont. Bd. 2, n« 199. — Annales sancti Rut-
berti Salisburgensis. Mon. Germ. SS. Bd. 9, p. 789. Vgl. A. Gottlob,
Die päpstlichen Kreuzzugssteuern im 13. Jahrhundert (1892), S. 76ff.
3) O. W. Ganz, Philipp Fontana im Dienste der Kurie. Heidel-
berger Diss. 1910 S. 13.
*) Mon, Germ. Ep. pont. Bd. 2, n» 167, 189, 204, 205—207.
^) Reg. Imp. V, n° 4869 a. Vgl. Hauck, Kirchengesch. Bd. 4*,
S. 867.
244 Manfred Stimming,
Gehorsam zu leisten hatten. Gegenüber den geistlichen
Fürsten standen dem Papste auch weit wirkungsvollere
Pressionsmittel zur Verfügung als bei deren weltlichen Stan-
desgenossen. Während die Stellung der erblichen Fürsten
durch die geistlichen Kampfmittel der Kurie kaum ernstlich
gefährdet werden konnte, waren die Bischöfe weniger gün-
stig daran. Der Exkommunikation und Suspension pflegte
bei hartnäckigem Ungehorsam die Provision eines Gegen-
bischofs zu folgen. Da einerseits die geistlichen Fürsten
nicht mehr wie früher einen starken Rückhalt in der Reichs-
regierung fanden, und andererseits in dem Domkapitel und
Diözesanklerus in der Regel eine starke Gegenpartei vor-
handen war, die nur auf die Gelegenheit wartete, das Ober-
wasser zu gewinnen, so erwuchsen den Bischöfen aus ihrem
Ungehorsam gegen die Kurie schwere Gefahren für ihre
Würde. Die Furcht für ihre Stellung trieb sie vornehmlich
auf die Seite der Kirche.
So kam es, daß der Abfall unter dem Klerus immer
weitere Dimensionen annahm. Von den fränkischen und
bayerischen Bischöfen, die bisher treu zum Reiche gehalten
hatten, verließ einer nach dem anderen die staufische Partei:
so der Bischof von Freising im August 1245^), im Oktober
der Bischof von Bamberg, der erst wenige Jahre zuvor
durch ein Machtgebot Friedrichs am kaiserlichen Hofe in
Italien gewählt war^), im November der kaiserliche Kanzler
Konrad von Regensburg, im Dezember der Bischof Lan-
dulf von Worms^); und viele andere folgten nach. Auch
unter den weltlichen Fürsten begannen sich die Reihen der
staufischen Parteigänger zu lichten. So fiel, um nur einige
der mächtigsten zu nennen, im Jahre 1246 der Herzog von
Meran von Friedrich ab*); und im folgenden Jahre ging
der Herzog Matthias von Lothringen, ein alter Anhänger
der Hohenstaufen, zu den Gegnern über.«) Die weltlichen
1) Huillard-Br^holles VI, p. 337.
2) O. Kreuzer, Heinrich von Bilversheim, Bischof von Bamberg.
Bamberger Programm 1906/1909 S. 58.
3) Mon. Germ. Ep. pont. Bd. 2, n^ 144.
*) F. Stein, Geschichte von Franken I (1885), S. 270.
*) Br. Gumlich, Beziehungen der Herzöge von Lothringen zum
Deutschen Reiche im 13. Jahrhundert. Halle, Diss. 1898, S. 36.
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. 245
I Territorien am Niederrhein, die so lange Zeit der feste Rück-
I halt der Reichsregierung gewesen waren, wurden zum Mittel-
j punkt der antistaufischen Bestrebungen: von dort ging der
I zweite Gegenkönig, Wilhelm von Holland, hervor. Selbst
! in Schwaben, der alten und festen Grundlage der staufi-
schen Macht, errang die kirchliche Partei bedeutende Er-
folge: eine erhebliche Anzahl weltlicher und geistlicher
Großer, wie die Äbte von Reichenau und Kempten, die
Grafen von Württemberg, Dillingen, Freiburg, Kiburg und
andere, ließen sich für den Gegenkönig gewinnen.^)
In den Jahren nach der Wahl Heinrich Raspes war
die Situation in Deutschland die, daß fast der gesamte
Episkopat, der früher stets die festeste Stütze des König-
tums gewesen war, im feindlichen Lager stand. Auch von
den weltlichen Fürsten hielt eine bedeutende Anzahl zur
kirchlichen Partei. Auf staufischer Seite verblieben nur
einige Laienfürsten und wenige Bischöfe im Süden und
Südosten des Reiches. Die Unterstützung, die König Kon-
rad von seinen fürstlichen Anhängern genoß, war jedoch
verhältnismäßig gering. Er war im wesentlichen auf die
Machtmittel des hohenstaufischen Hausgutes und die Reichs-
städte, welche nach dem Abfalle der Fürsten die natür-
lichen Verbündeten des Königs waren, angewiesen. Konrad
wäre wohl kaum imstande gewesen, der Übermacht seiner
Gegner zu widerstehen, wenn ihm diese geschlossen gegen-
übergetreten wären. Davon aber war nicht die Rede.
Heinrich Raspe blieb an Macht und Ansehen weit hinter
dem Hohenstaufen zurück. Ein guter Teil der Fürsten
stand überhaupt gleichgültig beiseite. Andere wie der Her-
zog von Lothringen ergriffen zwar die Partei der Kirche,
hielten sich aber trotzdem von jeder aktiven Anteilnahme
an den Kämpfen fern.^) Nichts wäre verkehrter als anzu-
nehmen, daß Deutschland damals in zwei feindliche Lager
gespalten gewesen sei, daß auf dieser Seite für die große
Idee des Kaisertums, auf jener für die der Kirche das
^) K. Weller, König Konrad IV. und Schwaben. Vierteljahrshefte
für württembergische Landesgeschichte NF. Bd. 6 (1897), S. 12Ü.
2) Gumlich, Beziehungen der Herzöge von Lothringen S. 36.
246 Manfred Stimming, 2*.
11
Schwert geführt worden wäre. Von höheren Zielen und i
dem Wirken großer Ideen ist bei der damaUgen Generation
der deutschen Territorialfürsten wenig zu verspüren. Wie
die Anhänger der kirchlichen Partei ihren Sonderinteressen
nachgingen und, wo diese im Widerstreite standen, sich
untereinander befehdeten, so trugen auch die staufischen
Parteigänger kein Bedenken, sich gegenseitig zu bekämpfen
und, wo es ihnen zweckmäßig erschien, mit einzelnen Mit-
gliedern der Gegenpartei zu paktieren. Die Fürsten hatten
kein Interesse daran, ihre Kräfte aufzuwenden, um den
einen der Gegenkönige zu vernichten und den anderen gar
zu mächtig werden zu lassen. Sie zogen aus dem Gleich-
gewicht der Kräfte den größten Vorteil. Unter diesen Um-
ständen gelang es weder dem Papst, die staufische Herr-
schaft in Deutschland völlig zu stürzen, noch auch ver-
mochte König Konrad, seiner Gegner Herr zu werden.
Aber der größere Gewinn erwuchs aus dieser Lage doch
der Kirche. Durch das bellum omnium contra omnes wurden
die Kräfte, welche dem Kaiser früher nach der Lombardei
zugeströmt waren, in Deutschland gebunden. Friedrich
hatte in den letzten Jahren seiner Regierung schwer zu
ringen, um sich in Norditalien zu behaupten.
So endete die Politik, die Friedrich II. seit seinem
ersten Erscheinen in Deutschland in beharrlicher Konse-
quenz gegenüber den Fürsten verfolgt hatte, mit einem
vollkommenen Mißerfolg. Man möchte jedoch bezweifeln,
daß Friedrich die Ordnung der deutschen Verhältnisse, wie
er sie vorgenommen hatte, als eine endgültige- betrachtet
habe; man darf vielmehr annehmen, daß es ihm nur darauf
angekommen sei, zunächst einen einigermaßen haltbaren
Zustand zu schaffen, um die Hände für andere wichtigere
Aufgaben frei zu bekommen. Italien stand stets im Vorder-
grund seiner Interessen. Zwischen den ersten und zweiten
Aufenthalt des Kaisers in Deutschland fällt die Reorgani-
sation des sizilianischen Königreiches. Die Worte und Maß-
regeln des Kaisers lassen keinen Zweifel darüber bestehen,
daß es seine Absicht war, das sizilianische Verwaltungs-
system auf ganz Italien auszudehnen. Soweit seine Macht
reichte, hatte Friedrich in den Jahren 1236 bis 1241 ein ab-
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. 247
solutistisches Beamtenregiment aufgerichtet. i) Nach den
Erfolgen in der Lombardei fing er damit an, die Verhält-
nisse Norditaliens nach sizilianischem Vorbilde zu ordnen.
Er begann mit der Einsetzung von Kapitänen in den Städten.
Seit 1237 folgte die planmäßige Einrichtung von General-
vikariaten in ganz Italien. 1239 war das ganze Land in
eine größere Anzahl von umfassenden Amtsbezirken einge-
teilt, in denen Generalkapitäne ihres Amtes walteten. 2)
Das östliche Oberitalien bildete ein Generalvikariat,
für welches die Trevisaner Mark die Grundlage hergab.
Hierzu gehörte auch das Bistum Trient, das zum Deut-
schen Reich gerechnet wurde. So war bereits im Jahre 1239
ein Stück von Deutschland in den Kreis der italieni-
schen Neugestaltungen mit hineingezogen. 3) Man darf wohl
daraus schließen, daß Friedrich nicht gesonnen war. mit
seinen Neuerungen an der Grenze des Deutschen Reiches
Halt zu machen. Er ging mit seinem Reformwerk offenbar
systematisch, von Süden nach Norden fortschreitend, vor,
um nacheinander alle Länder des Imperiums fest in die
Hand zu bekommen. Hätte der Kaiser den Widerstand der
lombardischen Städte gebrochen und damit sein Ziel in
Norditalien erreicht, so wäre die Bahn für die Neuordnung
der deutschen Verhältnisse frei gewesen.
Freilich besitzen wir nicht die geringsten Nachrichten
darüber, ob der Kaiser bestimmte Pläne für Deutschland
gehabt hat, und welcher Art sie gewesen sein könnten.
Nach den Worten, die Friedrich im Jahre 1236 an den Bi-
schof von Como richtete, zu urteilen, scheint es sogar, als
habe er die Grundlagen seiner Herrschaft für ausreichend
und seine Stellung für hinlänglich gesichert gehalten.*)
Selbst wenn man annimmt, daß dieses damals seine An-
sicht war, so müssen ihn doch später die Ereignisse in
Deutschland eines besseren belehrt haben. Es ist kaum zu
^) K. Hampe, Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der Salier
und Stauten, 3. Aufl. (1916), S. 259.
^) J. Ficker, Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Ita-
liens II (1869), S. 496 ff.
») ib. II p. 507f.
*) Vgl. p. 12, Note 1.
248 Manfred Stimming,
glauben, daß die bitteren Erfahrungen, die der Kaiser in
den letzten Jahren seiner Regierung machen mußte, spur-
los an ihm vorübergegangen seien, daß Friedrich nicht nach
neuen Mitteln und Wegen gesucht habe, um seine Herr-
schaft in Deutschland auf festere Füße zu stellen. In der
Tat griff der Kaiser noch in den letzten Jahren seiner Re-
gierung zu Maßregeln, wie sie zuvor weder von ihm noch
von einem seiner Vorgänger angewandt worden waren.
Hampe macht darauf aufmerksam, daß Friedrich nach dem
Tode des letzten Babenbergers die erledigten Herzogtümer
Österreich und Steiermark nicht wieder als Lehen ausgab.
Er griff damit auf einen Versuch zurück,den er schon einmal
nach der Ächtung Herzog Friedrichs im Jahre 1236 gemacht,
aber aus politischen Gründen wieder aufgegeben hatte.
Diesmal schlug der Kaiser einen neuen Weg ein: er ließ
die heimgefallenen Länder nach sizilianischem Vorbilde durch
Generalkapitäne verwalten. i)
Es ist kaum anzunehmen, daß es der Plan Kaiser
Friedrichs gewesen sei, das System der Beamtenverwaltung
allmählich auf ganz Deutschland auszudehnen. Ein solches
Beginnen wäre bei den damaligen politischen Verhältnissen
ohne jede Aussicht auf Erfolg gewesen. Offenbar war es
die Absicht des Kaisers, an der Ostgrenze des Reiches ein
großes der Krone unmittelbar unterworfenes Gebiet zu
schaffen. Er knüpfte damit an die Politik seines Großvaters
Friedrich Barbarossa an, der mit dem Herzogtum Schwaben
etwas Ähnliches im Auge gehabt hatte 2), und war zugleich
ein Vorläufer der Hausmachtspolitik der spätmittelalterlichen
Könige. Daß Friedrich H. gerade Österreich und Steiermark
als Königsland ausersah, macht seinem politischen Scharf-
blicke Ehre. Die Herzogtümer lagen dem nord-ostitalieni-
schen Herrschaftsgebiet des Kaisers am nächsten und bil-
deten zusammen mit den Herzogtümern Bayern und Kärn-
ten, den Bistümern Trient, Brixen und anderen Territorien,
deren Inhaber dem Kaiser bis zum Tode treu blieben, ein
bedeutendes, fest zusammenhängendes staufisches Macht-
^) Hampe a. a. O. p. 272.
*) Stimming a. a. 0. p. 84.
Kaiser Friedrich II. und der Abfall der deutschen Fürsten. 249
gebiet. Von allen deutschen Territorien waren die süd-öst-
lichen, aus alten Markgrafschaften erwachsenen Herzogtümer
die geschlossensten ; die Landeshoheit war in ihnen am wei-
testen fortgeschritten. Hier schufen im späteren Mittelalter
die Habsburger ihre Hausmacht, welche sie in den Stand
setzte, die politische Leitung des zerrissenen und ausein-
anderstrebenden Reiches zu übernehmen. Zur Überwindung
des fürstlichen Partikularismus war es damals freilich zu
spät. Im 13. Jahrhundert hätte der Verfall des Reiches
vielleicht noch aufgehalten werden können, wenn nämlich
die von Friedrich vorgezeichnete Politik konsequent weiter
verfolgt worden wäre. Die südostdeutschen Herzogtümer
hätten, ähnlich wie das Herzogtum Francien in dem be-
nachbarten Frankreich, der Grundstock und der Ausgangs-
punkt für die Schaffung eines größeren und geschlossenen
Königslandes und dieses anstelle der verlorenen Herrschaft
über die Reichskirche zu einer neuen starken Stütze und
Machtgrundlage des Königtums werden können. Verschie-
dene ungünstige Faktoren wirkten zusammen, um dies zu
verhindern. Friedrich selbst war nicht mehr imstande, die
Geschicke Deutschlands in neue Bahnen hinüberzuleiten. Er
blieb bis zu seinem Tode in Italien gefesselt und mußte
den Dingen nördlich der Alpen ihren Lauf lassen. Nach
dem Sturze des staufischen Hauses aber, in der Zeit des
Interregnums, gehörte das Feld vollends dem deutschen
Territorialfürstentum. Jener Geist des dynastischen Parti-
kularismus, der vornehmlich in der ersten Hälfte des 13.
Jahrhunderts groß geworden war, behauptete dauernd seine
Herrschaft über Deutschlands Fürsten und führte das Reich
unaufhaltsam dem weiteren Verfalle entgegen.
Renaissance als Stilbegriff.
Dem Andenken Jakob Burckhardts
von
Werner Weisbach.
Der 100. Geburtstag Jakob Burckhardts i) hat von neuem
die Aufmerksamkeit auf ein Problem gerichtet, das mit
seinem Namen aufs engste verknüpft ist: das Problem der
Renaissance. In zweien seiner Hauptwerke, dem „Cicerone"
und der „Kultur der Renaissance in Italien", hat er die
italienische Renaissance als Stilepoche und als Kultur-
epoche zu schildern unternommen und damit einen nach-
haltigen Einfluß auf die historische Begriffsbildung aus-
geübt. Im Rückblick auf die Zeit der Konzeption dieser
Werke schrieb Burckhardt in einem Brief an seinen Freund
und Gesinnungsgenossen, den Architekturforscher Hein-
rich V. Geymüller (29. 1. 1881): „Ich muß recht bei mir
selber lachen, wenn ich bedenke, durch welche Reihe von
Zufällen ich zur Abfassung des Cicerone kam, und welche
eigentümliche Konstellation zugunsten der Renaissance da-
mals, 1853 — 1855, am Himmel muß gewaltet haben."
Das 19. Jahrhundert, das nicht zu Unrecht das histo-
rische genannt wird, hat den gesamten geschichtlichen
Stoff nach einer systematischen Erschließung und Erfor-
schung der Quellen durch eine neue Periodisierung zu glie-
dern gesucht. Nachdem durch die Romantik das vorher
*) Das Manuskript wurde der Redaktion Juni 1918 eingereicht.
Renaissance als Stilbegriff. 251
wenig beachtete und mißachtete Mittelalter an das Licht
geführt und in die geschichtliche Betrachtung einbezogen
worden war, ließ man diesem eine Epoche folgen, die als
die Renaissance bezeichnet wurde. Jede solche Periodi-
sierung hat ihre Bedeutung und ihre Anerkenntnis nur in
bezug auf den Standpunkt, den die Gegenwart einnimmt,
und als Ausdruck für die Vorstellung, die diese sich von der
Vergangenheit macht. Sie ist abhängig von den Wertungen,,
die ein betrachtendes Subjekt anstellt. Als geistiges Produkt
hat sie nur in einer idealen Sphäre Geltung. Es hieße einem
falschen Begriffsrealismus verfallen, wollte man sie als
etwas ein- für allemal Feststehendes und wie eine objektive
Gegebenheit Unberührbares nehmen. In dem Bilde, das
sich eine Zeit oder ein Individuum von der Vergangenheit
entwirft, kommt zugleich ein Gegenwartsgefühl, eine be«
stimmte geistige Disposition zum Ausdruck.
Die neue Methode, die das 19. Jahrhundert bei der
Ordnung und Gliederung des historischen Stoffes anwandte,
ist die entwicklungsgeschichtliche. Dabei sind für die ver-
schiedenen Gebiete, die der Erkenntnis geöffnet werden,
sollen, Politik, Kultur, Wirtschaft, Kunst usw., immanente,
in dem Wesen der einzelnen Materien liegende und aus
ihm abzuleitende Entwicklungsfaktoren in Anschlag zu
bringen. Der reflektierende und konstruierende Geist scheidet
und wertet, um Entwicklungsprinzipien herauszustellen,
die gleichsam als Leitmotiv bei der Durchführung der Perio-
disierung dienen. Je nach der Wahl der angewandten Prin-
zipien und dem ihnen zuerkannten Bedeutungswert gestaltet
sich die historische Einteilung. Die Kriterien, ob eine Grup-
pierung standhält, schöpft der nachprüfende Geist daraus,
ob das was als die treibende Kraft der Entwicklung und
als Zielstrebigkeit angesehen wird, sich durch die geschicht-
lichen Bedingungen und Gegebenheiten als gerechtfertigt
erweist. Immer wieder werden Korrekturen an den Periodi-
sierungen im großen und kleinen vorgenommen, je nach-
dem das Material durch neues Quellenstudium erweitert
und vertieft und neue Gesichtspunkte für die Art der Ein-
teilung gewonnen werden. So ist augenblicklich die Frage
252 Werner Weisbach,
im Fluß, an welchem Zeitpunkt man den Anfang der Neu-
zeit ansetzen soll, ob mit dem Beginn der Reformation
oder erst am Ende der Religionskriege. Auch dem Renais-
sancebegriff wurden — zum Teil im Zusammenhang damit,
— nachdem er in die historische Periodisierung eingeführt
worden war, verschiedene Bestimmungen und Auslegungen
zuteil, die, namentlich wenn man bedenkt, daß das historische
Bewußtsein für die Epoche noch nicht sehr weit zurückreicht,
recht beträchtlich voneinander abweichen.
Es war bekanntlich in der Mitte des vorigen Jahrhunderts,
■daß aus dem geschichtlichen Verlauf zwischen Mittelalter
und Neuzeit eine Epoche herausgeschält und unter der Be-
zeichnung Renaissance zusammengefaßt wurde. Michelet
gab dem im Jahre 1855 erschienenen 9. Bande seiner ,,Histoire
de France'\ der das 16. Jahrhundert behandelt, den Titel:
La Renaissance, Die entscheidende Wirkung für die Fixie-
rung und Charakterisierung der Epoche ging aber von Jakob
Burckhardts „Kultur der Renaissance" (1860) aus. Das Wort
^yrenaissance'' war in Frankreich längst in Gebrauch und
kam in verschiedenen Verbindungen vor: Renaissance des
arts oder renaissance des lettres. So begann, an die fran-
zösische Tradition anknüpfend, Michelet die Einleitung eines
9. Bandes: „Uaimable mot de Renaissance ne rappeile aux
ümis du beau que Uavdnement d'un art nouveau et le libre essor
de la fantaisie. Pour rerudit, c'est la renovation des etudes de
Vantiquite; pour les legistes, le jour qui commence ä luire sur
le discordant chaos de nos vieilles coutumes/' Diesen ein-
zelnen Anwendungen des Wortes gegenüber will Michelet
den Begriff Renaissance zu einer großen, Frankreich sowohl
wie Italien umfassenden geschichtlichen Epoche ausweiten.
Als wesentliches neues Entwicklungsmoment dieser Epoche
bezeichnet er: y,La decouverte du monde, la decouverte de
r komme/' Dieses Charakteristikum wird von Burckhardt
wörtlich übernommen; er überschreibt den vierten Ab-
schnitt seines Werkes: „Die Entdeckung der Welt und des
Menschen." Und in den Vorbemerkungen zu dem dritten
Abschnitt, in dem er „die Wiederentdeckung des Altertums"
behandelt, läßt er sich nachdrücklich dahin aus, daß nicht
in ihr allein das Prinzip für die gestaltende Entwicklung
i
Renaissance als Stilbegriff. 253
der Epoche zu suchen sei; sondern daß „ihr enges Bündnis
mit dem neben ihr vorhandenen italienischen Volksgeist
die abendländische Welt bezwungen hat**. Burckhardts
Tat war es, daß er die Kultur, die er unter dem Namen
Renaissance begriff, in ihren italienischen Ursprüngen unter-
suchte, daß er Eigenschaften, die sich aus den geschichtlichen
Bedingungen Italiens heraus entwickelten, als Träger dieser
Kultur nachwies. Ihre Keime verfolgte er zum Teil bis
weit ins Mittelalter zurück, z. B. für die Ausbildung des
neuen Staatsbegriffs bis auf den Hohenstaufenkaiser Fried-
rich 1 1. Im allgemeinen umfaßt die von ihm charakterisierte
Epoche die Zeit von Dante bis Michelangelo.
Der Umfang der für die Kultur der Renaissance ange-
setzten Periode deckt sich nun aber nicht mit dem Zeitraum,
den der Kunsthistoriker Burckhardt in seinem „Cicerone"
der Kunst der Renaissance zugewiesen hat. Hier ist die
in den ersten Teil jener Kulturepoche fallende Kunst in die
gotische Stilperiode einbezogen, während er die Renaissance
in der Kunst mit dem Quattrocento beginnen läßt.
Burckhardt hat, wie das bei einer Entdeckung zu ge-
schehen pflegt, in seiner Schilderung das Neue, Moderne,
das er an der von ihm bearbeiteten Epoche gefunden zu
haben glaubte, besonders ausgemalt und dem Mittelalter
gegenüber in ein helles Licht gerückt. Das Aufleben der
Antike war, wenn auch nicht als einziges Moment, so doch
als wesentlicher die Entwicklung lenkender Faktor für die
Charakterisierung der Epoche von ihm hingestellt worden.
Gleichzeitig ging man auch von anderer Seite daran, sich
über den besonderen Einfluß der Antike auf das Geistesleben
dieser Zeit Rechenschaft zu geben. Das geschah z. B. in
grundlegender Weise durch das bekannte, ein Jahr vor der
„Kultur der Renaissance" erschienene Buch von Georg
Voigt: „Die Wiederbelebung des klassischen Altertums und
das 1. Jahrhundert des Humanismus" (1859), dessen Titel
noch eine deutsche Umschreibung des Wortes Renaissance
gibt, wie es bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts üblich
war; — der Begriff der Wiederbelebung hier auf eine ganz
bestimmte Erscheinung bezogen: die Antike. Es wurde denn
auch vielfach Renaissance einfach als Wiedergeburt der
Historische Zeitschrift (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd. 17
254 Wemer Weisbach,
Antike verstanden, indem man den in dem Wort liegenden
Begriff der Auferstehung nur mit dem Altertum in Verbin-
dung brachte.
Der neue Renaissancebegriff wurde zunächst mit Be-
geisterung aufgenommen, befruchtete Wissenschaft und
Literatur, ging in vielfältige Handbücher über und wurde
durch mannigfache Bearbeitungen und Verwässerungen dem
Allgemeinbewußtsein zugeführt. Nach geraumer Zeit be-
gann man jedoch an seinen Grundfesten zu rütteln und unter-
zog ihn von verschiedenen Seiten einer Revision. Die Kritik
richtete sich hauptsächlich gegen folgende Punkte: gegen
die Überschätzung einer Beeinflussung durch die Antike,
gegen die Unterschätzung der in der geschilderten Epoche
sich noch auswirkenden mittelalterlichen Elemente, gegen
die Annahme, daß Italien der Ursprung und wesentlichste
Träger der Entwicklung der sogenannten Renaissance sei.
In seinem Buche: ,, Franz von Assisi und die Anfänge
der Renaissance'' läßt Thode die neue Kultur von einer gei-
stigen Bewegung ausgehen, die ihren Ursprung in der Glau-
bensinbrunst und dem mystischen Naturgefühl des hl.
Franziskus habe. Er betrachtet den Zeitraum vom 12. bis
zum 16. Jahrhundert, von Franz bis Michelangelo, als eine
einheitliche Periode, . indem er die mystische Phantasie
des Mittelalters als das maßgebende Entwicklungsmoment
für die Renaissance ansetzt, während Humanismus und
Aufnahme der Antike keine so wesentliche Umwälzung
hervorgerufen hätten. Auch die Kunstepoche, die den
Namen Renaissance zu tragen habe, müsse man mit der
Verherrlichung des hl. Franz durch die bildenden Künste
beginnen lassen. Diese Ideen werden von Thode weiterhin
in der Einleitung zum zweiten Band seines Michelangelo,
die die Überschrift: „Die Renaissance*' führt, vertreten
(1903). Auch Karl Neumann ist in seinem auf dem deutschen
Historikertag gehaltenen Vortrag: „Byzantinische Kultur
und Renaissance-Kultur" (Stuttgart 1903) von der Theorie
des Einflusses der Antike abgerückt und beruft sich dagegen
auf „die mittelalterliche christliche Erziehung und das so-
genannte Barbarentum als die Lebenskräfte der herkömm-
lich so bezeichneten Renaissance." Daneben will er den neuen
Renaissance als Stilbegriff. 255
Realismus, der ebenso im Norden wie im Süden der Alpen
und unabhängig von der Antike aufgekommen sei, als aus-
schlaggebende Potenz gewertet wissen. Thode, Neumann
und ihre Gefolgschaft lassen also den Beginn der Kultur
und der Kunst der Renaissance zusammenfallen und er-
klären aus mittelalterlich-geistigen und christlichen Strö-
mungen heraus die Wendung zu einer neuen Gedanken-
und Formenwelt.
So wurde der Renaissancebegriff bald nach seiner Ein-
führung in die geschichtliche Periodisierung höchst labil.
Historiker und Kunsthistoriker gaben ihm je nach der Stel-
lung, die sie zu den wesentlichen Problemen einnahmen,
einen verschiedenen Sinn und Umfang. Innerhalb der all-
gemeinen Unsicherheit machte sich Adolph Philippi in seinem
Buche: „Der Begriff der Renaissance** (Leipzig 1912) an
die Aufgabe, eine Übersicht über die abweichenden Auf-
fassungen und über die Entwicklung des Begriffs zu bieten.
Bei der Nachprüfung der durch Burckhardt und seine
Anhänger vertretenen Thesen kam man zweifellos zu wert-
vollen Beobachtungen, die das Bild der Renaissance in ge-
wissen Zügen veränderten und bereicherten. Vor allem
wurde darüber Klarheit verbreitet, daß gewisse durchaus
mittelalterliche Erscheinungen als modern für das Kultur-
zeitalter der Renaissance in Anspruch genommen worden
waren. Die Korrekturen schössen aber in den meisten Fällen
weit über das Ziel. Gewiß war stellenweise der Anschluß
an die Antike in der fraglichen Epoche zu einseitig heraus-
geholt worden und demgegenüber wurde dann die Mitwir-
kung mittelalterlicher Elemente und ihr Aufgehen in der
neuen Kultur richtiggestellt. Man übersah anfangs über
heidnischen Neigungen, die sich an dem Kultus des Altertums
nährten, die Äußerungen katholischer und mystischer Fröm-
migkeit, die, wenn auch nicht so stark hervortretend, für
die Struktur des geistigen Gesamtlebens doch höchst be-
achtenswert sind. Man wurde sich klar über die Durchsetzung
der neuen Kultur mit ritterlich-höfischen und burgundisch-
französischen Motiven, mit verschiedenen auf das Mittel-
alter zurückgehenden schwärmerischen und erotischen Stim-
mungsmomenten. Durch gewisse romantische Züge war das
17*
256 Werner Weisbach,
Bild der Renaissance zu ergänzen, i) Zieht man aber auch
das alles in Betracht, so wird man zu dem Schluß geführt,
daß die Epoche, die unter den alle diese Symptome umfassen-
den Kulturbegriff fällt, ihre zeugenden Säfte aus Italien
entnimmt und mit dem 14. Jahrhundert anhebt.
Mögen auch gewisse Entwicklungsmomente im Norden
und im Süden die gleichen sein, die eigentümliche Durch-
dringung des italienischen Geistes mit dem antiken Bil-
dungsstoff, so daß daraus etwas Neues und Modernes er-
wächst, die daraus entwickelte Humanitas als Grundlage
eines neuen Lebensgefühls und Bewußtsein einer neuen
Lebensbestimmung, das gibt dem geistigen Phänomen,
das uns als Renaissance entgegentritt und das sich rasch
über die ganze zivilisierte Welt ausdehnte, doch erst seine
besondere Prägung. Abgesehen davon, daß sich aus unzäh-
ligen Beispielen erweisen läßt, daß die Zeit selbst, in der die
Kultur blühte, das, was als eigentlich modern empfunden
wurde, dort sah, wo ein mehr oder weniger deutliches Mit-
schwingen antiker Anklänge herausgefühlt wurde, können
auch wir Rückschauende nicht umhin, die Rezeption des
Altertums als einen wesentlichen Entwicklungsfaktor an-
zuerkennen. Wenn man dem entgegenhält, daß während
des ganzen Mittelalters die Antike nicht aus dem Gesichts-
kreis der europäischen Welt getreten ist, so ist der Nach-
druck vielmehr darauf zu legen, daß im Mittelalter sich die
antiken Erinnerungen mehr unter der Oberfläche fort-
spinnen, dem spezifisch mittelalterlichen Empfinden völlig
angeglichen und unterworfen werden und nur wenig in
das Bewußtsein einer größeren Allgemeinheit treten. Seit
dem Erscheinen des Humanismus aber wird die Antike
ein konstruktives Element für den Aufbau einer geistigen
und formalen Anschauung, mit dem in ganz zielbewußter
Weise operiert wird. Sie wird ein allgemeines Ideal, Gegen-
stand einer phantastischen Sehnsucht und Quelle für eine
^) Vgl. Weisbach, Francesco Pesellino und die Romantik der
Renaissance, Berlin 1901. — Petrarca und die bildende Kunst, Re-
pertor. für Kunstwiss. XXVI, 1903, S. 265. — Botticellis „Primavera"
und die antikisierende Romantik, Jahrb. d. Kgl. Preuß. KunstsammL
XXIX, 1908, S. 5ff.
Renaissance als Stilbegriff. 257
vernunftgemäße Erkenntnis. Man bildet an ihr Maßstäbe
für Denken, Dichten, Bilden und Leben. Dazu kommt, daß
für den italienischen Humanismus die Erweckung des Alter-
tums zugleich eine Anknüpfung an eine eigene große Ver-
gangenheit bedeutete, deren Höhepunkt in dem alten Rom
lag. Das Zurückgreifen auf die Antike und das Selbstgefühl
des nationalen Geistes stand in Wechselwirkung. Der Ein-
schnitt liegt zwischen Dante und Petrarca. Neigt sich Dantes
Weltanschauung und Ausdrucksweise noch nach der mittel-
alterlichen, christlich-symbolischen, scholastischen und my-
stischen Seite, so daß die antiken Bestandteile nur als In-
gredienz erscheinen, so tritt in Petrarca — bei allem Mittel-
alterlich-Romantischen und Troubadourmäßigen in einem
Teil seines Dichtens und Empfindens — schon deutlich das
neue Ideal heraus, das ihm aus seiner Vorstellung von der
Antike aufsteigt und dessen Verwirklichung er das größte
Maß seiner Kraft widmet. Der Grundstein der Renaissance
scheint gelegt, wenn er in seinem Brief an Colonna das Alter-
tum als das Reich seiner Sehnsucht zeichnet und dem eige-
nen elenden Jahrhundert entgegenhält, wenn er bekennt:
„daß ich mir selber schreibe und beim Schreiben begierig
mit unseren Ahnen verkehre auf die einzig mögliche Art,
und die, mit denen mich ein übles Gestirn zu leben zwingt,
mehr als gern vergesse. Und darin brauche ich alle meine
Kräfte, daß ich die fliehe, jenen nachfolge. Denn wie der
Anblick dieser mich schwer bedrückt, so erheben mich jener
Andenken, großherzige Taten und hehre Namen unglaublich
und ohnmaßen angenehm. Wenn alle dieses Gefühl kannten,
würde es viele zum Staunen zwingen, was das ist, das mich
so viel lieber mit Toten als mit Lebenden unterhalten läßt.
Denen könnte zur Antwort dienen, daß jene leben, die wacker
und ruhmreich ihre Tage beschlossen haben. i)
Man muß sich denken, daß das, was von der Epoche,
die wir Renaissance nennen, als das ihr Zeitgemäße und der
Vergangenheit gegenüber Moderne empfunden wurde, ein
für uns nicht weiter definierbares Etwas war, das gleichsam
W ^) Vgl. Borinski, Die Antike in Poetik und Kunsttheorie, Leip.
zig 1914, S. 104.
258 Werner Weisbach,
in und über den Dingen schwebte und alle geistigen Äuße-
rungen infiltrierte. Wer die 90 er Jahre des vorigen Jahr-
hunderts jung durchlebt hat, mag sich zurückrufen, wie man
auf die damalige „moderne" Literatur und Kunst sozusagen
instinktmäßig reagierte, ohne sich in jedem Fall gleich über
das Besondere und Neuartige begrifflich klar werden zu
können. Und wenn Lorenzo de'Medici seine antikischen
Trionfi durch die Straßen von Florenz führte, in denen er
sein und seiner Zeit Ideal bildlich-anschaulich verwirklichte,
so sog das ganze dem Schaugepränge zueilende und zujubelnde
Volk etwas von dem ihm entströmenden Hauche ein.^)
In dem als Renaissance zu bezeichnenden kulturellen
Komplex muß also das humanistische Element — wie man
es nun einmal nennen mag — als das eigentlich fundamentale
und formierende angesprochen werden. Alle bisherigen
Versuche, etwas anderes an seine Stelle zu setzen, dürfen
doch wohl als mißglückt bezeichnet werden. Mit seinem an-
tiken Einschlag hat sich das national-italienische Phänomen
zu seiner welthistorischen Aufgabe ausgewachsen und fand
überall offene Türen, da es einem Zeitbedürfnis entgegen-
kam. Der Humanismus hat Waffen geschmiedet sowohl
für die Reformation wie für die Gegenreformation. Die
Renaissance, eine ursprünglich italienische Schöpfung,
wurde ein internationales Bindeglied für alle nationalen
Kulturen. Durch den Humanismus des 14. und 15. Jahr-
hunderts wurden die Sinne gebildet und empfänglich ge-
macht für das was als ein moderner Zeitgeist allenthalben
seine Flügel regte. In seinem anmaßenden Selbstgefühl
hat dieser Humanismus dann auch die Theorie aufgestellt,
nach der die Periode zwischen dem Fall des antiken Rom und
seinem eigenen Aufkommen als eine „barbarische*' und
„gotische** der Geringschätzung preisgegeben wurde.
Man hat nun aber kürzlich gemeint^): der humanistische
Geist habe nur in einer aristokratischen Minorität Fuß ge-
faßt und könne deshalb nicht zu einem allgemeinen kultur-
1) Ausführlicheres darüber in meinem Buche: Trionfi. Berlin,
Grote. 1919.
2) Carl Neumann, Gedanken über Jakob Burckhardt, Deutsche
Rundschau, Mai 1918, S. 241 ff.
Renaissance^ als Stilbegriff. 259
bildenden Faktor erhoben werden. Schon der Ausdruck
„aristokratische Minorität" ist hier irreführend. Die Hu-
manisten setzten sich aus den verschiedensten Kreisen bis
zu den niederen Volksschichten zusammen und wirkten
nach unten wie nach oben. (Eine Folge des Humanismus
war ja auch, daß im 16. Jahrhundert bürgerliche Laien in
allen Ländern an den Höfen als Beamte eintraten.) Wenn
sie sich selbst, nachdem sie es zu etwas gebracht hatten,
in eine geistige Aristokratie einordneten, so besagt das doch
nichts gegen die allseitigen Einflüsse, die von ihnen ausgingen.
Der Humanismus beherrschte nicht nur die Fürstensitze
und eroberte sich die Kirche — das geistige Fluidum, das durch
ihn erzeugt wurde, sickerte überallhin durch; es berührte
die Künstler und die Handwerker, die für alle Kreise ar-
beiteten.
y^k Man hat sich in letzter Zeit nun aber auch die Frage
'^^orgelegt, wie sich die in dem Begriff Renaissance liegende
Wortbedeutung zu der ihm zugeschriebenen Sachbedeutung
verhält, ferner in welcher Beziehung der so bezeichnete
Kulturbegriff zu dem Kunst- oder Stilbegriff steht — dem
letzteren Problem gilt ja unsere besondere Aufmerksamkeit.
Da die beiden Punkte in engem Zusammenhang miteinander
stehen, so wollen wir zunächst kurz die Wort- und Begriffs-
geschichte bis in ihre Ursprünge zurückverfolgen, indem wir
hon Bekanntes durch neue Belege ergänzen.
Das heute allgemein gebrauchte französische Wort
Renaissance ist eine Übersetzung des italienischen rinascita,
das Vasari in seiner pragmatischen Konstruktion einer Ge-
schichte der bildenden Kunst auf diese anwandte. Infolge
der hohen Geltung und weiten Verbreitung von Vasaris
Viten hat der Begriff rinascita in der ihm hier zugewiesenen
Bedeutung auf lange hinaus allenthalben die Anschauung
bestimmt. Das religiöse Bild der Wiedergeburt, dessen Be-
deutungswandel Burdach 1) von dem Mittelalter her nach-
gegangen ist, wurde von Vasari auf eine künstlerische Er-
scheinung seines Vaterlandes übertragen. Im letzten Ab-
^) Sinn und Ursprung der Worte Renaissance und Reformation.
Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften 1910,
XXX iL
260 Werner Weisbach,
schnitt der Einleitung zu seinen Künstlerbiographien ent-
schuldigt er sich, daß er sich vielleicht zu lange bei den
Anfängen (bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts) aufgehalten
habe. Es sei geschehen, um zu zeigen, wie die Kunst von der
hohen Stufe, die sie zur Zeit der Antike einnahm, in tiefen
Verfäll geraten sei. Wie der menschliche Körper so habe
Kunst ihre Geburt, ihr Wachsen, Altern und Tod. Er habe
es getan, damit die Künstler „potranno ora piü facilmente
conoscere il progresso della sua rinascita, e di quella stessa
perfezione dove ella i risalita ne' tempi nostrV\ Und dann geht
er zu Cimabue und den Meistern der zweiten Hälfte des
13. Jahrhunderts über. Gemeint ist hier, wie sich aus dem
Zusammenhang ergibt, der nationale Aufschwung der italie-
nischen Kunst, nachdem sie das byzantinische Joch, die
maniera greca, abgeschüttelt. In der nationalen Erhebung,
die Italien von dem, was als fremd und gegensätzlich empfun-
den wird, befreit, sieht Vasari einen neuen Anfang.
Rinascita ist nun aber bei ihm nicht ein Begriff, durch
den eine bestimmte Erscheinung in eindeutiger Weise um-
schrieben wird. Er hat schon die ihm als die national italie-
nisch geltende Kunst von Cimabue und Giotto bis auf seine
Tage in verschiedene Abteilungen zerlegt. Indem er sein
großes biographisches Werk in drei Abschnitte teilt, gliedert
er es nach drei Perioden, die etwa unseren heutigen Begriffen
des Trecento, der Frührenaissance und der Hochrenaissance
entsprechen. Er beschließt den ersten Teil seiner Biogra-
phien mit dem Leben des Lorenzo di Bicci, ,,weil er der letzte
von den Meistern war, der in der alten Manier Giottos malte**.
Und dann erzählt er im zweiten Teil von der Arbeit Masolinos
in der Brancacci-Kapelle, daß sie so hoch geschätzt wurde
wegen ihrer Neuheit, wegen der Beobachtung von vielem,
das gänzlich außerhalb der Manier Giottos lag. Masaccio
ist für ihn der Begründer einer neuen Kunst, weil er in ein
anderes Verhältnis zur Natur trat: „Er räumte gänzlich auf
mit der Manier Giottos in den Köpfen, Gewandungen,
Baulichkeiten, im Nackten, im Kolorit und in den Verkür-
zungen, schuf das alles neu und führte jene „maniera mo-
der na'* ein, welcher von damals bis heute alle unsere Künst-
ler folgten." Ja, er rühmt sogar von ihm: „So modern war
i
Renaissance als Stilbegriff. 26|
er den anderen gegenüber in Linienführung und Malweise,
daß seine Werke sicherlich den Vergleich mit jeder heutigen
modernen Arbeit in Zeichnung und Kolorit aushalten."
Und wieder taucht das Wort rinascita auf. Am Schluß
der Einleitung zum zweiten Teile der Viten wird von Ma-
saccio rühmend hervorgehoben, daß ihm die Malerei ihre
„nuöva rinascita'* verdanke.
Eine präzise Begriffsbildung darf man bei Vasari nicht
suchen. Ebenso wie rinascita finden wir auch den Begriff
maniera moderna in wechselnder Bedeutung. i) Er versteht
darunter einmal die auch von seiner Zeit noch gegenüber
dem Trecento als modern empfundene Kunst, deren Beginn
er etwa um 1400 ansetzt, und dann die Kunst seiner eigenen
Epoche, die den von der Hochrenaissance aufgestellten
Idealen folgt und besonders in Michelangelo ihren Heros
sieht, die terza maniera in seiner Einteilung, die er in beson-
derem Sinne „/a moderna** nennen will.
Die ganze national-italienische Entwicklung, der das
Byzantinische und das Gotische, die maniera greca und die
maniera tedesca oder gotica, entgegengesetzt wird, sucht
Vasari nun aber in einen gewissen Zusammenhang mit dem
Einfluß der Antike zu bringen. Er sieht einen Hauptgrund
dafür, daß diese Entwicklung überhaupt zustande kam,
für den Aufschwung der italienischen Kunst nach 1250, darin,
daß die Künstler dazu übergingen, die Antiken nachzuahmen.
Von Niccolö Pisano an beobachtet er ein Zurückgreifen auf
die Antike. Brunelleschi ist ihm der große Bahnbrecher,
weil, er in der Architektur die maniera tedesca überwunden
und durch Anschluß an das Altertum einen neuen Stil ins
Leben gerufen habe. Die Grundidee ist die humanistische^
daß sich die italienische Kunst durch Anknüpfung an ihre
eigene antike Vergangenheit erneuert hat.
Dem Trecento steht Vasari schon sehr fremd gegenüber.
Er kann natürlich nicht zu seinem vollen Verständnis ge-
langen, wenn er einerseits seine gotische Architektur ver-
1) über die Verwendung des Begriffs „modern" in der italienischen
Quellenliteratur vgl. Julius v. Schlosser, Materialien zur Quellen-
kunde der Kunstgeschichte. Sitzungsberichte der Wiener Akademie
der Wissenschaften, Heft 1, 1914, S. 98; Heft 2, 1915, S. 13, 38.
262 Werner Weisbach,
urteilt und anderseits in Malerei und Plastik die Anfänge
der nationalen Entwicklung sehen will. Aber für die Unter-
scheidung quattrocentistischer und cinquecentistischer Kunst
hat er schon recht wesentliche Merkmale aufgestellt.
Die eine in Vasaris Begriff der rinascita liegende Vor-
stellung von dem Erwachen der national-italienischen Kunst
ist lange vor ihm verbreitet und lebt schon in dem Bewußt-
sein des Trecento. Boccaccio, den Sinn von Dantes „5fr7
nuovo'' auf die bildende Kunst übertragend, sagt von Giotto,
er habe die Kunst wieder dem Lichte zurückgegeben, i)
Ghiberti braucht dafür in seinen Kommentarien das Bild
des Aufstiegs. In dem ersten Abschnitt des zweiten Kommen-
tars schreibt er: Cominciö Carte della pittura a sormontare
in Etruria — und zwar durch die Geburt Giottos. Während
Cimabue nur ganz kurz als Lehrer Giottos erwähnt wird,
heißt es von diesem : Arrechö Varte nuova, lasciö la rogeza de'
Oreci; sormontö excellentissimamente in Etruria. Giotto
ist hier also der Schöpfer der neuen Kunst, der den Byzan-
tinismus überwindet. Ghiberti fühlt sich selbst noch ganz
innerhalb der Tradition der Kunstrichtung stehend, die ihren
Aufschwung mit Giotto genommen hat. Er gibt in dem zwei-
ten Kommentar einen Abriß der Künstlergeschichte des
Trecento, der mit seiner Selbstbiographie endigt.
Der Einfluß der Antike als Ursache und Begleiterschei-
nung für die Ausbildung des neuen Stils kommt hier noch
gar nicht zur Sprache. Durch die humanistische Literatur
ist das im Laufe des 15. Jahrhunderts immer mehr in den
Vordergrund gerückt worden. Vasari hat dann die allgemein
aufgenommene Formel dafür geprägt. Sein Begriff der
rinascita umfaßt, wie wir sahen, zugleich die Wiedergeburt
der italienischen Kunst und die Wiedergeburt der Antike.
Bei der Autorität, die sich Vasaris Werk errang, wanderte
der Begriff durch die ganze gebildete Welt, indem das Wort
rinascita in die verschiedenen Sprachen übersetzt wurde.
^) Ausführlich ist dieses ganze Thema behandelt bei Julius von
Schlosser, Ghibertis Denkwürdigkeiten, Kunsthistor. Jahrbuch der
k. k. Zentral- Kommission 1910, S. 122ff. und im 2. Bande seiner
Ausgabe der Denkwürdigkeiten, Berlin 1912.
m
Renaissance als Stilbegriff. 263
Bald wurde die eine, bald die andere der beiden Sinnüancen
hervorgekehrt. Man trug auch kein Bedenken, die Wieder-
geburt der italienischen Kunst als die Wiedergeburt der Kunst
überhaupt aufzufassen.
Als Beispiel, wie fest sich die Vorstellung einwurzelte,
daß die Entdeckung der Überreste des Altertums in unmittel-
barem Zusammenhang mit dem rinascere der Kunst stand,
mag folgende Stelle in einem Briefe des genuesischen Malers
Gio. Battista Paggi vom Jahre 1590 dienen: . . . . non si
tosto si cominciarono in Roma a cavare dalla terra le sepolte
Statue antiche, che Varte con esse a rinascere tornö, stante
Vosservazione e studio, che gli uomini sopra d'esse a farne
intrapresero. ^)
Vasaris Gedanken des Auflebens der Kunst im Gegen-
tz zu der vorhergehenden Barbarei sehen wir übernommen
in Sandrarts „Teutscher Akademie". Der erste Abschnitt
des Abrisses der italienischen Kunstgeschichte trägt die
Überschrift: „Wiedergeburt der Mal-Kunst in Italien",
und im Text heißt es von Cimabue: daß er sie gleichsam
wiedergeboren habe — ohne daß hier irgendwie auf die An-
tike angespielt würde. Als Programm für diesen Teil seines
Werkes hat Sandrart auch am Ende der Vorrede hinge-
stellt, daß er von den Künsten erzählen wolle, wie sie „aus
dem Grabe einer verächtlichen Vergessenheit wieder hervor-
gekrochen und je länger je höher kommen". Daß seine Kunst-
betrachtung stark von Vasari abhängig und klassizistisch
orientiert ist, ist ja zur Genüge bekannt.
Bei Baldinucci finden wir das Wort risorgimento
in demselben Sinne wie Vasaris rinascita gebraucht. Es
sei auf seine „Letter a a Lor. Gualtieri Fiorentino sopra i
pittori piü celebri del sec. XV T'^) verwiesen, wo er den Aus-
druck auf die Malerei bezieht in dem Sinne ihres Auflebens
in den modernen Zeiten. Er spricht dort von Andrea del
Sarto als dem bedeutendsten Maler, ,,che giammai ne'
moderni secoli, e dopo il suo risorgimento, avesse Varte
1) Bottari, Lettere pittoriche VI, S. 90, Guhl-Rosenberg, Künstler-
briefe II, S. 42.
2) Opere Bd. 14, Mailand 1812, S. 275.
264 Werner Weisbach,
della pittura,** Auch der Ausdruck rinnovamento erhält
den gleichen Sinn, so in Ticozzis Titel seines Maler-Lexikons:
Dizionario dei pittori del rinnovamento delle belle arti fino al
1800 (Mailand 1818).
In Frankreich begegnet uns das Wort renaissance in
der Bedeutung von Vasaris rinascita im 18. Jahrhundert.
Voltaire im „Essai sur les moeurs et Vesprit des nations'*
(1756) hat seine Auffassung von der ,y Renaissance des arts*'
offenbar im Anschluß an die Vasari-Tradition gebildet;
es heißt bei ihm: Brunelleschi commenga äreformer Varchi-
tecture gothique.^) Barth^lemy, der Verfasser des .yVoyage
du jeune Anacharsis en Grke'\ — neben Winckelmann ein
Verkünder des neuen hellenischen Ideals und ein begeisterter
Bewunderer Italiens — schreibt am 23. Oktober 1755 aus
Florenz: „Nous voilä enfin ä Florence, la patrie de Dante,
et de Michel'Ange, la capitale des arts dans leur renais-
sance''.
Im Deutschen bediente man sich verschiedener Umschrei-
bungen für die Ausdrücke rinascita oder renaissance,
Herder legte in seiner Schrift: „Auch eine Philosophie
der Geschichte zur Bildung der Menschheit'* folgende hym-
nische Paraphrase nieder: „Endlich folgte, wie wir sagen,
die Auflösung, die Entwicklung; lange ewige Nacht klärte
sich in Morgen auf; es ward Reformation, Wiedergeburt der
Künste, Wissenschaften, Sitten! — die Hefen sanken;
und es ward unser Denken! Kultur! Philosophie! On
commengait ä penser comme nous pensons aujourd'fiui: on
n'etait plus barbare/'
Herder hatte keine starke sinnliche Anschauung von
bildender Kunst, wie aus seinen Briefen aus Italien zur Ge-
nüge hervorgeht. Was ihn im Süden am meisten bewegt,
sind die Natureindrücke. In Rom fühlte sich sein vorwiegend
reflektierender und forschender Geist durch die Vielheit
der auf ihn einstürmenden Neuigkeiten erdrückt. „Es
bleibt indessen auch für mich ein Grabmal, aus dem ich mich
allmählich herauswünsche", schreibt er einmal.
1) Vgl. Adolf Phiiippi. Begriff der Renaissance S. 88.
Renaissance als Stilbegriff. 265
Mit einem ganz andern Sinn und Vorsteilungsvermögen
für Kunst ging Goetfie nach Italien. Er hatte eine bestimmte
Anschauung von dem, was „Wiederherstellung" und
„Auflebung** der Kunst bedeutete, die in Italien geklärt und
befestigt wurde. „Am Anfang des 16. Jahrhunderts hatte
sich der Geist der bildenden Kunst völlig aus der Barbarei
des Mittelalters emporgehoben**, sagt er in der „Italienischen
Reise** (am Ende der Betrachtung über Filippo Neri). Die
beiden vorher genannten Umschreibungen von rinascita
und renaissance kommen in demselben Werke vor. Als er
von seinem Besuch bei D'Agincourt erzählt, heißt es, daß
dieser „seine Zeit und sein Geld anwendet, eine Geschichte
der Kunst von ihrem Verfall bis zur Auflebung zu schreiben**
(Italienische Reise, Teil II, 27.7. 1787).
Endlich sei noch die Äußerung eines bildenden Künst-
lers angemerkt. Der junge Schinkel notierte 1803 in seinem
italienischen Tagebuch i): „Man bemühte sich bisher, ent-
weder die Momente griechischer und römischer Zeit, oder
ein Gebäude aus den Zeiten des Wiederauflebens der
Künste tausendfach zu bearbeiten** — dem er das Mittel-
alterliche gegenüberstellt, für das er sich viel mehr inter-
essieren will.
Damit stehen wir schon mitten in der Romantik.
Mit dem Begriff einer durch die Antike gespeisten
Kunst der rinascita, renaissance, Wiedergeburt war nun
von Anfang an der Begriff einer modernen Kunst verklam-
mert. Wir haben Begriff und Wort schon bei Vasari auftreten
sehen. Die Sinnbedeutung „modern** erscheint in einem
doppelten Gegensatz: entweder zu der Antike oder zu der
„barbarischen** und „gotischen** Kunst. So schreibt
Michelangelo in jenem Briefe, in dem er sein abschätziges
Urteil über Sangallos Modell von St. Peter fällt: „Teneva
molto piü delV opera tedesca, che del buon modo antico, o della
vaga e bella maniera moderna.'' Diese Antithese lebt fort
bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts, wie durch ein paar
Beispiele erläutert werden mag. Wenn Rubens in der Vor-
rede zu seinen „Palazzi di Genova'' (1622) schreibt: „Wir sehen
1) Ausgabe von Ziller S. 2Z
266 Werner Weisbach,
in unseren Gegenden den Baustil, den man barbarisch
oder gotisch nennt, langsam verkümmern und verschwinden;
wir sehen einige gebildete Geister zu größerer Ehre und Ver-
schönerung unseres Vaterlandes die wahre Regelmäßigkeit
einführen, welche die von den alten Griechen und Römern
aufgestellten Regeln befolgt ..." so gibt das eine Vorstellung
von dem, was er für seine Zeit als modern angesehen wissen
will. In demselben Sinne gibt der holländische Architekt
Salomon de Bray seiner Veröffentlichung von zeitgenössi-
schen Bauwerken den Titel: „Architedura Moderna ofte
Boüwinge van onsen tyV (1631) und bezeichnet die früher
in seinem Vaterland gepflegte Architektur als eine sehr
barbarische, von dem Räubervolk der Goten und Vandalen
abstammende Erfindung. Und höchst bezeichnend ist es,
daß uns diese Anschauung auch noch im Jahre 1811 entgegen-
tritt in einer Eingabe, welche die italienischen Künstler
unter Mitwirkung von Canova an Napoleon richteten, um
Widerspruch gegen die Niederlegung des Palazzetto Venezia
zu erheben, die geplant war, um den Corso bis zum Kapitol
weiterzuführen. Der Palast wird hier genannt: Prezioso
anello che lega il gusto barbaro col moderno.^)
Durch die Romantik erhielt der Begriff „modern'*'
eine neue Sinnüance. Zu den beiden großen Kunstkomplexen
der Antike und der Wiederauflebung trat nun ein dritter:
das neuentdeckte Mittelalter. Was bisher als barbarisch
und gotisch verachtet war, gewann ein hohes, ja zum Teil
ausschließliches Interesse und genoß eine enthusiastische
Verehrung. Der einstmals gänzlich dunkle Zwischenraum
wurde mehr und mehr mit Anschauungsbildern gefüllt.
Der Begriff „modern** wurde auf das Mittelalterlich-Roman-
tische bezogen. Wenn die romantische Kunstanschauung
für die Malerei moderne Stoffe forderte, so verstand sie
darunter mittelalterlich-romantische und christlich-mytho-
logische. Damit nahm sie zugleich auch eine oppositionelle
Stellung gegen die Kunst der Wiederauflebung ein, an welcher
man ein seelisches Gefühl, wie man es zum Ausdruck ge-
bracht zu sehen wünschte, und eine wahrhaft christliche
1) Dengel, Palazzo di Venezia, Wien 1909, S. 139.
I
I Renaissance als Stilbegriff. 267
Gesinnung vermißte. Die von der Antike berührte Kunst
erschien in ihrer klassischen Vollendung als kalt und heid-
nisch. Diese Auffassung war nicht nur in dem „romantischen"
Deutschland, von wo die neue Bewegung ausging, sondern
auch in Frankreich im Schwange. Der bekannte franzö-
sische Politiker und Kunstfreund Montalembert schreibt
in seinem Aufsatz: Du Vandalisme en France (1833)^):
,yUn catholique doit deplorer plus qu'un autre le goüt faux,
ridicule, paien, qui s'est introduit depuis la renaissance dans
les constructions et restaurations ecclesiastiques'' womit
die späteren klassischen Zutaten zu mittelalterlichen Bau-
werken gemeint sind. Hatte man früher die Kunst der Re-
naissance in ihrer Gegensätzlichkeit zu dem als barbarisch
empfundenen Mittelalter gewertet und als höchsten Wert
neben der Antike anerkannt, so verblaßte sie neben dem
Mittelalter für die Romantik, die sich bemühte, alle ihre
negativen Eigenschaften ans Licht zu ziehen.
Aus den vorhergehenden Betrachtungen läßt sich nun
eine wichtige Schlußfolgerung ziehen. Wenn Worte wie
Renaissance oder Wiederauflebung anklangen, so löste das
zweifellos in der Vorstellung von Künstlern, Kunstkennern
und Kunstfreunden das Bild einer bestimmten Art von
Kunst aus, deren Besonderheit in ihrer Berührung mit an-
tikem Geiste lag. Durch das Vorhandensein eines reichen
und allbekannten Monumentenschatzes konnte eine solche
Anschauung immer lebendig gehalten werden. Man wußte,
was gemeint war, wenn man jene Worte hörte oder las —
so wie wenn heute von Empirestil oder Impressionismus
gesprochen wird. Es war aber im wesentlichen die Kunst-
form des Cinquecento, was man dem Begriff unterstellte.
In der gelehrten und resümierenden Kunstschrift-
stellerei läßt sich bis in das 19. Jahrhundert das Nachwirken
der beiden in Vasaris Ausdruck rinascita zusammenfallenden
Sinnüancen verfolgen. Wir sehen das bei D'Agincourt
(1730 — 1814), der als der erste in seiner Kunstgeschichte
1) Abgedruckt Oeuvres Bd. 6, S. 43. Vgl. über diesen merk-
würdigen Aufsatz auch Weisbach, Expulsons les Barbares, Deutsche
Politik 1916, Heft 12.
268 Werner Weisbach,
{Histoire de Vart parles monuments depuis sadecadence jusqu'au
XV l^ steck] erschienen in Lieferungen von 1809 bis 1823)
eine historische Periodisierung nach Stilphasen aufzustellen
versucht und dabei auch das Wort Renaissance einführt,
ohne aber zu einer eindeutigen Terminologie zu gelangen.
Er wendet in den einzelnen Abschnitten über die verschie-
denen Künste die Bezeichnungen renaissance und renou-
vellement an, scheidet aber nicht nach einem bestimmten
System. Renaissance bezieht sich bei ihm mehr auf das
Aufleben der national-italienischen Kunst nach den bar-
barischen Zeiten, renoüvellement legt den Nachdruck auf die
Wiedergeburt der Antike, die das Wachstum der neuen
Kunst gefördert hat.
Um eine Klärung des Renaissancebegriffs auf einer
objektiven wissenschaftlichen Grundlage hat sich dann
Eduard Kolloff bemüht, der in Paris lebende feinsinnige
deutsche Kunstforscher, dem wir auch den frühesten grund-
legenden und einen der geistvollsten Essais über Rembrandt
verdanken. Der in Raumers Historischem Taschenbuch
(Neue Folge I.Jahrgang, 1840) erschienene Aufsatz, der das
Thema behandelt, führt den Titel: ,,Die Entwicklung der
modernen Kunst aus der antiken bis zur Epoche der Renais-
sance." Das Wort Renaissance tritt hier also schon in der
deutschen Sprache als Kunstbegriff auf. Die Abhandlung
übt an den verschiedenen maßgebenden Kunstauffassungen
der Vergangeheit und Gegenwart Kritik und hat dadurch
den Charakter und den Reiz einer Aktualität. Kolloff
kämpft gegen zwei Fronten : gegen die einseitige Überschät-
zung des klassischen Altertums durch die Winckelmannsche
Theorie und gegen die ebenso ausschließliche Wertung des
Mittelalters durch die Romantik. Er rechtfertigt wohl noch
das Mittelalter gegenüber den alten, längst überholten Vor-
würfen des „Barbarischen*' und sucht es, mit der neuen
Monumentenkenntnis ausgerüstet, objektiv zu würdigen,
lehnt jedoch die romantische Verhimmelung gänzlich ab.
Die Renaissance soll in der Absicht der Verteidigung in ihr
kunstgeschichtliches Recht eingesetzt und zugleich auch
gegen den ihr von der Romantik gemachten Vorwurf der
Unfrömmigkeit in Schutz genommen werden. Ein Haupt-
Renaissance als Stilbegriff. 269
Problem ist aber für den Verfasser die Abgrenzung der Stil--
epoche der Renaissance gegen das Mittelalter. Da zeigt
sich nun, daß er unter Renaissance den Vasarischen Begriff
der rinascita versteht, in dem Sinn des Auflebens der national-
italienischen Kunst, mit dem zugleich die Wiedererweckung
der Antike erfolgt. Die Renaissance ist die „auf freie Nach-
ahmung und Benutzung antiker Vorbilder und Materialien
begründete neue Kunstweise", deren Beginn man aber nicht,
wie das gewöhnlich geschieht, erst in das 16. Jahrhundert
setzen, sondern an das Ende des 13. zurückverlegen müsse.
Wird auch der Name Vasaris nicht genannt, so ist doch
diese Konstruktion zweifellos unter seinem Einfluß vor-
genommen. Es ist zugleich ein Schlag gegen die präraffae-
litische Auffassung, die das Quattrocento noch für das
Mittelalter in Anspruch nahm.
Aus alledem ergibt sich, daß der Begriff Renaissance
als Kunstbegriff längst sein Geltungsbereich hatte, ehe der
Kulturbegriff geschaffen war. Als Burckhardt in seinem
„Cicerone'' die Kunst der Renaissance charakterisierte,
konnte er — wenn er auch die Anschauung in ganz neuer
Weise belebt hat — mit Wort und Begriff an eine alte Tra-
dition anknüpfen. Die historische Methode des 19. Jahr-
hunderts stellte sich nun aber die Aufgabe, die künstlerischen
und literarischen Erzeugnisse eines Volkes aus seinen natio-
nalen und kulturellen Bedingungen heraus zu erklären. Es
wurde Sitte, in den Kunstgeschichten den Schilderungen
der künstlerischen Erscheinungen kulturhistorische Abschnitte
voranzustellen. So wurde Burckhardt dazu geführt, seinem
Aufbau der Kunst der Renaissance das kulturgeschichtliche
Fundament zu geben und veröffentlichte einige Jahre nach
dem Cicerone ,,die Kultur der Renaissance in Italien", nach-
dem Michelet auf diesem Wege für die Geschichte Frank-
reichs vorangegangen war. Dabei nimmt er nun, wie schon
bemerkt, indem er von der Periodisierung Kolloffs abweicht,
den Anfangstermin für beide Erscheinungen verschieden
an. Während er den Kunststil da einsetzen läßt, wo bei
Vasari mit dem zweiten Teil seiner Viten die ,,maniera
moderna'' beginnt, datiert er die Kultur der Renaissance
noch in das vorhergehende Jahrhundert zurück. Der Ein-
Historische Zeitschriit (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd. 18
270 Werner Weisbach,
schnitt zwischen Gotik und Renaissance liegt um die Wende
des 14. und 15. Jahrhunderts.
Als Burckhardt seinen Cicerone verfaßte, war er sich
bewußt, daß die Geschichte der Kunst eine Periodisierung
nach immanenten stilistischen Prinzipien erforderte und nicht
einer nach anderen Gesichtspunkten eingeteilten Historie
einfach an- oder eingegliedert werden kann. So fällt bei ihm
das erste Jahrhundert der Bildung der nationalen italienischen
Kunst, mit dem Vasaris rinascita anhebt, die Zeit von Giotto
bis zum Auftreten von Brunelleschi und Masaccio, unter
den Begriff des gotischen Stils. Die Epoche der Renaissance
gliedert er in Früh- und Hochrenaissance, was etwa der
Zweiteilung entspricht, die auch Vasari für die Periode von
1400 bis auf seine Zeit durchgeführt hatte.
An die Formulierung dieses Stilbegriffs wurde nun
wiederum die Sonde der Kritik gelegt und er wurde ebenso
ins Wanken gebracht wie der Burckhardtsche Kulturbegriff.
Wir haben schon anfangs gesehen, wie Thode und Neumann
den Beginn der Renaissancekunst zurückdatierten und zu-
gleich mit der Kultur aus anderen Wurzeln ableiteten. Es
sprachen in den verschiedenen Ländern zum Teil auch
nationale Motive und Vorurteile mit, die sich dagegen wehr-
ten, in Italien das Ursprungsland des Phänomens zu sehen.
Mit der Auffassung von Neumann berührte sich der fran-
zösische Kunsthistoriker Louis Courajod in bezug auf das,
was er als Renaissancestil verstanden wissen wollte. Auch
er erkennt dem Einfluß der Antike keine wesentliche Bedeu-
tung zu. „Le style gothique s'est regener e tout seul, par la
conversion ä un naturalisme absolu, dont est sorti la Renais-
sance/'^) Indem er das Aufkommen eines Realismus als
treibende Kraft für die Renaissancebewegung ansieht, er-
kennt er in dieser nicht eine von Italien ausgehende, sondern
eine an verschiedenen Stellen Europas selbständig sich aus-
wirkende Erscheinung. ,, Frankreich habe schon längst die
Prinzipien der Renaissancekunst gekannt und besessen,
bevor es die italienischen Formen übernommen.'' Die An-
i) Legons professies ä VEcole du Louvre Bd. 2, 1901, S. 142.
Renaissance als Stilbegriff. 271
fange der Renaissance lägen im 14. Jahrhundert, in Frank-
reich und Flandern so gut wie in Italien.
In Deutschland suchte Schmarsow den Ursprung der
Renaissance seiner Heimat zu vindizieren, indem er ihn
an die Entstehung der Hallenkirche im 15. Jahrhundert
knüpfte, mit einer von ihm selbst eingestandenen natio-
nalistischen Tendenz, die gewiß nicht ganz einwandfrei ist.
Seine Theorie wurde von Richard Streiter^) so ad absurdum
geführt, daß dem kaum noch etwas hinzuzufügen ist. Ihr
stellte er den für jeden nicht Voreingenommenen gewiß
unanfechtbaren Satz entgegen: ,,Die Gotik gab der Norden
dem Süden, später gab der Süden dem Norden die Re-
naissance. Beide Stile waren nur in ihrer Heimat echt.**
Ebenso wie Streiter erklärten sich Dehio^) und H. A.
Schmid^) gegenüber Thode, Neumann, Schmarsow und Cou-
rajod dafür, daß eine formale Einwirkung der Antike, wie
sie zuerst auf italienischem Boden stattfand, als ein un-
ausschaltbarer Faktor für das Zustandekommen des Re-
naissancestils einzusetzen ist.
Die Verwirrung gedieh also so weit, daß es bald über-
haupt keinen eindeutigen Renaissancebegriff mehr gab und
die einzelnen Forscher mit verschiedenen Begriffen arbeiteten.
Und doch scheint es bei einer sachlichen Prüfung der Tat-
bestände nicht so schwer, zu einer einheitlichen und präzisen
Begriffsbestimmung zu gelangen.
Daß Realismus nicht als stilbildendes Prinzip für eine
als Renaissance zu bezeichnende Epoche genannt werden
kann, bedarf eigentlich kaum noch einer Widerlegung,
— wenn anders man nicht überhaupt darauf verzichtet,
zu einer Verständigung über das, was Renaissancestil be-
deutet, zu gelangen. Der Gotik gegenüber bildet gerade die
I Tektonik und Proportionierung nach neuen harmonischen
^) Gotik oder Renaissance? in „Ausgewählten Schriften", Mün-
chen. 1913.
2) Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik, Kunst-
chronik N. F. 1900, XI, Sp. 247. Abgedruckt in „Kunsthistorische
Aufsätze", München-Berlin 1914.
3) Über den Gebrauch des Wortes Renaissance, Kunstchronik
1900, Sp. 468 ff.
18*
272 Werner Weisbach,
Gesetzen das wesentliche Fundament. Eine andersartige
Organisierung bestimmt die Einteilung der bildlichen Ele-
mente. Realismus ist doch auch immer nur relativ zu ver-
stehen. Bald nach Entstehung der Gotik kam in Frankreich
ein neuer Realismus auf, der sich aber ganz dem gotischen
Stilgefühl anpaßte, ja aus ihm heraus geboren war. In
Italien ist die Kunst des Niccolö und des Giovanni Pisano
weit realistischer als alles was in der italienischen Plastik
voranging. Giotto erschien seinen Zeitgenossen als der
Gipfel einer wirklichkeitstreuen Darstellung, wie Boccaccio
(Decam., Giorn. 6, Nov. 5) und Giovanni Villani (Storia
Fior., Hb. XI, cap. XII) bezeugen. Hat aber das was an
diesen künstlerischen Erscheinungen als realistisch gelten
kann, einen neuen Stil bewirkt? Niccolö Pisano und seine
apulischen Vorläufer sind auch die ersten gewesen, die sich
an antiken Bildwerken inspiriert haben. Aber indem das
Formgefühl dieser Bahnbrecher sich einer neuen Kunstwelle,
der andringenden nordischen Gotik, einschmiegte, kam der
Stil des Trecento zustande. Die Gotik war damals der mo-
derne Stil der europäischen Welt, dem auch Italien seinen
Tribut zollte. In dem Gotischen gingen alle Äußerungen
des italienischen Kunstgeistes auf, mochte dieser auch seine
besondere und dem Nordischen in manchem widersprechende
Auffassung davon haben. Es bildet das Ferment für alle
Formprobleme. Vergleicht man eine italienische Skulptur
des Trecento mit einer gotisch-nordischen, so wird man mehr
stilistische Berührungspunkte finden als etwa mit einem
Donatello.
Überblickt man aber die Entwicklung des italienischen
Formgefühls in der kritischen Zeit von dem Ende des 13.
bis zum 16. Jahrhundert, so kann man von der Wende des
14. und 15. an eine Umstellung des gesamten künstlerischen
Schaffens wahrnehmen. Durch die Entdeckung der linearen
Perspektive wird der Raumsinn von Grund aus verändert.
In der lebendigen Wirklichkeit findet man Wertmaßstäbe
für körperliche Funktionen und Attitüden, deren sich der
bildende Geist der Menschheit seit der Zeit der Antike nicht
bewußt geworden war. Die Art und der Grad von Realis-
mus, der nun erstrebt wird, ist etwas ganz anderes als in
Renaissance als Stilbegriff. 273
den Tagen eines Giovanni Pisano und Giotto. Das Verhält-
nis zur Antike nimmt Formen an, die weitab leiten von den
Tendenzen des Mittelalters. Von führenden Künstlern wer-
den jetzt die noch vorhandenen Reste des Altertums syste-
matisch durchforscht und aufgemessen, um für eigene
produktive Arbeit verwertet zu werden. Man hat es nun
aber nicht etwa so aufzufassen, als ob die Wiederentdeckung
der Antike den Anstoß für die Veränderung des Formgefühls
gab, wie jene alten Theorien meinten, — nein, weil die Ent-
wicklung des Anschauungsvermögens einen Punkt erreicht
hatte, wo man sich mit dem, was die Griechen und Römer
geschaffen hatten, berührte, griff man auf ihre Formen
zurück. Mit den völlig veränderten, die ganze Zeit bewegen-
den Problemstellungen ringt sich ein neues Stilbewußtsein
durch.
Architektur, Ornamentik, Menschendarstellung, alles was
zu Formen gestaltet wird, erfährt in Italien um die Wende
des 14. und 15. Jahrhunderts Neubildungen, die auf anderen
optischen und dekorativen Voraussetzungen beruhen als
in der vorhergehenden Zeit. Das in der Baukunst sich aus-
lebende tektonische Gefühl wendet sich bewußt und osten-
tativ von der Gotik ab und stellt sich auf ein neues Form-
system ein. Brunelleschi erschien schon der Zeit selbst als
der Mann des Schicksals. Der Formenschatz der Antike
wurde ihm nicht Gegenstand bloßer Nachahmung, sondern
regte ihn zu eigener schöpferischer Tätigkeit an. So ver-
wirklichte er für seine Epoche ein altes lateinisches Ideal,
das mit Begeisterung aufgegriffen wurde, so daß man nun
den Ring zwischen der antiken Vergangenheit und der mo-
dernen Ära geschlossen glaubte.
Die neue Tektonik gibt die Richtung an für alle künst-
lerischen Erzeugnisse. Und mußte nicht auch ein Maler,
der sich einem von Säulen oder Pilastern eingefaßten, mit
einem klassischen Gebälk bekrönten Rahmen anzupassen
hatte, schon eine ganz andere Disponierung und Füllung
der Bildfläche vornehmen als bei einem mit Fialen und Kreuz-
blumen besetzten gotischen Spitzbogenaufbau?
Für die Darstellung des menschlichen Körpers wird
eine zum Teil aus dem neuen Naturgefühl erwachsene, zum
274 Werner Weisbach,
Teil aus der Antike abgeleitete Ponderation bestimmend.
Und die in dem Zeitideal so tief verwurzelte Proportions-
lehre geht als Leitmotiv durch alle Künste.
Es ist in der Tat ein neuer Stil, der am Anfang des
15. Jahrhunderts die Gotik ablöst, und den man wohl be-
rechtigt ist, Renaissance zu nennen, wenn sich auch gotische
Nachwirkungen noch geraume Zeit bemerkbar machen.
Für diesen Ausdruck ergab sich eine Schwierigkeit allerdings
dadurch, daß er nicht wie „romanisch*' und ,, gotisch"
eindeutig einer Stilbezeichnung dient, sondern auch zur
Charakterisierung eines ganzen Kulturzeitalters verwandt
wurde, dessen erstes Jahrhundert noch der Wirkung eines
anderen Kunststils unterliegt. Läßt man den Begriff Re-
naissance als Stilbezeichnung gelten, so folgt daraus, daß
man von den in anderen und früheren Fassungen an ihn
geknüpften Bedeutungen: Wiederaufleben der italienischen
Kunst und der Kunst überhaupt und Wiedergeburt der
Antike absehen muß. Man hat darunter dann den Stil
zu verstehen, der, an die Stelle der Gotik tretend, auf Grund
eines neuen Gefühls für Natur, Proportionen und Tektonik
mit erweiterten optischen Fähigkeiten und unter mannig-
facher Verwertung antiker Anregungen sein dekoratives Ge-
staltungsideal verwirklicht. Dieser Stil ist tatsächlich nun
aber auch der eigentliche und wahre Ausdruck für den gei-
stigen Gehalt der Renaissancekultur. Erst durch ihn wird
für eine neue Ideenwelt eine neue Formenwelt erobert.
Er bringt die künstlerische Sehnsucht der ersten Generatio-
nen des Renaissancezeitalters und des Humanismus zur Er-
füllung. Das Ideal Dantes wie des Mittelalters verkörpert
sich in der Gotik. Seine Auffassung von den letzten Dingen
hat im Camposanto von Pisa und bei Orcagna eine wesens-
verwandtere künstlerische Ausprägung erhalten als bei
Signorelli und Michelangelo. Da alles bildnerische Schaffen
aus formalem Schauen erwächst, so bedurfte es erst einer
Ergänzung und Erweiterung der Anschauungsmethoden
und durchgreifender Veränderungen in der Formensprache,
ehe der Renaissancegeist in einer Renaissancekunst einen
adäquaten Ausdruck fand. Durch den wissenschaftlich
forschenden und kritischen Geist des Humanismus wurde
Renaissance als Stilbegriff. 275
auch die Kunst auf Methoden geführt, welche die Entdeckung
der Linearperspektive, das anatomische Studium, die Kon-
struktion menschlicher Körper nach mathematischen Ver-
hältnissen begünstigten. Die unheilvollen Folgen des hu-
manistischen Rationalismus griffen hauptsächlich erst im
16. Jahrhundert um sich und treten am krassesten in dem
sogenannten Manierismus zu Tage.^) Der Humanismus hat
aber auch ein gefühlsmäßiges Element entwickelt, das sich
die Kunst mit ihren formalen Mitteln zu eigen machte.
Damit findet nun die Burckhardtsche Anwendung des
Stilbegriffs und ihre Abgrenzung gegen den Kulturbegriff
eine Rechtfertigung. Die heute übliche Einteilung in Früh-
renaissance oder Quattrocento und in Hochrenaissance
oder Cinquecento entspricht auch, wie wir an dem Beispiel
Vasaris sahen, ungefähr der Vorstellung, die sich die Renais-
sance selbst, als sie rückblickend zu reflektieren begann,
von der Kunst ihrer Zeit machte.
Man wird aber dem vielleicht nicht ganz glücklich
Frührenaissance benannten Quattrocento nicht gerecht,
wenn man es nur als Vorstufe zu der eigentlichen „goldenen
Zeit" der Renaissance ansieht, wenn man es in seinem Ver-
hältnis zur Hochrenaissance nur wie die Verheißung zur Er-
füllung hinnimmt. Diese Auffassung wird heute namentlich
durch Wölfflin vertreten, der in seinen ,, Grundbegriffen der
Kunstwissenschaft** (S. 15) schreibt: ,,Die Vorstufen der
Hochrenaissance dürfen nicht ignoriert werden, aber sie
stellen eine altertümliche Kunst dar, eine Kunst der Primi-
tiven, für die eine sichere Bildform noch nicht existiert."
Weist man den Meisterwerken des Quattrocento diese Rolle
zu, so verbaut man damit in historischer und ästhetischer
Beziehung eine richtige Würdigung ihrer Qualitäten; denn
sie tragen ihr Gesetz in sich, das nicht bloß mit den Maß-
stäben der Hochrenaissance beurteilt sein will. Sie haben die
Bildform, die den Empfindungsgehalt, auf den sie eingestellt
sind, sinngemäß ausprägt. Das Quattrocento hat mit den
ihm zu Gebote stehenden formalen Mitteln Werte geschaffen.
0 Vgl, Weisbach, Der Manierismus. Zeitschrift für bildende
Kunst, April 1919, S. 161 ff.
276 Werner Weisbach,
die ganz von der Art dieser Mittel abhängig sind, auf der
Wahl dieser Mittel beruhen. Die wuchtige Monumentali-
tät eines Piero della Francesca ist kaum je übertroffen wor-
den. Wer möchte etwa seinen Kampf zwischen Persern
und Christen in Arezzo für die Raffaelische Constantin-
schlacht missen! Und die herbe eckige Grazie eines Lippi,
Pesellino, Botticelli, die wie die junge Morgensonne am Him-
mel der Renaissance aufging, mag doch immer neben den
vollen, reifen, runden Formen des Cinquecento bestehen.
Die rein klassischen Prinzipien zur Wertung der Frührenais-
sance nach rückwärts zu übertragen, ist eine Vergewaltigung
auf Kosten ihrer originalen Leistungen. Man hütet sich heute
ja auch, die archaische griechische Kunst an den Phidiasi-
schen Stilelementen zu messen. Der quattrocentistische
Stil hat seine geschlossene und aus seiner Vorstellungs-
welt deutbare und zu deutende Schönheit. Die Beschwörung
des Namens Mantegna genügt wohl, um diesen Stil als ein
in sich selbst Ruhendes und Vollendetes erscheinen zu lassen.
Der Begriff der Primitivität läßt sich doch höchstens auf
einige Erstlingswerke der Epoche anwenden und wäre jeden-
falls genauer zu definieren. Was man als Primitivität an-
spricht, das Jugendlich-Suchende, gewissen Hemmungen
Unterworfene, in einen beschränkteren Formausdruck Ge-
bannte, noch nicht aus dem Vollbesitz aller klassischen
Mittel Schöpfende, hat seine Vorzüge wie seine Mängel.
Wie man beide gegeneinander abwägt, das wird zum großen
Teil von dem vertretenen Geschmacksstandpunkt und an-
deren irrationalen Faktoren abhängen — wie schon aus der
entgegengesetzten Stellungnahme verschiedener Zeiten und
Individuen ersichtlich wird. Die Romantik hat die Hoch-
renaissance gegen das Quattrocento herabgesetzt. Ruskin
beklagte in dem klassischen Cinquecento einen ketzerischen
Abfall. Die Klassik sieht in der Frührenaissance nur den
Vorhof zu dem wahren Heiligtum. Es gibt kein einheitliches
Vollkommenheitskriterium, dem sich die Erzeugnisse der
beiden Jahrhunderte unterwerfen ließen.
Wird es als einleuchtend hingenommen, daß am An-
fang des 15. Jahrhunderts in Italien ein neuer Stil anhebt,
der nicht ohne eine gewisse innere Berechtigung den Namen
Renaissance als StUbegriff. 277
Renaissance führt, so hat es nicht viel auf sich, wenn die
mit demselben Namen bezeichnete Kulturepoche einen
weiteren Zeitraum umspannt. Die Kunstgeschichte erfüllt
ihre Aufgabe, wenn sie ihre Periodisierungen nach den
immanenten Entwicklungsprinzipien der bildenden Kunst
vornimmt.
Es entsteht nun aber die weitere Frage: Läßt sich der
Stilbegriff Renaissance mit der gleichen Berechtigung auf
die Kunst diesseits der Alpen übertragen? Die Frage ist
teils bejaht, teils verneint worden. ^Burckhardt wollte von
den nicht italienischen Renaissancen nichts wissen und lehnte
sie als Bastarderscheinungen ab. Geymüller, der Geschichts-
schreiber der französischen Renaissance, nahm sie als einen
Weltstil, der von Italien aus auf die anderen Länder übergriff.
Für die in Deutschland der Gotik folgende Epoche
hat sich der Name deutsche Renaissance eingebürgert.
Man wird auch die Bezeichnung festhalten dürfen, wenn man
darunter den Stil versteht, der die durch Italien vermittelte
antike Formenwelt aufnimmt, verarbeitet und sich bis
zu einem gewissen Grade assimiliert. Gewiß wirkt die go-
tische Gewöhnung, die den Deutschen tiefer im Blute steckte
als einem anderen Volk, noch lange nach. Aber wie der
Humanismus dem geistigen Leben in Deutschland eine neue
Wendung gibt, so wird durch die tektonischen Formen
der Antike, die allerdings mehr dekorativ als monumental
verwandt und teilweise bis zur Karikatur modifiziert wer-
den und durch die nach dem Vorbild der italienischen
Renaissance durchgeführte Ponderierung und Proportio-
nierung des Figürlichen eine Auflösung des gotischen Sy-
stems bewirkt. Man muß daran festhalten, daß die nor-
dische Renaissance ein rezipierter Stil ist, der in sehr freier
und willkürlicher Weise mit dem übernommenen Material
schaltet und eine starke lokale Eigenart entwickelte. Ge-
tragen wird dieser Stil von dem deutschen Bürgertum, das
eine ganz andere Lebensart und andere Gewohnheiten be-
saß als der italienische Süden. So weichen denn auch die
formalen Ergebnisse hier und dort stark voneinander ab.
Läßt sich der das geistige Leben revolutionierende
Humanismus in Deutschland in seinen Anfängen schon
278 Werner Weisbach,
bis ins 14. Jahrhundert an den Hof Kaiser Karls IV., den
ein Petrarca aufsuchte, zurückverfolgen, so setzt doch die
Hochflut erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts ein, und diese
Tendenz wird dann gleich teils aufgenommen, teils durch-
kreuzt, teils gehemmt von der religiös-reformatorischen Be-
wegung, die einen ganz anderen Interessenkomplex in den
Vordergrund rückt und den Leidenschaften einen weiten
Spielraum gibt. So tief wie in Italien hat der Humanismus
nicht seine Furchen gezogen. Konnte er sich dort auf die
römische Antike als auf die eigene nationale Vergangen-
heit berufen, so war er in Deutschland Importgut und
wurde von nicht wenigen als „wälsch" verdächtigt, wenn er
hier auch aus sich selbst heraus eine Art nationaler Ge-
sinnung entwickelte. Aber das humanistische, nach der
Antike ausgerichtete Ideal war im Norden wie im Süden
das gleiche. Was indessen in Deutschland fehlte, war die
gestaltende Kraft, die dem Ideal die klare Anschaulichkeit
und Reinheit der Form verUeh. Man übernahm alles Theo-
retische aus der italienischen Renaissance, kam aber in
praxi zu andersartigen Ergebnissen und Wirkungen. Be-
zeichnend ist jener am Hofe Kaiser Maximilians gepflegte
Humanismus und seine- künstlerischen Erzeugnisse. In-
dem man den monströsen Riesenholzschnitt der „Triumph-
pforte" in Angriff nahm, dachte man mit den Triumph-
bögen der Antike und des modernen Italien zu konkurrieren.
Eine mit der Spätgotik verwachsene, zum Überladenen,
Krausen und Bizarren neigende Phantasie setzte der formalen
Kultur der Renaissance Widerstände entgegen. Im Grunde
fehlte es an einem Sinn für die Harmonie der Verhältnisse.
So hat der Renaissancegeist in Deutschland nicht einen so
adäquanten und stilreinen Ausdruck in der Kunst gefunden
wie in Italien. Die ganze künstlerische Entwicklung war auch
auf einen weit engeren Zeitraum zusammengedrängt und
nahm infolge der starken Einwirkungen von außen und der
lokalen Verhältnisse einen anderen Verlauf. Der deutschen
Kunst fehlt die Einheitlichkeit der Entfaltung, indem spät-
gotische und Renaissanceformen noch lange durcheinander
fluten — aber das Renaissanceelement bestimmt doch als
das fortschrittliche den Gang der Entwicklung.
Renaissance als Stilbegriff. 279
Es scheint mir deshalb auch keine Veranlassung vorzu-
liegen, den Begriff deutsche Renaissance fallen zu lassen,
wie von verschiedenen Seiten vorgeschlagen wurde, und die
Stilepoche entweder der Spätgotik zuzurechnen (Carl Neu-
mann) oder dem Barock einzuverleiben (Dehio). Gegen
den ersteren Vorschlag sprechen bereits unsere vorhergehen-
den Ausführungen. Eine Umstellung in der Auffassung
des Körperlichen, wie sie das italienische Quattrocento
zeigt, geht in Deutschland im 16, Jahrhundert vor sich und
setzt sich siegreich durch. Dürer hat das ganze Renaissance-
problem in sich durchgekämpft. Und auf Bauwerke, wie
das Rathaus von Rothenburg an der Tauber, den Fürsten-
hof in Wismar, den Otto-Heinrichsbau des Heidelberger
Schlosses, die Höfe der Residenz von Landshut, des Schlosses
von Dresden und des alten Schlosses von Stuttgart ist man
wohl berechtigt, den Stilbegriff Renaissance in der von uns
vertretenen Formulierung anzuwenden. Von einem deut-
schen Barock sollte man aber erst von da an sprechen, wo
die deutsche Kunst in den großen, von Italien ausgehenden
Strom des Barockstils einbiegt. Bietet die deutsche Renais-
sance, wie schon betont, einen stark lokalen und eigenbröd-
lerischen Charakter, so kommt in den Barock durch die
Einwirkung der Gegenreformation in den katholischen
Ländern und durch das absolutistische Regime der Fürsten-
höfe auch in Deutschland bei aller nationalen Besonder-
heit ein kosmopolitischer Zug. In dem Ringen mit der reinen
Renaissance ist die deutsche Kunst verblutet und wurde
dann durch den Dreißigjährigen Krieg in ihrer Entfaltung
völlig gehemmt. Jene ins Große gehende Freiheit des Form-
gefühls, jene monumentale Gestaltungskraft wurde ihr durch
den südlichen Barock mit seinen ins Barocke übergeführten
klassischen Formen zugeleitet. Werke, wie das Schloß in
Würzburg oder der Schlütersche Teil des Berliner Schlosses
halten mit der allgemeinen europäischen Entwicklung
Schritt. Die Epoche, die dieses Stadium vorbereitet hat,
ist die deutsche Renaissance, mag auch ihr Bedeutungswert
innerhalb der Gesamtentwicklung ein anderer sein als der
der italienischen Renaissance.
280 Werner Weisbach, Renaissance als Stilbegriff.
Setzt man zu dem Wort Renaissance die Prädikate
italienisch, deutsch, französisch usw. so läßt sich der Stil-
begriff — bei gleichzeitiger Kennzeichnung des Gemein-
samen und der lokalen Eigentümlichkeiten — auf die ver-
schiedenen Länder anwenden und bewährt sich auch im
praktischen Gebrauch, was ja eine Hauptbedingung für die
Begriffsbildung ist. Wie die Renaissancekultur, so weist
der Renaissancestil allenthalben verbindende Elemente auf
und wird eine allgemein europäische Erscheinung. Werden
die Formulierungen in dem dargelegten Sinne angewandt,
so kommt der Stilbegriff ebenso wie der Kulturbegriff zu
seinem Recht.
I
Literaturberidit.
Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie
der Weltgeschichte. Von Oswald Spengler. l.Bd.: Gestalt
1^» und Wirklichkeit. Wien und Leipzig, Wilh. Braumüller.
■K 1918. XVI u. 639 S.
^^B Das Buch — es ist inzwischen in zwQ.iter Auflage bereits
'^Tor Erscheinen vergriffen — hat sehr rasch Aufsehen gemacht,
und mit Recht, denn es ist ein Buch von großer geistiger Selb-
ständigkeit und von reichsten Kenntnissen, wenn auch der an
sich nicht verwerfliche Dilettantismus in ihm mitunter an die
Grenzen des groben Unfugs geht. Es ist im allgemeinen eines
jener Produkte, die aus der Abneigung gegen den kühlen kri-
tischen Rationalismus und die philologische Akribie geboren sind
und, wie es die Stimmung der jüngeren Generation — freilich auch
[ des für das Enzyklopädische begeisterten Journalismus — ver-
I langt, sich der intuitiven Synthese zuwendet. Vorzüge und Gefahren
dieser Wendung von der Kausalität der Einzelvorgänge zur kon-
I struktiven und vergleichenden Zusammenschau der großen Zu-
i sammenhänge sind durch es in der Tat lehrreich veranschaulicht.
j Es ist insofern ein bedeutsames Kulturdokument aus der Zeit einer
! geistigen Krisis der deutschen Wissenschaft, ein Zeugnis der über-
all spürbaren Empörung gegen die exakte Philologie und gegen
die schulmäßig-formalistische Philosophie der Katheder. Cha-
rakteristisch ist dabei, daß Mathematik und Physik von dieser
Krisis sehr viel weniger betroffen sind als die dem historischen
Denken näher stehenden biologischen Disziplinen und insbe-
sondere die Historie selbst. Gegen ihren bisherigen technischen
Schulbetrieb und gegen die allerdings meist sehr trivialen und
verworrenen Einbeziehungen der Historie in philosophische
282 Liieraturbericht.
Konventionen eines halbschlächtigen Naturalismus erhebt sich
der eigentliche Kampf. Der Verfasser ist allem Anschein nach
ein Philosoph, der von den Naturwissenschaften, vor allem
Mathematik und Physik herkommend, zur Historie übergeht und
dabei den tiefen Gegensatz zwischen unserem heutigen natur-
wissenschaftlichen Denken und der Historie wie eine alles er-
leuchtende Offenbarung entdeckt. Rasch entschlossen bildet er
diese Entdeckung zu einem grundsätzlichen, nicht kausalen,
sondern historisierenden und individualisierenden Relativismus
um, womit er die letzte Phase der europäischen Philosophie zu
eröffnen gedenkt, nachdem die anderen metaphysischen Mög-
lichkeiten unseres Kulturkreises erschöpft seien. Freilich macht
er damit eine Entdeckung, die schon manche andere vor ihm
gemacht haben wie Dilthey, der ja auch seinerseits den grund-
sätzlichen Skeptizismus daraus gefolgert hatte, oder wie Lotze,
Windelband und Rickert, die freilich von einer religiösen oder
ethischen Grundposition aus die skeptischen Konsequenzen zu
entkräften suchten und in der Logik einen Einheitspunkt und
Garanten der Erkenntnismöglichkeit festhielten. An Simmel
und Bergson erinnert der Verfasser oft beinahe wörtlich und
sachlich jedenfalls aufs stärkste, obwohl er bei der einzigen ge-
legentlichen Erwähnung dieser Denker sehr despektierlich von
ihnen spricht. Er selbst nennt als seine Meister lediglich Goethe
und dessen antimathematische Konstruktion der Urphänomene
und Tendenzen sowie Nietzsches Kulturpsychologie und kon-
struktive Zusammenschau der europäischen Geschichte, bei der
er freilich immer noch in dem eschatologischen Optimismus des
Obermenschen eine romantisch-europäische Befangenheit im engen
westeuropäischen Horizont feststellen zu müssen glaubt. Leider
folgt nun aber doch Spengler von seinen beiden, allein erwähnten
Meistern in Wahrheit mehr dem Manierismus und der Zarathustra-
Pose Nietzsches als der Ruhe, Klarheit und Sachlichkeit Goethes,
den er doch als den eigentlichen Meister zu verehren vorgibt,
so wenig seine Skepsis und sein tragischer Pessimismus in Wahr-
heit mit Goethes gläubiger Gesundheit zu tun hat. Der grund-
sätzliche Größenwahn, das majestätische Einstoßen offener
Türen, die feierliche Ankündigung von carmina non prius audita,
das befehlsmäßige Pronunciamiento von Paradoxien und kecken
Einfällen gehört offenbar zu den Stileigentümlichkeiten der
Allgemeines. 283
heutigen deutschen Literatur, auch wenn es sich um Dinge handelt,
die auch ohne diesen Jargon ihrer Wirkung — wenigstens bei
ernsten und sachlichen Denkern — sicher wären. Aber man
nennt das heute „Persönlichkeit", und das deutsche Publikum
verlangt das, so sehr eine feinere Humanität gerade von diesen
schlechten Manieren sich reinigen müßte.
Man muß das sich gefallen lassen und sich an das Tüchtige
halten, an dem es wahrlich nicht fehlt. Der Verfasser hat unge-
wöhnlich viel Geist, Scharfsinn, Wissen und Einfühlungsvermögen.
Der Schwerpunkt liegt offenbar in seinen Forschungen über
Mathematik, Physik und Erkenntnistheorie, wo er zu äußerst
interessanten Ergebnissen kommt: zu einer Theorie der Er-
kenntnisse als von Symbolen, in denen die physische und seelische
Wirklichkeit allein erfaßt werden kann, und in denen das objek-
tive und das anthropologische Element aller Erkenntnis schwer
scheidbar zusammenfließen, deren Zusammendenkung dann aber
den Makrokosmus, das philosophische Weltbild, als Ausdruck einer
inneren logischen Notwendigkeit und einer individuellen Ein-
stellung des Denkers zugleich ergibt. Aber das gehört mehr der
eigentlichen Philosophie an und kann hier nur insofern angedeutet
werden, als eine solche Erkenntnistheorie für die Schätzung des
Individuellen auf dem Gebiete der eigentlichen Historie natur-
gemäß sehr günstig disponiert; jedenfalls habe ich den Ein-
druck, als ob diese Erkenntnistheorie und nicht die historische
Anschauung vom Individuellen selber das Primäre in seinem Denken
gewesen sei. Wo er sich der letzteren nähert, steht daher auch
nicht das Persönlich- Individuelle einzelner Seelen, sondern das
Sachlich- Individuelle großer Kulturkreise und ihrer jedes-
maligen Gesamteinstellung auf Welt und Leben im Vorder-
grunde. Die Einzelseele spielt von Haus aus keine Rolle in
diesem Denken, sondern ist wie bei Hegel das Material, in dem
sich die sachlichen Ideengehalte sozusagen um ihrer selbst
willen ausprägen. Wir haben es insofern trotz aller Skepsis
mit einem sehr starken Begriffsrealismus zu tun. Was nun
aber diese großen Kulturindividualitäten anbetrifft, so stehen
vor seinem Blick nicht weniger als Altertum, Westeuropa oder
moderne, indische und arabische Kultur, wozu etwas in zweiter
Linie chinesische, babylonische und ägyptische hinzukommen.
Unter diesen Umständen fehlt mir natürlich das Wissen, um
284 Literaturbericht.
das Buch in dieser, dem Verfasser wichtigsten Hinsicht zu
kritisieren. Ob er selbst es besaß um es zu schreiben, kann
ich aus dem gleichen Grunde nicht sagen. Jedenfalls zeigt
sich an diesem Punkte einer der erbitterndsten Charakterzüge
des Buches. Eigene Forschungen können natürlich nur zum
kleinsten Teile, wenn überhaupt, zugrunde liegen; es sind natür-
lich Darstellungen und Verarbeitungen benutzt. Aber der
Verfasser gibt keines dieser Werke an und macht damit jede
Kontrolle unmöglich. Einige Quellen erkennt man natürlich:
Strygowsky, Werner Weißbach, Alois Riegl, Worringer, auch
Duhems Forschungen über den Zusammenhang von Mathematik
und Kultur, vielleicht auch Albrecht Dieterichs religionsgeschicht-
liche Studien. Es sind das zum Teil bereits sehr gewagte Syn-
thesen, die der Verfasser noch übersynthesiert hat. Es über-
wiegt kunstgeschichtliche und ästhetisierende Literatur, die
ganz einseitige Neigung, aus Kunstwerken die Geistesgeschichte
und damit die Geschichte überhaupt zu schreiben oder zu
erraten. Ein Satz, wie der „die Seelengeschichte der Säule
ist noch nie erzählt worden**, S. 302, erinnert an schHmmste
Beispiele aus der modernen Kunstliteratur. Daneben stehen
dann wieder sehr eindringende und treffende Analysen, nament-
lich betreffs des Verhältnisses von Antike und Moderne, die
letztere von Karl dem Großen ab gerechnet. Es scheint mir
das Buch überhaupt einigermaßen rasch zusammengeschweißt
zu sein, was glänzende Blicke nicht ausschließt. Die historischen
Einzelbemerkungen erregen durch manchmal offenbare Falsch-
heit oder bloße Behauptung immerhin einen gewissen Ver-
dacht und Schrecken. Ich kann hier die vielen Einzelbeispiele
nicht notieren und verzeichne nur ein paar Beispiele. S. 103
heißt es zum Beweis des Zusammenhangs der modernen Mathe-
matik mit der religiösen Metaphysik des Unendlichen: „Des-
cartes, ein tiefer Geist aus dem Kreise von Port Royal, hat,
einem inneren Bedürfnis folgend, anläßlich seiner philosophisch-
mathematischen Unterweisungen die Pfalzgräfin Elisabeth und
die Königin Christine wieder zum Katholizismus bekehrt";
hier ist jedes Wort einfach falsch. Gleich darauf, S. 107, heißt
es von Alexandria zum Beweis gewisser Wandelungen in der
Mathematik: „Es hört im 2. Jahrhundert n.Chr. auf Welt-
stadt zu sein und wird eine aus der Zeit antiker Zivilisation
Allgemeines. 285
stehengebliebene Häusermasse, in der eine primitiv fühlende^
seelisch anders geartete Bevölkerung wohnt"; woher weiß
der Verfasser das? S. 144: „die geheimnislose, zahlenmäßige
Natur des Aristoteles und Kants, der Sophisten und Darwins,
der modernen Physik gegenüber der erlebten, grenzenlosen,
gefühlten Natur Homers, der Edda, des dorischen und gotischen
Menschen"; das ist doch einfach Phantasie; von dem „zahlen-
mäßigen" Aristoteles sagt er überdies an anderer Stelle, daß
er keine Ahnung von moderner Kausalität gehabt habe! S. 177
eine unmögliche Erklärung der Eleusinischen Mysterien. S. 210
die Bezeichnung Rousseaus und Napoleons als Verwirklicher
der englischen Ideenwelt, eine Behauptung, die dann Paul
Lensch „Am Ausgang der deutschen Sozialdemokratie",
1919, S. 79, mit geschichtsmateriahstischer Umdeutung und
Vergröberung einfach abgeschrieben hat. S. 213 eine Cha-
rakteristik Luthers, die niemand schreiben kann, der seine
Briefe und Schriften einigermaßen kennt. Oder schließlich
recht charakteristisch S. 238: „Als um das Jahr 1000 der Ge-
danke an das Weltende im Abendland sich verbreitete, wurde
die Faustische Seele dieser Landschaft geboren." Das mag
als Beispiel genügen. Aus Kenntnis und Betätigung quellen-
mäßiger Geschichtsforschung ist diese Geschichtstheorie jeden-
falls nicht geboren. Es wimmelt von falschen Angaben, phantasie-
reichen Behauptungen und schiefen Analogien, es fehlt fast
alle kritische Sicherung der Tatsachen und jedes Bedürfnis
danach. Aus diesem Grunde erscheint auch das Buch beim
zweiten Lesen sehr viel unangenehmer, willkürlicher, phan-
tastischer und widerspruchsvoller als beim ersten, wo eine Reihe
bedeutender Gedanken blenden und man über die „Beweise"
leicht hinwegliest.
Mit alledem ist von dem sensationellen Haupttitel noch
gar nicht die Rede gewesen. Er bezeichnet auch in der Tat
nicht den Hauptgegenstand. Der Hauptgegenstand ist eine
philosophische Theorie der Geschichte nach der formellen und
inhaltlichen Seele, eine Methodik der Forschung und eine
Werttheorie der geschichtlichen Gehalte. Aber mit diesen
Untersuchungen beschäftigt, kam der Verfasser in die Atmo-
sphäre des Weltkrieges und wollte ihn aus seiner Geschichts-
philosophie deuten. Er sah in ihm den Übergang der europäi-
Historische Zeitschrift (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd. 19
286 Literaturbericht
sehen Kultur zu ihrem letzten Stadium, zur Vereinigung eines
rechnerisch-kühlen ImperiaHsmus und Kapitalismus mit sozialisti-
scher Organisation, die Parallele zum römischen Imperialismus,
die Ablösung der Kultur durch Zivilisation. Offenbar sah er
in Preußen die Analogie des Römertums und die Überbietung
des englischen Imperialismus zugleich, das dann nach dem
Siege auch den Sozialismus organisieren werde: „die antike
Wirtschaftsgesinnung verleugnet die Zeit, die Zukunft die
Dauer; die abendländische bezieht sie, sei es in der flacheren
englisch-jüdischen Fassung von Malthus, Marx, Bentham, sei
es in der tiefen und zukunftsreichen des preußischen Staats-
gedankens, dessen von Friedrich Wilhelm I. begründeter So-
zialismus noch in diesem Jahrhundert den anderen in sich auf-
nehmen wird*', S. 195. Die allgemeine Einsicht in eine gewisse
geistige Erschöpfung und ökonomisch-rationale Veräußerlichung
Europas hatte ihn — wie so viele vor ihm — mit dem Gedanken
einer Untergangsperiode im allgemeinen vertraut gemacht;
der Weltkrieg schien ihm in Preußen-Deutschland die staats-
soziaHstische Endorganisation einer untergehenden, dem Römer-
tum analogen Welt heraufzuführen, eine zweifellos geistreiche
Idee, die durch den wirklichen Verlauf des Krieges doch nur
teilweise widerlegt ist, wenn sie auch die Anfechtbarkeit der
Theorie des Verfassers deutlich zeigt, daß man vermöge seiner
Lehre die Zukunft endgültig konstruieren könne. Daß er in
der Erarbeitung dieser Idee eine den Leistungen des deutschen
Heeres einigermaßen ebenbürtige Leistung hervorgebracht zu
haben meint, S. VIII, ist ein Teil dieser ganzen Konstruktion.
Die deutsche Tat und der deutsche Geist, die Herbeiführung
des Endzustandes und d^'e Erkenntnis des Endzustandes beides
durch Deutsche: das ist der geheimste Stolz des Buches und
dazu viel zu sagen ist heute nicht mehr nötig. Immerhin
aber mag das zu defi „Zufällen" gehören, die der Verfasser kon-
struiert und die in der Vollendung der großen Tendenzen sich
auch verschieben können. Paul Lensch, der sich überhaupt
auf Spengler ordentlich gestürzt und mit seltsamer Bereitwil-
ligkeit die These von dem Kulturende im Sozialismus über-
nommen hat, hat inzwischen den Spenglerschen Gedankengang
auf einem anderen Wege zu Ende gedichtet, indem er die be-
vorstehende Sozialisierung Englands zum Ausgangspunkt einer
Allgemeines. 287
Endperiode macht, die Amerika, England und Westeuropa als
Abendland endlich vereinigt und beendet („Das Weltreich des
Abendlandes", Neue Rundschau, Juli 1919).
Genug, die wichtigste Erkenntnis und zweifeHos ein alter
und ausgereifter Bestandteil im Denken des Verfassers ist der
Gegensatz des naturwissenschaftlichen, d. h. mathe-
matisch-physikalischen und des historischen Er-
kennens, wie er im Gegensatz des Räumlich-Starren,
Ausgedehnt-Meßbaren und Zeitlos-Allgemeingültigen gegen die
Flüssigkeit, Verschmolzenheit und Einmaligkeit der kontinuier-
hchen Werdezusammenhänge sich äußert. Sp. hebt hervor,
daß das nicht einfach der Gegensatz von Sein und Bewegung
ist, da die Bewegung ja voh der Mechanik räumlich und mathe-
matisch behandelt werden kann. Es ist vielmehr der Gegensatz des
Gewordenen, in räumliche Form und Starrheit Übergegangenen,
zu dem immertätigen Werden selbst, das sich überhaupt nicht
logisch, sondern nur sachlich oder intuitiv erfassen läßt. Somit
tritt der Gegensatz hervor zwischen Gesetz und Gestalt, Kausali-
tät und Originalität, Systematik und Physiognomik, Allgemein-
gültigkeit und Individualität, Kausalerklärung und Schicksal,
Einzelerklärung und Zusammenschau. Damit ist gegeben,
daß die historischen Begriffe nicht ohne Einführung des Unter-
schieds von Unterbewußtsein und wachem Bewußtsein und
nicht ohne die Zugrundelegung eines Begriffes des historischen
Sinnzusammenhanges oder Wertes durchführbar sind, welch
letzterer freilich vom pragmatischen und bewußten ,, Zweck"
sorgfältig unterschieden werden muß. Besonders interessant
sind Sp.s Ausführungen über den Begriff der historischen Zeit,
die nur Mißverständnis mit dem Raum als analoge apriorische
Anschauung verkuppeln könne, die vielmehr durch den Begriff
des Möglichen, der Gerichtetheit und Nicht- Umkehrbarkeit
bestimmt sei und in Wahrheit nur erlebt, nicht begriffen, ge-
messen und konstruiert werden könne. Es sind das heute viel-
fach vertretene Ansichten von größter Bedeutung, die ich auch
meinerseits für schlechthin entscheidend halte. Vieles bleibt
bei Sp. offen oder widerspruchsvoll; bald ist die historische
Erkenntnis völlig überlogisch und rein künstlerisch, bald
spricht er von einer Logik des Organismus und von Gesetzen
des Rhythmus, wie denn in der Tat eine genauere Beschreibung
19*
288 Literaturbericht.
und Normierung des logischen Verfahrens hier möglich sein muß.
Doch kann das hier nicht weiter verfolgt werden.
Der hierbei zugrundegelegte Begriff der Individualität
bezieht sich in erster Linie auf die Individualität der' kollek-
tiven Kulturzusammenhänge. Sp. bestreitet daher jede Mensch-
heitsgeschichte und jeden einheitlichen Fortschritt. Die Uni-
versalgeschichte zerfällt ihm in 7 oder 8 große selbständige und
völlig individuelle, sich gegenseitig kaum verstehende Kultur-
zusammenhänge von jedesmal eigentümlichem „Seelentum"
das sich vom originalen Ursprung bis zum Niedergang als
Ausdruck seiner „Idee" entwickelt. Den Organisationspunkt
jedes solchen Seelentums findet er wesentlich in ästhetisch-
künstlerischen Grundvorstellungen, die ihm — das ist das
Neue — mit dem jeweiligen mathematisch-naturwissenschaft-
lichen Weltbild eng zusammenhängen. Diesen radikalen Unter-
schied und die fast völlige gegenseitige Unverstehbarkeit über-
trägt er auch auf das Verhältnis von Antike und Westeuropa;
alle unsere Beziehungen auf die Antike seien äußerlich technisch
und illusionär. Den Grundgedanken halte ich auch hier für rich-
tig; die ästhetische Einseitigkeit der Konstruktion und den
Gegensatz von Antike und Moderne halte ich — trotz einzel-
ner ausgezeichneter Beobachtungen — für starke Übertreibun-
gen. Im übrigen wäre die Kritik durch einen Mathematiker
sehr erwünscht, soweit die Sätze über die Mathematik in Be-
tracht kommen. Einer unserer bedeutendsten Mathematiker
und Physiker lehnte freilich jede Lektüre ab, als wir ihn um
ein Urteil baten und die Hauptsätze Spenglers andeuteten.
Trotz der gegenseitigen Unverstehbarkeit und der angeb-
lichen Unmöglichkeit logischer Begriffsbildung auf historischem
Gebiet unternimmt nun aber doch Sp. zwischen diesen indi-
viduellen Kulturverläufen einen vollständigen Parallelis-
mus des Verlaufes herzustellen, ähnlich wie Lamprecht
und Breysig, nur aber nicht auf Grund psychologischer Ge-
setze, sondern auf Grund morphologischer Schau, wie man
zoologische oder botanische Entwicklungsstammbäume neben-
einander stellt und die Homologien feststellt. Diese Homologie
wird bei ihnen geradezu zur strengen Gesetzmäßigkeit, gestattet
Erschließung und Rekonstruktion vergessener Perioden und
bei unvollendeten Kulturen die Vorausberechnung ihres Rest-
Allgemeines. 289
Verlaufes, wovon er ja gerade in bezug auf das Abendland
die das Buch betitelnde Anwendung macht. Freilich ist die
Tabelle dieser Stammbäume — ähnliche werden von dem
Wiener „Institut für Kulturforschung" ausgearbeitet — das
schwächste und verwegenste Stück des Buches. Sie ist nach
Frühling, Sommer, Herbst und Winter des jeweiligen Seelen-
tums gegliedert und in jedem dieser Abschnitte mit ziemlich
willkürlichen Unterabschnitten versehen. Besonders auffallend
ist die Behandlung von Spätantike, Christentum, Diokletian,
Justinian, Mohammed usw. als arabisch-magische Kultur und
die völlige Beseitigung der Mittlerstellung des Christentums
zwischen Antike und Moderne, Dinge, die nur möglich sind,
wenn man die spätantike und christliche Literatur nicht kennt
und statt dessen sich an Mosaiken und Kuppelbauten hält.
Aus dem radikalen Individualismus, der Zerteilung der
menschlichen Vernunft in zahlreiche, gänzlich sich fremde
Seelentümer, aus der Zuordnung vor allem auch der verschie-
denen Mathematiken zu verschiedenen Kulturtypen folgt für
Sp. als philosophische Gesamttheorie der Skeptizismus, die
einzige echte Philosophie für tiefe Denker, vor allem für solche
der völlig ausgereiften Verfallsperioden, wie unsere eine ist.
Daß hiergegen alle Argumente gegen die Skepsis sprechen, und
daß er selbst die Einheitlichkeit und Gleichartigkeit der Ver-
nunft in allen seinen Argumentationen sowie in seinem Paral-
lelismus der Entwicklungen voraussetzt, davon soll hier nicht
die Rede sein. Ich hebe nur hervor, daß seine Geschichtsauf-
fassung eben damit „tragisch" wird. „Im Gesetz liegt die Not-
wendigkeit des Mathematischen, im historischen Schicksal die
des Tragischen", S. 223. Man könnte in einem solchen Satze,
mindestens im ersten Teil, die „Skepsis" vermissen. In der
Tat stammt der tragische Charakter, wie einst bei Schelling,
vor allem aus der Vernichtung und Vergleichgültigung des
Einzelindividuums, das nur Material für die Realisation einer
individuellen Kulturidee ist und selber nichts davon hat, um
so mehr als die eigentliche Reife stets nur ganz kurz dauert.
Hier ist der Gegensatz des sonst vielfach verwandten Lotze
und vor allem Goethes selbst, der nicht tragisch sondern gläu-
big war, außerordentlich lehrreich; auch Hegel hat doch die
Persönlichkeit aus der Idee mit eigener innerer Seligkeit erfüllt
290 Literaturbericht.
und ihr sogar die Unsterblichkeit übriggelassen, womit die
Tragik bei ihm ausgeschlossen war. Die Vorliebe für die tra-
gische Weltanschauung ist erst mit Schopenhauer und Hebbel
und dann mit dem modernen Ästhetentum in unser deutsches
Denken gekommen. In Frankreich als sie dem Ausweichen vor
dem Positivismus in den Ästhetizismus gefolgt. In England |
und Amerika ist sie unbekannt. Insbesondere ist es ein inter-
essanter Kontrast, daß das junge Frankreich auf einer Bergson-
schen, Spengler nahe verwandten Grundlage Determinismus
und Ästhetizismus und damit auch die Tragik verabschiedet
hat, wie man aus dem äußerst interessanten Buche von E. R.
Gurtius ,,Die geistigen Wegbereiter des heutigen Frankreich"
1919 ersehen kann. Sie setzen sich auf der gleichen Grundlage
intuitiven Denkens für Freiheit, Schöpfung und Glauben ein,
auf der Sp. für Skepsis, Tragik und Beschaulichkeit plaidiert.
Die Skepsis ihrerseits ist für Sp. das Ende und die Reife der
Philosophie. Eine auf die historische Morphologie begründete ab-
solute Skepsis wird die einzige uns noch übrigbleibende, übrigens
spezifisch-abendländische Philosophie sein, die kein Grieche
verstehen würde und kein Orientale heute versteht. Eben damit
ist aber auch diese Philosophie der Skepsis ein neues Zeugnis
dafür, daß das Abendland in seine letzte, seine Unter-
gangsperiode eingetreten ist. Damit stehen wir wieder bei
der schon berührten Theorie vom Untergang des Abendlandes,
die in Wahrheit so locker begründet ist wie die Theorie der
Skepsis selbst. Weitere Begründungen, wie die Parallele von
Stoizismus, Buddhismus und Sozialismus sind geistreich aber
völlig fragmentarisch.
Ich wiederhole: das Buch ist äußerst interessant und blitzt
von guten Gedanken; es zeigt eine gewisse Größe des Wurfes
und auch der Gesinnung. Es erinnert an Hamann oder Herder,
bisweilen freilich an Chamberlain, den Rembrandt-Deutschen
und Lamprecht. Die Hauptsache an ihm ist aber doch die
symptomatische Bedeutung, die Bezeugung der geistigen
Revolution. Gegen sie ist im allgemeinen nichts einzuwenden,
aber sie trä^t gefährliche Züge. Es wäre lediglich allerschwerster
Verlust, wenn wir den mühsam errungenen kritischen Ratio-
nalismus, das philologische Element, die empirische Exaktheit
und nüchterne Kausalitätsforschung einfach preisgeben wollten.
Allgemeines. 291
um sie dann später mühsam wieder erobern zu müssen oder,
wenn dazu Fähigkeit oder Wille fehlen sollten, in einer erst
geistreichen und dann verworrenen Barbarei unterzugehen.
I Dann wäre das Buch und die von ihm vertretenen Tendenzen
selbst ein aktiver Beitrag zum Untergang des Abendlandes.
Gelingt es dagegen, das Neue mit dem Alten zu verschmelzen,
dann hätten wir wieder für einige Zeit große und frische Auf-
gaben, über denen man die Untergangstheorie auf sich beruhen
lassen und die Welt Gott anheimstellen könnte, wie es Sp.s
Meister, Goethe, auch getan hat.
Berlin. Troeltsch.
I
I^Bas geschichtliche Wesen und Recht der deutschen nationalen
I^K Idee. Von Prof. Dr. Julius Kaerst, Würzburg. München,
HL C. H. Beck. 1916. 61 S.
^V Ich versuche, den Inhalt der kleinen Schrift kurz wiederzu-
geben: der große Kampf, den das deutsche Volk jetzt zu führen
hat, ist ein Kampf um sein geistiges Recht in der Welt (52). Der
besondere geschichtliche Beruf, der dem deutschen Volke ge-
wiesen ist, tritt vor allem in der entscheidenden Rolle zutage,
die das deutsche Wesen in einzelnen schöpferischen Perioden
der neuzeitlichen Kultur gespielt hat (37). Die moderne geschicht-
liche Entwicklung beruht auf der gegenseitigen Durchdringung
von Universalismus und Nationalismus (1). Für die deutsche
Auffassung ist der universale Beruf des deutschen Wesens vor
allem eine sittliche, geschichtliche Aufgabe (21). Die Höhe der
universalen Tendenzen des modernen Europa bringt die Zeit
der Aufklärung (8). Sie ist in ihrem Wesen vornehmlich englisch
und französisch (36), individualistisch, eudämonistisch und, be-
sonders in England, utilitaristisch und positivistisch. Sie wird
überwunden durch den deutschen ethischen Individualismus (15).
Wohl ist auch er weltbürgerlicher Herkunft (17). Aber aus der
weltbürgerlichen Tiefe und Weite der deutschen Kultur ent-
wickelt sich das kraftvolle Bewußtsein eines besonderen natio-
nalen Berufs (20): der Universahsmus wird in inneriichster Weise
mit den Kräften eigenartigen persönlichen und nationalen We-
sens durchdrungen (43).
292 Literaturbericht.
Aus zwei tiefen Wurzeln ist die moderne Kultur erwachsen:
Antike und Christentum. Zwischen ihnen steht das germanische
Element (42), von beiden auf das stärkste beeinflußt. Aber die
hohe Schätzung der Persönlichkeit, die die selbständige Entfal-
tung des deutschen Geistes besonders charakterisiert, hat noch
mehr im Christentum als in der Antike ihr Vorbild (46). Die
Beziehung des modernen deutschen Wesens zur Antike ist durchaus
innerlich (45), aber die Reformation in ihrer Entstehung und ihrer
weiteren Geschichte vorwiegend deutsch (36). So ist es kein
Zufall, daß für die Durchführung des aktiven Charakters der
Religiosität in der Persönlichkeit gerade dem deutschen Geist
eine führende Rolle zugefallen ist (47). Grundsätzlich wird ge-
rade als religiöse Forderung schon in der deutschen Reformation
der selbständige sittliche Beruf des weltlichen, insbesondere
auch des staatlichen Lebens geltend gemacht (50). In dem eigen-
tümlichen Persönlichkeitsideal und der Richtung auf die selb-
ständige innere Entfaltung des nationalen Geistes findet das
moderne deutsche Wesen einen charakteristischen Ausdruck (31).
Dies neudeutsche Persönlichkeitsideal ist durchaus mit dem
Gemeinschaftsgedanken verwachsen (51). Schöpferisches Han-
deln aus dem eigenen Wesen heraus, Selbsttätigkeit und Selbst-
verantwortlichkeit gegenüber den Aufgaben der Gemeinschaft
ist Freiheit (27). Die Tätigkeit in der Welt erscheint uns als be-
sonderer sittlicher Beruf (51), des Einzelnen und der Nation.
Das Recht der Persönlichkeit, sich in voller Einheit und Tiefe
ihres Wesens zu entfalten, wird zu einer Pflicht gegen die Gemein-
schaft (23).
Die Staatsauffassung unserer nationalen Erhebungszeit
zeigt neben dem demokratischen Zug, der Aufklärung und
Weltbürgertum eigen ist, ein entschieden aristokratisches Ele-
ment: die Ausbildung der Persönlichkeit, die Selbständigkeit
der einzelnen Lebenskreise (28). Für jeden wahren Fortschritt
der modernen Menschheit erscheint auch der demokratische Ge-
danke als notwendige Voraussetzung, aber diese Demokratie
empfängt ihr Maß und ihre Regel durch die Idee des geschicht-
lichen Staats und der geschichtlichen nationalen Kultur (59).
Nur insoweit sie dieser Idee dient, hat sie ihr Recht und kann
sie wohltätige Kraft unseres nationalen Lebens werden. Der
demokratische Zug unseres Staatslebens hat sich zunächst in
m
Allgemeines. 293
bestimmten aligemeinen Pflichten der Volksgenossen bezeugt,
d. h. daß auch unsere demokratische Entwicklung von Anfang
an in den Dienst einer starken Staatsidee gestellt ist (60).
Weltweite und Welttiefe der Kultur auf der einen Seite,
Festigkeit des nationalen Wesens anderseits stehen nicht in
Gegensatz zueinander. Die Idee organisierter internationaler
Vereinigung ist nicht bloß Utopie; sie führt zur Schwächung
der geistigen Kraft und Sicherheit nationalen Lebens und ge-
fährdet damit den inneren Reichtum und die Tiefe allgemein
menschlicher Entwicklung (57). Gegenseitige Anpassung be-
deutet einen die nationale Kraft abschließenden Internationalis-
us und ist daher nicht Endzweck geschichtlichen Lebens (57).
nsere Aufgabe ist, der Menschheit durch die Stärkung unseres
eigenen Wesens zu dienen (57). Der schon von Justi verurteilte,
in unsern Tagen des großen Kriegs wieder betonte Gleichgewichts-
gedanke, der an sich etwas Berechtigtes hat, entspricht mehr
einer entweder utopischen oder für bestimmte Machtinteressen
ausgebeuteten Idee europäischer Solidarität, als daß er den ge-
eignetsten Ausdruck der höchsten Bedürfnisse gerade nationaler
Entwicklungen darstellen könnte. Der gegenwärtige Krieg
zeigt die innere Unwahrheit der europäischen SoHdaritätsidee
in greller Beleuchtung (54). Es steht mit den tiefsten Lebens-
trieben unserer Geschichte in Zusammenhang, daß die stärkste
Entfaltung der Machtpolitik im Bismarckschen Zeitalter den
deutschen Staat in bewußter und absichtlicher Beschränkung
auf die Lebensnotwendigkeiten der eigenen Nation gestellt hat
(56). Was unserer Zeit not tut und in ihr sich bereits vollzieht,
ist die innere Verbindung des Bismarckschen staatlichen Geistes
mit dem Geist der vaterländischen Erhebung vor hundert Jahren,
des friderizianisch-preußischen Machtgedankens mit unserer natio-
nalen geistigen Bildung (58).
(Tübingen. K. Jacob.
iitfragen deutscher Nationalerziehung. Sechs Vorlesungen von
Ernst Meumann, herausgegeben von G. Anschütz. Leipzig,
Quelle & Meyer. 1917. 143 S. Geh. 2,60 M., geb. 3,20 M.
Der bekannte verstorbene Begründer der experimentellen
ädagogik hat im Spätjahr 1914 sechs Vorlesungen vor einer
I großen Zuhörerschaft gehalten; jetzt, geraume Zeit nach seinem
294 Literaturbericht.
Tode, werden sie herausgegeben. Meumann beschränkt sich
hier nicht auf Erziehung der Jugend; das ganze Volk vielmehr
ist Gegenstand seiner Sorge, er schreibt über Volkserziehung und
erklärt diese als planmäßige und systematische Organisation der
inneren Kultur des Volkes. Dieses ungeheure Thema schränkt
er dadurch ein, daß er nur von der Erziehung des National-
bewußtseins handelt, nur vom deutschen Volke spricht. Die
Vorlesungen sind durchaus Erzeugnisse der gehobenen und er-
regten Stimmung zu Anfang des Krieges, sie haben damals sicher-
lich gewirkt; es war ein Verdienst, den herrschenden Gefühlen
Ausdruck zu geben und aus der Aufregung des Tages das ange-
spannte Gemeingefühl zum Nachdenken über wichtige Fragen zu
erhöhen. Daß aber diese Vorlesungen jetzt gedruckt werden,
erscheint höchst überflüssig. Sie enthalten nirgends einen Ge-
danken oder auch nur eine Prägung, die über das Bekannte und
oft Gesagte hinausreicht, nirgends eine wissenschaftliche Klärung,
deren doch Begriffe wie Nation, Nationalgefühl usf. gar sehr be-
dürfen, nirgends auch einen großgedachten Vorschlag von be-
sonderer Eigenart oder eine wirklich eingehende Kritik fremder
Vorschläge. Nation und Staatsvolk scheinen sich für M. zu
decken — man ist geradezu erschrocken über die enge Auffassung
des Deutschtums, wenn man (S. 53) G. Keller und C. F. Meyer
als fremdnationale Dichter angeführt liest. Was M. über die
einzelnen Volkscharaktere sagt, geht nirgends über die land-
läufigen Urteile und Vorurteile hinaus. Als Beispiel für seine
Vorschläge sei angeführt, daß er als Mittel der Preßreform fordert,
nur Journalisten, die eine bestimmte politische, nationalökonomi-
sche und historische Vorbildung nachweisen können, sollen das
Recht haben, in die Redaktionen großer Zeitungen einzutreten
(119). Daß M. solche Einfälle in einem Vortrag improvisiert hat,
setzt ihn nicht herab. Manches mag gelegenthch gesagt werden,
was nicht gedruckt zu werden braucht. Die pädagogische Literatur
zumal, überreich an breiten Bettelsuppen, sollte nicht durch solche
Nachlaßpublikationen aufgeschwemmt werden. Die Verlags-
buchhandlung hat dem Buche einen Waschzettel beigegeben,
dessen bombastischen Ungeschmack man sich im Namen des
verdienten Forschers Ernst Meumann verbitten muß.
Frei bürg i. Br. Jonas Cohn.
tf
IT.
Allgemeines. 295
Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog, herausgegeben
von Bettelheim. 18. Bd. Vom 1. Januar bis 31. Dezember
1913. Berlin, Georg Reimer. 1917.
Unter den Toten dieses Bandes bilden die Maler eine be-
sonders zahlreiche Gruppe, neben ihnen Journalisten und andere
Schriftsteller. Unter diesen nehmen Wilhelm Jensen, Adolf
ilbrandt, Ludwig Pietsch, Adolf L'Arronge und andere be-
nnte Namen das Interesse stark in Anspruch und bieten dem
chdenklichen Leser vielfach Gelegenheit zu tieferen Einblicken
die Entwicklung unseres geistigen Lebens im Laufe des letzten
ahrhunderts. Unter den Politikern ist dem Chefredakteur des
ester Lloyd, Max Falk (geb. 1825, gest. 1908), ein sehr ausführ-
her Artikel gewidmet S. 307 — 318. Eduard von Wertheimer
hildert den großen Einfluß und die bedeutenden Verdienste
ieses Mannes mit fast überschwenglichen Worten. „Mancher
hef der jeweiligen ungarischen Regierung zitterte für seine
tellung, wenn Falk ihn in einem geharnischten Artikel angriff,
seiner Redaktion ging es oft wie in einem Ministerrate zu.
ie Hintertür seines Zimmers war eigentlich das Hauptportal,
urch das die ersten Männer Ungarns ein- und ausgingen, um
n wichtigen Konferenzen im Salon neben seinem Bureautisch
ilzunehmen."
Ein breiter Raum wird Bebeis Andenken gewidmet, S. 215
is 229, und der Zufall fügt es, daß seine Biographie zwischen
ei der bedeutendsten Staatsmänner der Neuzeit gesetzt ward,
ischen die österreichischen Minister Unger und Aehrenthal.
ebel begann seine politische Tätigkeit als ein maßvoller Re-
former, bekämpfte 1863 das allgemeine Wahlrecht, weil die Ar-
beiter dafür noch nicht reif seien und im Sommer 1865 sammelte
er noch mit und bei den Nationalliberalen Geld „zur Bekämpfung
des Lassalleanismus**. Bebel wurde dann durch Marx' Schriften
um Sozialisten, aber wer Marx „Kapital" gelesen hat, der wird
verstehen, daß Bebel durch dies Werk mehr erregt und an-
geregt als geklärt werden konnte, denn in diesem Werk ringt
Marx selbst noch sehr mit Tatsachen und Vorurteilen. Unter
em Einfluß dieser mit Hegeischen Schlagworten arbeitenden
tarken Persönlichkeit hat Bebel dann im Strome des Lebens
sein System gewonnen und im Kampf um die Grundgedanken
und die ihm vom Leben und der Lebensnot der Arbeiter aufge-
296 Literaturbericht.
drängten Ansichten hat er dann die Probleme mit seiner Begeiste-
rung und seinen reichen Gaben zu lösen versucht. Das Nürn-
berger Programm von 1868 mit dem Satz: „Die soziale Frage ist
. . . untrennbar von der politischen, ihre Lösung durch diese be-
dingt und nur möglich im demokratischen Staate", ist das Pro-
gramm seines weiteren kampferfüllten Lebens geblieben, *obschon
es gerade die Monarchie war, und zwar das deutsche Königtum,
das die soziale Reform in großem Stile in Angriff nahm, während
die demokratischen Republiken Frankreich, England und Nord-
amerika darin weit zurückblieben. Die Ansichten Bebeis, sowie
die begeisterte und begeisternde Rede des ganz nach Propheten-
art wirkenden Mannes ist in dem Artikel votrefflich geschildert,
in dessen Wesen sich „Revolutionär und Reformer ... in ganz
eigenartiger wenn auch nicht in widerspruchsloser Weise ver-
banden". Bebel erwartete einen Weltkrieg, dessen Elend die
Massen zu der Frage nötigen werde: ,,für wen und für was
denn das alles?" Dann komme der Untergang des Kapitalismus.
Wenn er heute lebte und die Rote Garde wüten sähe, würde ihm
vielleicht auch die Frage kommen, ob sich eine neue Ordnung
auf die aufgelösten Massen des allgemeinen Stimmrechts und des
von aller Zucht befreiten Egoismus werde gründen lassen. Der
Artikel ist von P. Kampffmeyer mit vortrefflicher Kenntnis und
ruhigem UrteU geschrieben.
Voll Begeisterung für seinen Helden hat Egon Zweig den
Artikel über Joseph Unger, den großen Juristen und so klugen
wie hingebend wirkenden und tapfer für seine Überzeugung
kämpfenden Politiker, geschrieben, S. 187 — 215, und doch hat
man den Eindruck, daß dem bedeutenden Manne nur die Ehre
gegeben wird, die ihm gebührt. Unger war 1828 in kleinen Ver-
hältnissen geboren, aber sein Tod 1913 war ein Ereignis, das die
kräftigsten Persönlichkeiten des österreichischen Staatswesens
tief bewegte. Als Gelehrten preist man ihn als den Bahnbrecher
für die neuen Wege, auf denen Österreich sein Rechtsleben von
alten Fesseln befreite, und als Politiker kämpfte er um das hohe
Ziel: „Österreichs Völker zu einem von den Ideen des Rechts
und der Freiheit getragenen Staate zu einigen", wie es Unger
in einer von ihm entworfenen Thronrede aussprach. Sein Kämpfen
war vergebens, 1879 schied er aus dem Ministerium mit den
bitteren Worten: „Das hätte eine Regierung nicht verdient.
Allgemeines. 297
die aus Männern bestand, welche sich nicht ans Portefeuille
kiammern, sondern sehnsüchtig jenen Augenblick erwarten, wo
sie von ihren schwierigen Posten endlich abgelöst werden, die sie
in der Tat nur mit Selbstaufopferung noch inne haben." Wie
haben sich seitdem die Zeiten gewandelt und Österreichs Nöte
erhöht! Ein Programm, wie es Unger vorschwebte, wird jetzt
kein Minister Österreichs mehr aufstellen können: Aber um so
notweridiger ist es, sich die Kämpfe jener Tage und das Wirken
solcher Männer in das Gedächtnis zurückzurufen.
Von Graf Alois Aehrenthal sagt sein Biograph Molden (S. 230
bis 243), er habe als österreichisch-ungarischer Minister vom
24. Oktober 1906 bis zu seinem Tode, 17. Februar 1913, „zum
ersten Male nach einer durch zerrüttende innere Kämpfe ange-
füllten Pause die Monarchie wieder als selbständig handelnde
Person in die Geschichte Europas eingeführt. Seine wichtigste
Tat war die Annexion Bosniens und der Herzegowina, und auch
die Gegner mußten anerkennen, daß er durch seine tapfere Durch-
führung des viel bestrittenen Planes „das Selbstvertrauen (des
Staates) weckte und stärkte, und die Zuversicht, die ihn erfüllte,
auf viele Hunderttausende, die sie schon verloren hatten, über-
trug".
Von den übrigen Artikeln hebe ich noch den von Merkle
verfaßten über den gelehrten und auf vielen Gebieten erfolgreich
wirksamen Dominikaner Heinrich Denifle hervor, sodann die
liebevolle Charakteristik des zuletzt auf den theologischen Kampf-
platz tretenden Juristen Friedrich Thudichum von Professor
Hartmann, 0. Redlichs reichen Artikel über Erzherzog Rainer
von Österreich, den sorgsamen Kurator der Akademie der Wissen-
schaften in Wien, und verweile noch bei den zu früh aus reicher
Forscherarbeit Abberufenen, dem Theologen Kolde und dem
Literarhistoriker Erich Schmidt. Kolde, geb. 1850, gest. 1913,
stammte aus einer schlesischen Theologenfamilie und mußte sich
schwer die wissenschaftliche Muße erkämpfen, um die Forschungen
über Luther und die Reformationszeit durchzuführen, die den
Mittelpunkt seiner Lebensarbeit bildeten. Die Universität Er-
langen, an der Kolde von 1880 bis zu seinem Tode wirkte, hat in
Kolde einen für alle Seiten des Universitätslebens eifrig bemühten
und mit lebendiger Kraft wirkenden Lehrer gehabt. Gegen die
mannigfaltigen Versuche katholischer Schriftsteller, von Majunke
298 Literaturbericht.
bis Denifie, Luthers Bild zu beschmutzen und sein Wirken zu
verkleinern, war Kolde stets rüstig auf dem Kampfplatz. Von
Erich Schmidt (geb. 1853, gest. 1913) entwirft sein begeisterter
Schüler A. v. Weilen ein die Entwicklung des Menschen und des
Gelehrten mit gründlicher Kenntnis gezeichnetes Bild. Führt
aber auch die Liebe die Feder, so ist er doch ein zu getreuer Schüler
des Verehrten, um nicht die Kritik zu üben an den Werken des
Lehrers. Er ist sich dessen bewußt, daß er sonst gegen die ganze
Anschauung Schmidts verstoßen würde. Schmidts Laufbahn
ging im Fluge von Erfolg zu Erfolg, aber wie er über David Strauß,
über Gervinus, über Haym und viele andere doch teilweise recht
einseitige Urteile fällte, so wird schon jetzt seine Art zu urteilen
von manchem guten Kenner verurteilt werden. Vor allem wird
auch die philosophische Grundlage seines Urteils über Wesen und
Bedeutung der literarischen Entwicklung eines Volkes heute von
vielen bemängelt werden, wenn sie sich auch von dem dürftigen
MateriaHsmus der in seines Lehrers Wilhelm Scherer Zeit herr-
schenden Weltanschauung zu befreien begann.
Breslau. G. Kaufmann.
Karl Lampredit, Rektoratserinnerungen. Herausgegeben von
Dr. Arthur Köhler. Gotha, Fr. Andr. Perthes, A.-G. 1917.
Die Betrachtungen beginnen mit einer Schilderung der
äußeren Vorgänge, die Lamprechts Rektoratsjahr einleiteten,
und einiger Repräsentationsreisen nach Christiania und St. An-
drews. Aber sie erheben sich sehr bald zu grundsätzlichen Er-
örterungen von allgemeinen Hochschulfragen, die über den Rahmen
von nur persönlichen Erinnerungen weit hinausgreifen. Der viel-
seitig angeregte, nach organisatorischem Wirken verlangende
Mann hatte Pläne aller Art in der Stille vorbereitet. „Ich trug",
so bekennt er selbst, „in mir all die Sehnsucht, praktisch zu
handeln, die den bis dahin theoretisch tätigen Mann der fünfziger
Jahre kennzeichnen mag, und ich wußte mich im Anfang einer
Amtstätigkeit, die mir nach so vielen Seiten freie Bewegung zu
sichern schien." Ihm erschien das gesamte innere und äußere
Leben der Universität hinter der Entwicklung Deutschlands
zurückgeblieben, ihr geistiger Horizont zu eng geworden, ihre
Organisation (namentlich bei den Geisteswissenschaften) durch
Allgemeines. 299
den arbeitsteiligen Betrieb, in dem keine Einheit oder Synthese
mehr zu gewahren ist, bedroht. Diese Kritik hatte ihn schon
lange zu bestimmten positiven Vorschlägen geführt, die er alsbald
in Wirklichkeit umzusetzen unternahm; denn er faßte sein Amt
nicht nur als einen Repräsentations- oder Verwaltungsposten auf,
sondern hatte, wie er schreibt, „die entschiedene Absicht zu
regieren". Er versuchte — nach seiner Darstellung — , den
internationalen und universellen Zug durch Ausdehnung der
zunächst für Berlin begründeten Einrichtung der Austausch-
professur auf Leipzig zu stärken. Er schuf eine akademische
Auskunftsstelle, er suchte die aus der übergroßen Frequenz sich
ergebenden Universitätsnöte durch weitausholende Erwägungen,
die sich bis zu der durchdachten Idee einer Universitätsstadt
nach amerikanischem Muster erhoben, zu beheben; durch ihn
erhielt die von ihm aufmerksam verfolgte Umbildung des studenti-
schen Lebens in Leipzig eine neue Regelung. Das Wichtigste
aber, was er anstrebte, war eine grundlegende Reform des inneren
Betriebes der Universitäten. Allen Vertretern der Wissenschaft
an den Universitäten, namentlich auch den jüngeren, volle Freiheit
ihres Schaffens zu gewährleisten, um sich uneingezwängt von
allen wissenschaftlichen Lebensgewohnheiten der absterbenden
Generation den großen Aufgaben der Gegenwart zu widmen,
und Mittel zu finden, um die Kluft zwischen dem praktischen
und dem theoretischen Ideal der Universität, zwischen der
Universität als Lehrstätte und als Forschungsstätte, auszufüllen
und damit zugleich auch den Forderungen der Nichtordinarien-
bewegung entgegenzukommen: so umschreibt Lamprecht das
Ziel, das ihn bei seinen Bemühungen einer methodischen Fort-
bildung der Institute im Sinne von Forschungsinstituten in Ver-
bindung mit e'ner Staffelung der Übungen an ihnen geleitet habe.
Offenbar schwebte ihm eine Erweiterung dessen vor, was er in
seinem kultur- und universalgeschichtlichen Institut sich geschaffen
hatte. Freilich ist das von ihm erstrebte einheitliche alle ge-
schichtlichen Wissenschaften umfassende Institut nicht zustande
gekommen. Zwar verstand Lamprecht, beträchtliche Geldmittel
für diesen Zweck flüssig zu machen; aber die Idee des einen In-
stitutes teilte sich in die zahlreicher selbständiger Institute und
auch diese schrumpften schließlich auf die Berechtigung der
Seminardirektoren zusammen, die zugleich als Leiter der ein-
300 Literaturbericht.
zelnen Foschungsinstitute figurieren, eine gewisse Quote der
jährlich verfügbaren Mittel zur freien Unterstützung wissenschaft-
licher Forschungen zu verwenden.
NatürHch ist das Büchlein, das nicht nur Erinnerungen,
sondern auch Zukunftsforderungen gibt, im einzelnen wie im
ganzen stark subjektiv. Bei der Erwähnung von persönlichen
Angelegenheiten hat der Herausgeber sogar eine „schonendere"
Fassung gewählt. Das tatsächlich Berichtete dürfte gewiß der
Ergänzung, vielleicht auch der Berichtigung durch andere Quellen
bedürftig sein. So hat z. B. der Herausgeber eine eingehendere
Schilderung der schweren Krisen, die das Projekt der Forschungs-
institute durchzumachen hatte, im Druck weggelassen, da sie
,,sich für die Veröffentlichung nicht eignet". Gleichwohl ist die
kleine Schrift ein interessanter Beitrag zur deutschen Universitäts-
geschichte und auch zur Würdigung von Lamprechts Persönlich-
keit und Wirken.
Halle a. d. Saale. Frischeisen- Köhler.
Die Abkürzungen in den Kölner Handschriften der Karolingerzeit,
von Hans Foerster. Inauguraldissertation zur Erlangung der
Doktorwürde, genehmigt von der Philosophischen Fakultät
der Friedrich -Wilhelms -Universität zu Bonn. Tübingen,
Druck von H. Laupp jr. 1916. VIII u. 119 S.
Die Untersuchungen, welche Ludwig Traube dem Kürzungs-
wesen der ältesten lateinischen Buchschriften und im besonderen
den Nomina sacra widmete, sind nach seinem Tode von eng-
lischer, italienischer und schweizerischer Seite weitergeführt
worden. Dabei war es namentlich W. M. Lindsay, Professor an
der schottischen Universität St. Andrews, der seit 1908 in den
Veröffentlichungen seiner Hochschule, in den Melanges offerts
ä M. E. Chatelain, in der Revue des bibliotheques und in dem
Zentralblatt für Bibliothekswesen die Entwicklung des Kürzungs-
wesens an verschiedenen Schreibstellen des Festlandes und der
britischen Inseln zunächst einzeln verfolgt und schließHch in
einem eigenen Werke, Notae Latinae (Cambridge 1915), seine
einschlägigen Beobachtungen und Ansichten zusammengefaßt hat.
Auch Foersters Arbeit, die unter beratender Anteilnahme von
W. Levison zustande kam, verdankt einer von Lindsay beein-
flußten Anregung Aloys Schultes ihren Ursprung.
Mittelalter. 301
Die Erhaltung von 19 sicher beglaubigten Kölner Hand-
schriften des 9. Jahrhunderts in der dortigen Dombibliothek
schuf eine günstige Grundlage, von welcher der Verfasser mit
großem Fleiß Gebrauch machte. Seine Mitteilungen über die in
diesem Bestand angetroffenen Kürzungen gehen sehr ins Ein-
zelne, sie beziehen sich z. B. bei dem Zahlwort secundus und
seinen Nebenformen oder bei dem kleinen Wörtchen que (quae)
jedesmal auf mehr als 30 verschiedene Kürzungsarten; und
vielfach ist nicht bloß die Handschrift, in der diese oder jene
Form vorkommt, angegeben, sondern auch die Fundstelle genauer
durch die Blattzahl bezeichnet worden. Als Hauptziel dieser
großen Sammelarbeit scheint dem Verfasser die Beurteilung des
„insularen" Einflusses auf die Kölner Schreibschule vorgeschwebt
zu haben. Er konnte feststellen, daß es nicht so sehr angelsächsi-
scher als irischer Einschlag ist, der sich in den Kölner Hand-
schriften da und dort bemerkbar macht. Die andere Frage,
ob diese Erscheinung durch die benutzten Vorlagen oder durch
die Herkunft der betreffenden Schreibkräfte zu erklären sei,
bleibt offen. Um in dieser Hinsicht weiter zu gelangen, bedürfte
es wohl hauptsächlich genauer Scheidung der Hände und sonstigen
Entstehungsverhältnisse des cöd. 83 H, die man bei F. um so
mehr vermißt, als er in einem anderen Fall, bei dem unter Erz-
bischof Hildebald geschriebenen Psalmenkommentar Augustins,
die Kürzungen aufs genaueste getrennt nach den zehn hieran
beteiligten Schreiberinnen verzeichnet hat.
Gewisse Bedenken erweckt die Einteilung, nach welcher F.
den gesammelten Stoff gliedert. Was er in der ersten Abteilung
unter der Überschrift ,, Zeichen aus den tironischen Noten**
einreiht, berührt sich zwar mit der römischen Kurzschrift, weicht
aber doch zumeist von den in den Commentarii notarum Tironia-
narum überlieferten Formen ab; wollte man deshalb an eine
verlorene Gestalt dieses Lexikons denken, wie ja aus anderen
Gründen Chatelain, Introdudion ä la ledure des notes Tironiennes
S. 117, für Bobbio ein besonderes System der tironischen Schrift
annahm (s. jetzt Mentz im Archiv f. Urkundenforschung 4, 10 ff.;
6, 17), dann ergibt sich vielleicht auch für einige von F. anderswo
eingereihte Kürzungen die Möglichkeit tironischer Herkunft;
in der Tat ist kürzlich Schiaparelli im Archivio storico lialiano,
1914, dafür eingetreten, einige der q- und p-Kürzungen der
Historische Zeitschriff (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd. 20
302 Literaturberichl.
gewöhnlichen Schrift aus tironischer Quelle abzuleiten. Zu
einem Mißverständnis könnte auch die Benennung der zweiten
von F. aufgestellten Gruppe „aus den Notae iuris stammende
Kürzungen" führen. Lindsay hat schon im Zentralblatt 29,
56 ff. die mißbräuchliche Verwendung des Ausdrucks Notae iuris
bekämpft und Steffens, der ihn früher angewandt hatte, ist bei
Behandlung des St. Qaller Materials im Zentralblatt 30, 477ff.
mit Recht davon abgegangen. Den Kölner Schreibern selbst
will F. Beeinflussung durch die Rechtshandschriften oder durch
eines jener sog. Verzeichnisse der Notae iuris allerdings nicht
zumuten; aber auch in bezug auf ihre irischen Lehrmeister, von
denen noch Traube im Neuen Archiv 26, 234ff. annahm, sie
hätten ihre Kürzungsweise mit Hilfe irgendwelcher Verzeichnisse
solcher Art erfunden, bestreitet Lindsay diese Auffassung; nicht
eine bewußte Neuschöpfung sondern nur ein stärkerer, auch auf
Reinschriften ausgedehnter Gebrauch des vordem schon in
Glossen und nichtkalligraphischen Werken vorhandenen Kürzungs-
verfahrens sei ihnen zuzuschreiben. Da F. in diesen Fragen,
deren Lösung ein tiefes Eindringen in Überlieferungsart und Zu-
sammensetzung jener Nö/ö^- Verzeichnisse und in die neue For-
schung über die not. Tir. erforderte, nicht Stellung nimmt, so
würde eine einfachere Einteilung des Stoffes in Wortkürzungen
und Silbenkürzungen und besondere Erörterung der Nomina
Sacra, sowie der technischen und unregelmäßigen Kürzungen
seinem Zweck besser entsprochen haben.
Die Schwierigkeiten der richtigen Anordnung sind indes dem
Verfasser, wie seine Einleitung zeigt, nicht ganz entgangen, und
er hat ihnen durch die angehängte alphabetische Übersicht der
besprochenen Kürzungen in dankenswerter Weise abzuhelfen
gestrebt. Gerade dadurch und auch durch die sorgfältige Bezug-
nahme auf vorangegangene Literatur ist seine Arbeit ein nütz-
licher Behelf und Ausgangspunkt für weitere Studien über das
Kürzungswesen geworden. Solche Untersuchungen liegen freilich
weit ab von den großen Gegenwartsfragen, aber es ist zu begrüßen
und zu wünschen, daß auch die deutsche Forschung an ihnen
Anteil nimmt, und es ist ein denkwürdiges Zeugnis deutschen
Geisteslebens, daß der Verfasser der hier gewürdigten Arbeit,
die auf den Spuren jenes schottischen Gelehrten so ernstlich in
die neuaufgeworfenen Fragen alter internationaler Kultur-
MitteUlter. 303
beziehungen eindringt, bei Versendung seiner Dissertation als
deutscher Reserveoffizier an der Westfront stand.
Graz. W, Erben.
Die karolingische Klosterpolitik und der Niedergang des west-
fränkischen Königtums. Laienäbte und Klosterinhaber. Von
Karl Voigt. (Kirchenrechtliche Abhandlungen, herausg. von
I Ulrich Stutz. 90 u. 91.) Stuttgart, F. Enke. 1917. XIV u.
265 S.
Pöschl (Bischofsgut und Mensa episcopalis 111) hatte bereits
hervorgehoben, daß für die Erstarkung der Laienaristokratie der
Übergang von Reichskirchen in den Besitz weltlicher Großer im
9. Jahrhunderte eine bedeutende Rolle gespielt habe. Behandelte
er vornehmlich die Mediatisierung von Bistümern, so will diese
Arbeit zeigen, wie sich in dieser Hinsicht das Schicksal der Königs-
klöster im westfränkisch-französischen Reiche gestaltet hat.
Die Entwicklung hier geht ja der im ostfränkischen Reiche
nicht nur voraus, sondern übertrifft sie auch an Ausmaß und poli-
tischer Folgewirkung um ein Beträchtliches. Der Verfasser
schildert das Verfahren der Karolinger bei der Besetzung und
Verfügung über die königlichen Eigenklöster. Er meint (S. 60),
auch während der Regierung Ludwigs d. Fr. könne man von
einem wirklichen Überhandnehmen der Vergebung von Klöstern
an weltliche Große nicht sprechen. Zu seiner Zeit hätten die
Dinge im allgemeinen keinen für die kirchlichen Zustände wirk-
lich bedrohlichen Charakter angenommen. Das sei erst unter
Karl d. Kahlen dann eingetreten.
Ich glaube nicht, daß diese Auffassung zutreffend ist. Ver-
fasser stützt seine Anschauung hauptsächlich auf die Klagen der
Synode zu Yütz (844) gegenüber den Söhnen Ludwigs, daß die
Vergebung von Klöstern an Laien der Gewohnheit ,,patrum vestro-
rum seu regum praecedentium" zuwiderlaufe. Ob dies so buch-
stäblich zu nehmen und gerade auch auf Ludwig d. Fr. noch
auszulegen ist? Verfasser muß selbst gestehen, diese günstige
Schilderung des Zustandes in der früheren Zeit habe , »allerdings
nicht ganz den wirklichen Verhältnissen entsprochen." (B. 62)
Tatsächlich befürchtete man damals bereits in kirchlichen Krei-
sen, daß die Laienaristokratie eine allgemeine Säkularisierung des
Kirchengutes beabsichtige, wie der von V. allerdings übersehene
20*
304 Literaturbericht.
Bericht der Vita Walae (11,4) beweist. Ist als Beweggrund für die
Einziehung von Klöstern und ihre Vergebung an Laien, wie der
Verfasser selbst konstatiert (S. 78), die Notwendigkeit anzu-
sehen, den politischen Anhang zu belohnen, dann ist von vorn-
herein sehr wahrscheinlich, daß gerade in der letzten Zeit Lud-
wigs d. Fr., als die Streitigkeiten mit dessen Söhnen das Reich
zerrissen und in Parteiungen spalteten, auch dieser Vorgang
immer mehr in Übung kam. Und zwar nicht nur pro praeterito,
sondern auch pro futuro, d. h. um die politische und militärische
Unterstützung der Großen zu gewinnen, die eigene Partei zu
verstärken. Bald hatten die Großen selbst damit ein Zwangs-
mittel zur Erfüllung ihrer Aspirationen gefunden: sie drohten
mit offenem Abfall, wenn sie die gewünschten Klöster nicht
erhielten (S. 88).
Nach dem Tode Karls d. K. wurde mit den Thronstreitig-
keiten und dem Verfall der königlichen Macht die Zwangslage
des Königs noch ärger (S. 105 f. u. 108 sowie 136).
Im zweiten Teile seiner Untersuchung behandelt V. die
Formen, in denen die westfränkische Laienaristokratie Königs-
klöster besaß (S. 161 ff.). Er unterscheidet wesentlich zwei Arten:
die Großen waren entweder Laienäbte oder aber Inhaber der
Klöster, denen der Abt unterstand. Bei letzterer Form macht
V. einen scharfen Unterschied zwischen der Vergebung zu Benefiz
und der Schenkung zu Eigen auf Lebenszeit. Jedoch ist es nicht
zutreffend, aus den in Königsurkunden gelegentlich auftretenden
Wendungen, daß eine Vergebung y,per nostram largitionent'
erfolgt sei, auf einen Gegensatz zu der ,yper beneficium'' geschehenen
Verleihung zu schließen. Denn der Ausdruck largiri oder largitio
principis ist nicht selten gerade ein terminus technicus für die
Vergebung von königlichen Gütern zu Benefiz. (Vgl. Waitz,.
VG. II, 13, 310 n. 1 u. 2; 311 n. 2; 318 n. 2 u. 3; 319 n. 2;
320 n. 3.)
Daß Übertragungen zu Benefiz gleich auf mehrere Personen
und Generationen „in früherer Zeit nicht vorgekommen" sind,
ist eine recht unbestimmte Behauptung. Was ist unter dieser
„früheren Zeit" zu verstehen? Sollte eine im Vorworte (S. IX)
gemachte Bemerkung, daß die Inhaberschaft des Klosterbesitzes
um die Mitte des 10. Jahrhunderts an Ausbreitung gewann, vom
Verfasser im Sinne jenes Gegensatzes gemeint sein, dann wäre
Mittelalter. 305
die „frühere Zeit" chronologisch entschieden zu weit gefaßt.
Denn solche Benefizien kamen sicher auch im 9. Jahrhundert
schon vor.
Den Hauptwert des Buches erblicke ich in den fleißigen
Zusammenstellungen von Quellenbelegen für die einzelnen
Klöster, aus welchen sich nicht nur die gewaltige Bereicherung
der Laienaristokratie am Kirchengute im westfränkischen Reiche
sinnfällig ergibt, sondern zugleich- auch erklärt, weshalb gerade
dort am Ausgang des 10. Jahrhunderts auf kirchlicher Seite der
Ruf nach Reformen (Clugny!) so lebhaft rege wurde.
Wien. A. Dopsch.
Individuelle Persönlichkeitsschilderung in den deutschen Ge-
schichtswerken des 10. und 11. Jahrhunderts. Von Rudolf
Teuffei. (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters.
Bund der Renaissance. Herausgegeben von Walter Goetz.
Heft 12.) Leipzig und Berlin, B. G. Teubner. 1914. 124 S.
Der Verfasser will „die historischen Quellen des 10. und
"11. Jahrhunderts auf ihren Gehalt an wirkHcher Persönlichkeits-
schilderung durcharbeiten". Die Hauptfrage, die er sich stellt,
ist: „Wieweit sind die deutschen Geschichtschreiber jenes Zeit-
alters fähig gewesen, eine bestimmte Persönlichkeit in ihrer
Eigenart aufzufassen und darzustellen?" Um diese Frage zu
beantworten, will er alle Stellen, die nach seiner Meinung indivi-
duelle Schilderung geben, „wenn auch nicht in absoluter, so doch
in hinreichender Vollständigkeit" sammeln, dabei aber die eigent-
lichen Heiligenlegenden ausschließen. Er teilt seinen Stoff in
die drei großen Gruppen der Annalen (S. 6 — 31), der Bistums-
und Klostergeschichten (S. 32—63) und der Viten (S. 64—123). Die
Bezeichnung „Annalen" für die erste Gruppe, in der als „rein
annalistische" Werke Hermann von Reichenau, Berthold, Bernold
und Thietmar und als Werke „mehr biographischen Charakters"
Widukind, Wipo und Lampert auftreten, ist wenig zutreffend,
und die Anordnung (Thietmar nach Hermann, Berthold und
Bernold, und nach diesen 4 wieder auf den noch älteren Widu-
kind und auf Wipo zurückgreifend), wie auch die Abgrenzung
gegen die beiden anderen Gruppen befriedigt nicht. Auch in-
halthch ist gegen diesen Teil am meisteP einzuwenden. In der
zweiten Gruppe wird mit Recht der Schilderung Adalberts von
306 Literaturbericht.
Hamburg-Bremen durch Adam der größte Raum zugewiesen
(S. 47—57). Der größte und wertvollste Teil, ziemlich die Hälfte
der Schrift, behandelt die eigentlichen Viten, und zwar zunächst
„die Vita nach ihrem formalen Charakter" (wobei an dem Beispiel
der Vita Heinrici IV. der rhetorische Charakter der mittelalter-
lichen Vita und ihr Zusammenhang mit der antiken laudatio
dargelegt und im besonderen sehr hübsch auf Hieronymus epist. 39
Ad Paulam super obitu Blaesillae filiae als Vorbild hingewiesen
wird), sodann „Viten ohne persönüche Züge" und schließlich
„Viten mit persönlicher Färbung" (wobei zu Ruotgers Vita
Brunonis der wichtige Aufsatz von Bernheim in der Zeitschrift
der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 33, Kanonist. Abt. 2
hätte herangezogen werden sollen). Wenn vieles auch in den
„persönlichen" Viten stark „typisch" klingt, so schließt er (S. 123),
dann „beruht das sicherlich in vielen Fällen nicht auf Idealisie-
rung entgegen der Wahrheit, sondern hat seinen Grund in einer
starken Einwirkung des Ideals auf das wirkliche Wesen und
Handeln der betreffenden Persönlichkeiten". „Je weniger die
einzelne Vita persönliche Züge zu berichten weiß, desto mehr
ist Mißtrauen gegenüber ihren ,typischen* Schilderungen am
Platz; und je mehr sich persönliche Züge unter typisch klingenden
finden, desto eher sind auch diese letzteren glaubwürdig." Die
weitverbreitete Meinung, die besonders Lamprecht aufs schärfste
formuliert hat, daß die ganze Geistesverfassung und insbesondere
die Geschichtschreibung des deutschen Mittelalters „typisch"
und dieses gar nicht imstande gewesen sei, Individualitäten zu
verstehen, ist durchaus abzulehnen. „Die Kunst der psychologi-
schen Zergliederung ist naturgemäß noch längst nicht so ausge-
arbeitet wie heutigentags. Ansätze dazu, oft recht achtungswerte,
finden sich aber nicht wenige." „Ein geistig einigermaßen be-
gabter Mann" war „bei genügender Kenntnis der zu schildernden
Persönlichkeit auch in unserer Periode schon recht wohl imstande,
das Wesen dieser Persönlichkeit zu kennzeichnen. Gut be-
obachtete Einzelzüge vollends vermissen wir fast nur in dem
Fall, daß dem Verfasser das nötige Tatsachenmaterial nicht zu
Gebote stand" (S. 124). Teuffei versucht vorurteilsfrei ein
zuverlässiges Bild von dem tatsächlichen Befund zu geben und
hat dieses Ziel trotz Yflanches Schülermäßigen in Fragestellung
und Urteil im ganzen erreicht.. Von den Verirrungen einer
I
l
Mittelalter. 307
tsachenfremden Systematisierung oder einer zum Selbstzweck
gewordenen Quellenkritik gleich weit entfernt, läßt er in an-
sprechender Darstellung die beste Überlieferung so zu uns sprechen,
wie sie vorliegt. Methodisch bedenkUch, aber ohne wesentlichen
Einfluß auf das Ergebnis ist, um von Einzelheiten zu schweigen,
daß moderne Schilderungen von Persönlichkeiten als Bestätigung
für den individuellen Charakter solcher Quellenzeugnisse herange-
zogen werden, auf denen sie selber in der Hauptsache beruhen.
Wesentliche Gesichtspunkte sind jedoch gut und treffend hervor-
gehoben. Gewiß ist es zum guten Teil Selbstverständliches,
das darum aber nicht weniger einmal wieder gesagt werden mußte,
und das hat Teuffei nicht selten gut getan. Seine Arbeit bildet
eine recht erfreuliche Bereicherung unserer quellenkundlichen
Literatur.
Berlin. Adolf Hofmeister.
Deutsch-russische Handelsverträge des Mittelalters. (Abhand-
lungen des Hamburgischen Kolonialinstituts. Bd. 37.) Von
Leopold Carl Goetz. Hamburg, Friederichsen. 1916. XV
u. 394 S.
Von der Geschichte der deutsch-russischen Handels-
beziehungen, deren Gesamtverlauf bis zum Handelsvertrag von
1904 der Verfasser zwar in kühnem Abriß (Berlin 1917) als
Einheit aufgefaßt hat, ist das vorliegende Werk nicht mehr
als die Vorarbeit zum ersten, mittelalterlichen Teil. Schmerz-
lich (besonders bei der gegenwärtigen Unabsehbarkeit größerer
Reihenpublikationen) empfindet der Leser oft die strenge
thematische Beschränkung auf die staatsvertraghchen Rechts-
quellen und ihre textkritische Bereinigung, zumal diese überall
sichtlich auf einer vertieften Erforschung des gesamten, be-
sonders deutschen Urkundenstoffs ruht. Es ist ein im höchsten
Sinn entsagungsvoller Fleiß, der hier auch die Gelegenheiten
zusammenfassender und vergleichender inhaltlicher Übersicht
nicht anders als zur knappsten, alle Farben verschmähenden
Zeichnung benutzt. Diesen Plan einmal vorausgesetzt, scheint
das Verfahren der vielfachen wörtlichen Textwiedergabe, so
daß die Darstellung vollends zum paragraphenweisen Kommentar
wird, durchaus angemessen und hätte vielleicht sogar noch
^8 Literaturbericht.
ausgedehnt werden können, z. B. auf die wichtigsten späteren
Verträge.
Das Buch gliedert sich einfach in die beiden großen Gebiete
des deutsch-russischen Handelsverkehrs, das Novgoroder und
das des Dünalands. Für jenes lieferte die allgemeine deutsche
und russische Literatur zur Geschichte der Hanse und Novgorods,
für das zweite namentlich die Stadtgeschichte des beherrschenden
Riga wertvolle Bausteine, darunter auch editorisch so bedeutende
wie Schlüters 1914 abgeschlossene große Ausgabe der Nov-
goroder Schra, Napiersky-Kuniks Russisch-Livländische Ur-
kunden und Vladimirskij-Budanovs Chrestomatie. Aus Goetzens
Ausgabe der altrussischen Kirchenrechtsdenkmäler und der
Rußkaja Pavda ist bekannt, wie er solchen Stoff zu sammeln
und zu durchdringen weiß. Auch hier leistet ihm dabei die
Rechtsvergleichung mit den verwandten deutschen und russi-
schen Quellenkreisen, aber ebenso mit einzelnen nur sachlich
übereinstimmenden Verhältnissen des hansischen Handels-
rechts, in erster Reihe dem allgemeinen Gästerecht, die besten
Dienste. Hauptabschnitte wie der über das Abkommen zwischen
Riga und Smolensk 1229, den wichtigsten deutsch-russischen
Handelsvertrag des Mittelalters (S. 304), zeigen die Fruchtbar-
keit der Methode sowohl für das äußere und innere Entstehungs-
bild der Urkunden als für ihr materielles Verständnis (s. etwa
das scharfsinnige Kriterium für die Trennung der Einzelbestim-
mungen, S. 236 n. 3). Etwas äußerlich-chronologisch erscheint
mir nur die Unterscheidung der zwei zeitlich aufeinander folgen-
den Gruppen von Grund- und Sonderverträgen in beiden
Handelsgebieten. Einmal ging ja den ersten bekannten Grund-
verträgen von 1189 und 1229 nicht nur wie in Novgorod ver-
mutlich ein durch Übung gefestigter gewohnheitsrechtlicher
Zustand voraus (auch ich möchte dem mir staryj, S. 16, diesen
Sinn geben), sondern daneben wie in Novgorod fallweise eine
Mehrheit zum Teil ganz besonderer Verabredungen (§ 37).
Sodann aber ist es doch auch in den späteren Jahrhunderten
trotz allen Widerstrebens der Russen gegen die ihre Handels-
entwicklung hemmenden längeren und grundsätzlichen Bindun-
gen hier wie dort zu so epochalen Neuregelungen gekommen
wie denen des Nieburfriedens von Novgorod 1392 und des Ko-
pussavertrags zwischen Riga und Polock 1406.
Mittelalter. 309
Jede Einzelkritik an einer solchen kommentatorischen Lei-
stung läuft Gefahr in Kleinigkeiten zu kramen oder vom Ver-
fasser schon bedachte Einwände zu wiederholen. Auf diese
Gefahr hin möchte ich mir nur die folgenden wenigen Bemer-
kungen erlauben. Ob wirklich die „Brücke" (Brügge, pons)
vor dem gotischen Gildehof in Novgorod keine , »eigentliche
Brücke" (S. 160), sondern nur ein Holzpflaster war? Ihre
Zerstörung durch die Russen und deren strafbares Stehen
darauf (S. 126) würde wohl auf mehr schließen lassen, jeden-
falls auf eine zugleich für die Absonderung von und Verbindung
mit der Umgebung wichtige Vorkehrung. Es wäre auch an
die „Deutsche Brücke" in Bergen und den Ortsnamen Brügge
zu erinnern (vgl. Häpke, Brügge 11 n.). Die „Älterleute aus der
St. Michaelstraße" in Novgorod (S. 182) sind jedenfalls die des
einen von den fünf „Vierteln" der Stadt (S. 193 n. 1). Die
bemerkenswerte Bestimmung der Einfuhrfreiheit in Nr. 28
bis 30 des Smolensker Vertrags von 1229 (S. 282f.) bezeichnet
gegenüber den Novgoroder Einfuhrzöllen die typische Haltung
des Ausfuhr- (Sombart würde sagen „Boden-") Landes, das
den Handelsverkehr hauptsächlich noch in umgekehrter Rich-
tung besteuern kann wie die Stadt oder das entwickeltere
Territorium, die gerne aus- und ungern einführen; bei der Gold-
und Silbereinfuhr ist natürlich (S. 284) deutsche Einfuhr nach
Smolensk ganz besonders willkommen. Das 1189 und 1268f.
in Novgorod, 1229 in Smolensk vorkommende Los zwischen
entgegenstehenden nationalen Zeugengruppen (S. 39ff., 142f.,
250) ist ein sehr merkwürdiger Fall des Losordals, der auch
mit der Vierzahl an anderweitig bekannte deutsch-rechtliche
und altrussische Eideshilfen und Zeugnisse anklingt (vgl. Brink-
mann, Hist. Vjs. 18, 64 n. 75).
Der Vorbehalt bezüglich der Fürstenbrüder in Nr. 24 des
Smolensker Erneuerungsvertrags von 1250 (S. 319f.) betrifft
wohl weder Handels- noch Besuchsreisen, sondern die gewöhn-
liche Gastung der ambulierenden mittelalterlichen Hofhalte
und gibt einen seltenen Einblick in das Verhältnis dieser Tat-
sächlichkeit zum Fürstenfrieden. Von Druckfehlern in den
russischen Texten sind mir nur zwei störende aufgefallen:
S. 235, Z. 12 und 11 v. u., muß mit Azbych'm ein neuer Ab-
satz, mit Togo kein neuer Satz anfangen; S. 308, Z. 2 v. u.,
310 Literaturbericht. '■
steht ddlzen statt dlzen. In einem der russischen Forschung
so nahestehenden Werk wären wohl russische Titel besser in
russischer Sprache angeführt worden.
Berlin. C. Brinkmann.
Korrespondenzen österreichischer Herrscher. Die Korrespondenz
Maximilians II. 1. Bd. : Familienkorrespondenz 1564 Juli 26
bis 1566 August 11. Herausgegeben von Viktor Bibl. (Ver-
öffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte
Österreichs.) Wien, Holzhausen. 1916. XXXIX u. 643 S.
Die Kommission für neuere Geschichte Österreichs hat be-
schlossen, die Korrespondenzen der österreichischen Herrscher
herauszugeben und unter diesen wieder mit einer gesonderten
Abteilung Familienkorrespondenzen den Anfang gemacht. Man
begreift diesen Entschluß. Die Politik der Habsburger war mit
Ausnahme der großen Herrscher des 18. Jahrhunderts weit mehr
eine dynastische als eine staatHche. Die Habsburger sind darin
den anderen deutschen Dynastien sicherlich über gewesen. Daher
haben sie es wohl verstanden eine Hausmacht, aber keinen
Staat zusammenzuzimmern. Allerdings hat die ihnen zugefallene
Aufgabe an Schwierigkeiten die in den anderen Territorien vor-
handenen Probleme unvergleichbar überwogen und ist vielleicht
überhaupt zuletzt unlösbar gewesen. Dieses dynastische Interesse
hat auch lange die Forschung beherrscht, bis mit dem eingehen-
deren Betrieb der österreichischen Reichsgeschichte die politische
Anschauung in den Vordergrund getreten ist. Noch ein Beweg-
grund war für die Kommission maßgebend. Sie begann mit der
Ausgabe der Korrespondenzen Ferdinands I. Nun ist der Erz-
herzog besonders in seinen Anfängen in der Tat nicht viel mehr
als das Werkzeug Karls V. gewesen. Der Briefwechsel mit dem
Kaiser, mit Ferdinands Tante Margarete und dann mit der
Schwester Marie als Königin von Ungarn und in der Folge als
Statthalterin der Niederlande ist nicht nur an Zahl der gewech-
selten Briefe sehr ausgedehnt, er stellt auch in einem Ausschnitt
die Wechselbeziehungen der kaiserlichen spanisch-niederländischen
PoHtik mit der österreichischen Ferdinands und dessen Verhältnis
zu Ungarn dar. Hier lagen zwei wohlgeschlossene Gruppen vor.
Das alles trifft für Maximilian II. nicht zu. Der Umkreis seiner
1
16; Jahrhundert. 311
Familie ist dank seiner drei Brüder und der zahlreichen Schwäger
und Schwiegersöhne ein großer geworden. Aber eine regere Kor-
respondenz entspann sich nur mit des Kaisers Brüdern und Her-
zog Albrecht von Bayern. Wohl hat auch König Philipp von
Spanien die gemeinsamen Interessen betont und den Kaiser für
seine besonderen Ziele einspannen wollen. Aber vertraut waren
die beiden nicht miteinander, ja Philipp hat nicht selten in seiner
Art ein doppeltes Spiel auch mit Maximilian gespielt und des
Kaisers Absichten und Interessen durchkreuzt. Zudem war
dieser Briefwechsel kein reger. Ebensowenig der mit dem König
von Polen, der sich im wesentlichen um die Eheirrungen des
Königs mit Maximilians Schwester dreht. Die Briefe aber der
italienischen Schwäger und Schwiegersöhne bestehen zum guten
Teil aus schönen Phrasen, und Ferdinands Briefe an sie sind
Pumpversuche, wie sie auch bei andern Fürsten und Städten
gemacht wurden, von denen man nicht versteht, warum sie
fehlen, bloß aus dem Grunde, weil die Empfänger mit dem Kaiser
nicht verwandt oder verschwägert waren. So ist die Auswahl
unter dem Gesichtspunkt der Verwandtschaft eine willkürliche
und zufällige. Wie bereits der Herausgeber der Familienkorre-
spondenz Ferdinands I. bemerkt hat, sind es selten vertrauliche
Briefe, die zum Abdruck gelangen. Das gilt auch für diesen Band.
Die Briefe zerfallen in zwei Gruppen: die meist eigenhändigen
Handbriefe und die Kanzleibriefe, die sich schon durch die offi-
ziellen Titulaturen als solche kennzeichnen. Jene sind in der
Minderheit, diese weitaus in der Mehrheit. Oft wird berichtet,
daß die Konzepte im geheimen Rate zustande gekommen sind.
So manche stammen aus dem Hofkriegsrat oder anderen Be-
hörden. Auch diese Kanzleibriefe sind Bestandteile der Korre-
spondenz des Herrschers, denn diese ist damals noch sehr aus-
gebreitet. Es ist nämlich üblich, daß z. B. die Gesandten oder
Behörden ihre Berichte an den Herrscher senden und dieser wieder
in seinem Namen Weisungen ergehen läßt. Aber einen persön-
lichen Anteil hat der Herrscher daran nur insoweit, als er das
Konzept biUigt oder ändern läßt und die Reinschrift unterschreibt.
Die Handbriefe sind vertraulich und als eigene Meinungsäußerung
des Herrschers zu betrachten. Dahin gehören die meisten Stücke
des Briefwechsels mit Herzog Albrecht von Bayern, besonc'ers
die so interessanten, allerdings schon gedruckten Nr. 470, 474,
312 Literaturbericht. 1^
484 über die Haltung des Kaisers gegen die protestantischen
Reichsstände. Bei den Kanzleibriefen fehlt jeder innere Grund,
sie von der übrigen politischen Korrespondenz abzusondern,
bloß weil sie an Verwandte gerichtet sind, oder davon einlaufen.
Als roter Faden durchzieht den vorliegenden Band der drohende
Türkenkrieg, für dessen Entstehung und Vorbereitung sehr wert-
volles Material vorgelegt wird. Aber es kann nicht verschwiegen
werden, daß die in den Anmerkungen hier und anderwärts mit-
geteilten Auszüge aus den Gesandtenberichten und Briefen und
Gutachten des Lazarus Schwendi und anderer an Interesse die
langatmigen Paraphrasen des Kaisers und die Ratschläge seiner
Brüder weit überragen. NatürHch ist dies nicht Schuld des Her-
ausgebers, der sich an ein festes Programm zu halten hatte. Wir
hoffen, daß die Kommission die Familienkorrespondenz mit
Maximilian II. abschließen wird, dafür wünschen wir eine poli-
tische Korrespondenz zu erhalten, die uns überall die ursprüng-
lichsten Quellen, soweit sie von Bedeutung sind, in stark zusammen-
gedrängter Form bietet. Daneben könnten vertrauliche Brief-
wechsel sehr wohl zur Ausgabe gelangen. Aber dann geschlossen
und nicht zerrissen. Briefwechsel sind nicht streng chronologisch
aufgelöst ineinander zu schachteln, sie sind weder ein Regesten-
werk, noch ein Urkundenbuch. Vielleicht wäre es rationeller
gewesen, die so wichtigen Protokolle des geheimen Rates zur
Grundlage zu nehmen, und um sie die Korrespondenzen zu
gruppieren.
In einem Punkte sind wir dem Herausgeber sehr zu Dank
verpflichtet, er hat die meisten der unzähligen Empfehlungs-
schreiben weggelassen und auch sonst stark gekürzt. Nur hätte
er noch weiter gehen können. In leicht zugänglichen Samm-
lungen Gedrucktes nochmals abzudrucken, ist Raumverschwen-
dung. Mag der Wiederabdruck des Briefwechsels mit Herzog
Albrecht von Bayern noch angehen, da der Druck bei Freiberg
sehr fehlerhaft ist, so ist er kaum gerechtfertigt bei den von
Weiß, Papiers d'Etat aus der Korrespondenz Granvella mit-
geteilten Stücken. Hier würden Kollationen, wie dies Susta in
seiner Ausgabe: Die römische Kurie und das Konzil von Trient
gemacht hat, vollständig genügen. Auch sonst fehlt es nicht an
Wiederholungen. Das Kanzleischreiben Nr. 173 z. B. setzt auf
fast vier Druckseiten auseinander, was in Handbrief Nr. 175
i
18. Jahrhundert. 313
auf etwas mehr wie einer halben Seite gesagt wird. Manches
auch ist recht unbedeutend wie Nr. 35.
Neben dem Türkenkrieg und den polnischen Ehewirren sind
es die Heiratspläne Maximilians mit England und Frankreich,
diese nicht ohne politische Bedeutung wegen der Absicht, die
Bistümer Metz, Toul und Verdun zurückzugewinnen und Frank-
reich vom Bündnis mit der Pforte abzuziehen, die Teilung der
väterlichen Erbschaft, die Grumbachschen Händel und andere
Wirrungen im Reiche, die Bewegung in den Niederlanden, die
Streitigkeiten wegen Finale, die Papstwahl, das Verhältnis zu
Venedig, das den Antrag stellte, Triest und Görz zu kaufen usw.,
die in unseren Briefen einen Niederschlag gefunden haben.
Schließlich sei der Sorgfalt des Herausgebers alle Anerken-
nung gezollt. Ein reiches Aktenmaterial ist in den Bemerkungen
verarbeitet, die den einzelnen Stücken beigefügt sind. Es ist
schon erwähnt worden, daß zum Teil der Hauptwert der Aus-
gabe hierin gesucht werden muß. Und so schließen wir mit
Dank für den Herausgeber und sehen mit Erwartung dem kom-
menden Bande entgegen, für den der Herausgeber auch den Ab-
druck des Tagebuches des Kaisers von seinem ungarischen Kriegs-
zuge in Aussicht stellt.
Wien. H. v. Voltelini.
Dr. Johann Wilhelm von Archenholtz. Ein deutscher Schrift-
steller zur Zeit der französischen Revolution und Napo-
leons (1741— 1812). Von Friedrich Ruof. (Historische Studien,
Heft 131.) Berlin, Emil Ehering. 1915. XVII u. 149 S.
Archenholtz ist noch heute vor allem als Verfasser der Ge-
schichte des Siebenjährigen Kriegs bekannt und gelesen. Viele
von uns werden in ihrer Jugend aus diesem Buche in der Aus-
gabe von Potthast ihre erste Kenntnis von jenem großen Kampfe
und vom Großen König gewonnen haben. Ruof beschäftigt
sich allerdings wie mit den meisten anderen Schriften Archenholtz'
so auch mit diesem Werke nur nebenher, ohne auf die Quellen
und den Wert der Darstellung kritisch einzugehen. Den wenig
bekannten und zum Teil umstrittenen und unsicheren Lebens-
verhältnissen Archenholtz' und seinen weitverzweigten persön-
lichen Beziehungen, zum Teil zu bedeutenden Männern im literari-
schen Leben jener Tage ist R. unter sorgfältiger Ausnutzung
314 Litcraturbericht.
von Archenholtz' Schriften, seiner erhaltenen Papiere und einer
recht umfassenden Heranziehung meist gedruckter Literatur
umsichtig nachgegangen. In der Hauptsache behandelt R.
— seinem Plan gemäß — die schriftstellerische, speziell die
politisch7publizistische Tätigkeit von Archenholtz. Dabei steht
natürlich die „Minerva" in erster Linie. Denn auf die Darstel-
lung der politischen Ansichten Archenholtz' seit dem Ausbruch
der Revolution wollte R. das Hauptgewicht legen. Und die Schilde-
rung von Archenholtz' Stellungnahme zu den großen Weltbegeben-
heiten in ihrer Wandlung und Entwicklung ist ihm im großen und
ganzen wohl gelungen. Auch in kritischen Einzelfragen zeigt
sich ein verständiges Urteil. Erfreulich ist, daß R. sich der Grenze
von Archenholtz' Bedeutung überall bewußt bleibt und von jeder
übertriebenen biographischen Verherrlichung seiner Leistungen
fernhält. Wenig befriedigend ist nur, schon in seiner Kürze, der
zweite Abschnitt, der zwar eine Zusammenstellung von Archen-
holtz' Werken gibt, aber nicht den Anspruch auf ihre Würdigung
erheben kann. In dem reichen Literaturverzeichnis fällt auf,
daß einige Bücher in älteren Auflagen benutzt sind, u. a. Goedeke.
Es fehlt die Arbeit von Stroh (Hist. Studien 121), Das Verhältnis
zwischen Frankreich und England in den Jahren 1801 — 1803
im Urteil der pohtischen Literatur Deutschlands, das dem Ver-
fasser vielleicht noch nicht vorgelegen hatte. Auch wäre wohl
zu erwähnen gewesen, daß Clausewitz drei „Historische Briefe
über die großen Kriegsereignisse 1806" in den Jahrgang 1807
der Minerva geschrieben hat, s. Linnebach, Karl und Marie von
Clausewitz 1916, S. 90, und Schwartz, Das Leben des Generals
V. Clausewitz II, 461 ff.
Tübingen. K. Jacob.
Niederdeutsches Schulwesen zur Zeit der französisch-westfäli-
schen Herrschaft 1803 — 1813. Von Karl Knoke. {Monu-
menta Germaniae Paedagogica, Bd. LIV.) Berlin, Weid-
mannsche Buchhandlung. 1915. 431 S. UM.
Der erste Teil dieser aus archivalischen Quellen schöpfenden
Arbeit beschäftigt sich mit den Universitäten des Königreichs
Westfalen, vor allem mit Göttingen, daneben mit Halle, Mar-
burg, Helmstedt, Rinteln; der zweite gilt dem Schulwesen aller
Zweige und der Lehrerbildung. Der Verfasser kommt zu dem
19. Jahrhundert. 315
Ergebnis, daß diese Zeit, in der das Schulwesen der okkupierten
westfälischen Landesteile erst unter der Generaldirektion von
Johannes v. Müller, dann unter der des Barons v. Leist stand,
erheblich günstiger beurteilt werden müsse, als es bisher ge-
schehen ist.
Die Georgia Augusta steht im Vordergrund. Ihre Einschrän-
kung durch die konzentrierte napoleonische Staatsidee wird auf
den einzelnen Gebieten verfolgt: Verlust des Steuerprivilegs,
Einengung der akademischen Gerichtsbarkeit, Verbot der ge-
heimen „Orden" und Landsmannschaften (hierbei eine Ver-
ständigung einzelner Regierungen, die als ein Vorbote der Karls-
bader Beschlüsse angesehen werden kann). Die politische Stel-
lung der Professoren beleuchtet u. a. charakteristisch ein Pro-
logium von Heyne 1807/08 über den rechten Kosmopolitismus
(S. 127/8). Zum größeren Teile fanden sie sich mit Jerome ab,
während die Studenten gelegentlich demonstrierten. Doch be-
stand für Preußen und seinen Kampf noch 1812 keine Sympathie.
— Der König stand zunächst auf dem Standpunkt: „Alle eure
Universitäten taugen nichts; ich werde sie alle verbrennen; ich
will nur Soldaten und Ignoranten." Doch wurde durch Job.
v. Müller, Charles de Villers und Leist ein Umschwung bewirkt.
Nur Helmstedt und Rinteln wurden durch das Dekret vom
10. Dezember 1809 aufgehoben. Die andern drei blieben be-
stehen, und besonders Göttingen hatte si?n infolgedessen größerer
Pflege zu erfreuen, die auch in den Vorschlägen Leists für neue
Berufungen (Savigny, Thibaut, Zachariae) zum Ausdruck kommt.
Für das Schulwesen scheint Müller einen großen, einheit-
lichen Plan ins Auge gefaßt zu haben, der aber infolge seines
Todes nicht zustande kam. Leist nahm die Neuordnung in An-
griff. Über den Zustand des öffentlichen höheren Schulwesens
in Hannover gibt der wichtige, bisher zu wenig beachtete
Bericht von Cuvier-Noel (13. Dezember 1810), ein Gegenstück
zu der Schrift von Villers über die Universitäten, wertvolle Nach-
richten. Zeitweise wurde von der französischen Regierung auch
die Aufhebung einiger Gymnasien geplant. 1812 wurde in Kassel
ein Lyzeum errichtet, offenbar nach dem Muster der stark realisti-
schen französischen Anstalten dieses Namens. Aus den Mit-
teilungen über das Volksschulwesen und über die Seminare, für
die die Hannoversche Seminarschule Vorbild war, geht hervor,
316 Literaturbericht.
daß beide in großem Umfange schon von der Auf klärungspädagogilc
durchdrungen waren. Doch hat die französische Regierung für
dieses Gebiet wenig getan. Den Schluß bildet eine eingehende
Darstellung des jüdischen Schulwesens mit Seitenblicken auf das
Großherzogtum Frankfurt.
Die Schrift bringt außerordentlich viel Wertvolles und
Neues über einen politisch und pädagogisch höchst wichtigen
Zeitabschnitt. Um so mehr ist zu bedauern, daß der verehrte
Forscher die verfassungsgeschichtliche und ideengeschichtliche
Einordnung nicht eigentlich vollzogen hat. Nicht einmal die
Werke von Ernst v. Meier werden erwähnt. Im ersten Teil ver-
mißt man ein Eingehen auf die Unterschiede der französischen
und deutschen Auffassung von den Universitäten, wozu auch
durch die Schrift von Villers und die vorangehende und folgende
literarische Aussprache dringender Anlaß gegeben war. Aus den
Forschungen von Heubaum ergibt sich, daß auch in Deutschland
gewisse Kreise an die Aufhebung der Universitäten gedacht
hatten, wodurch der Vorgang in Westfalen ein anderes Gesicht
erhält. Im zweiten Teil werden zwar die Universite imperiale
und die französischen Unterrichtsgesetze von 1802, 1808 und
1811 (S. 208) berührt; aber der Einfluß des französischen Unter-
richtswesens, das Louis Liard in seinem Buch „Venseignement
superieur en France'*, 2 Bde., Paris 1888, so zugänglich darge-
stellt hat, tritt nicht klar zutage. Sonst müßte z. B. bei der
Begründung der Militärschule in Kassel auf die Ecole polytech-
nique und die durch sie beeinflußten französischen Artillerie-
schulen verwiesen werden, bei der Begründung des Kasseler
Lyzeums der französische Realismus dem deutschen Neuhuma-
nismus gegenüber gestellt werden. Auch Parallelen mit Preußen
wären fruchtbar gewesen: Bei dem Brief des Generaldirektors
Leist vom 13. Oktober 1812 über die geplante Einführung des
Abiturientenexamens verweist der Verfasser zwar auf das preu-
ßische Reglement von 1788, erwähnt aber mit keinem Wort das
neuere preußische Edikt vom 25. Juni 1812, das gerade am
12. Oktober Gesetzeskraft erhalten hatte. Endlich wären viel-
leicht auch Selbstbiographien wie z. B. die von Steffens (für
die Universität Halle) und von K. Ph. Moritz (für die Seminar-
schule in Hannover) ergiebig gewesen. — Wennschon also im
vorliegenden Falle noch einiges zu tun bleibt, um über die bis-
19. Jahrhundert. 317
her überwiegende philologische Methode der Erziehungsgeschichte
hinauszukommen, so müssen wir doch für das neu erschlossene
Material dankbar sein, das nicht zuletzt auch der Kenntnis der
damals verbreiteten Schulbücher zugute kommt.
Leipzig. Eduard Spranger,
Clemens Brentano und die Brüder Grimm. Von Reinhold Steig.
Mit Brentanos Bildnis. Stuttgart und Berlin, Cotta. 1914.
291 S. 5 M.
Reinhold Steig, der am 13. März 1918 60jährig verstorben
ist, hat als Beauftragter und Erbe Herman Grimms ein gut Teil
seines Lebens und seiner hingebenden Arbeit an das umfangreiche
Briefwerk „Achim von Arnim und die ihm nahe standen" ge-
wendet. Das Urteil darüber steht längst fest: das Material ist
äußerst wertvoll, und es ist mit Sachkunde geordnet und erläutert,
aber die Verarbeitung unterliegt schweren Bedenken; die Briefe
sind nicht als zuverlässige Urkunden für sich gegeben, sondern
in einer willkürlichen Redaktion der breitspurigen Paraphrase
des Textes eingereiht, wo sie dann wieder in unschöner Weise
durch eingeklammerte Anmerkungen unterbrochen werden.
Das Bild Arnims und seines Freundeskreises stand für Herman
Grimm von vornherein in der Form fest, in der es dem deutschen
Volke „dokumentarisch" überliefert werden sollte, und nach dieser
Richtschnur hat St. gehandelt.
Nachdem das Arnim-Werk mit drei Bänden und über 1400
engbedruckten Seiten (1913) abgeschlossen schien, wirkt die vor-
liegende Publikation wie ein Nachtrag zu dem 1904 erschienenen
Bd. II („Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm"),
der etwas gewaltsam und nicht ohne vielfältige Wiederholungen
aus jenem zu Bandstärke aufgeschwellt ist. Denn die Beziehungen
Brentanos zu Jakob und Wilhelm Grimm, obwohl sie sich über
die Jahre 1803 — 1831 erstrecken (länger dauern die zu dem Maler
und Radierer Ludwig Grimm), sind doch nur kurze Zeit anhaltend
lebhaft gewesen: ihre Darstellung unter vollständiger Mitteilung
der Briefurkunden würde ein bescheidenes Heft anmutig ausge-
füllt haben, am besten und natürlichsten aber wäre sie mit dem
Arnim- Grimm-Bande verbunden worden, da es sich vorwiegend um
Dinge handelt, die auch Arnim angehen, wie das Wunderhorn,
die Gräfin Dolores, die Märchen. Tatsächlich sind denn auch die
Historische Zeitschrift (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd. 21
318 Literaturbericht.
meisten Briefe dort bereits verwertet oder auszugsweise mit-
geteilt, anderes hat St. nebenher und inzwischen an verschiedenen
Stellen bekanntgegeben, aber es bleiben doch immer als Ganzes
eine Anzahl Prachtstücke von Briefen Brentanos an die „lieben
Grimmigen", die „geliebten Doppelhaken" übrig, so S. 15 und 18
(Heidelberg 1808), S. 25 (München und Landshut 1808), S. 32
(Landshut 1808), S. 48 (München 1809) und vor allem die Berliner
Briefe S. 84ff. (Februar 1810) und S. 123 ff. (November 1810).
Die Briefe des hessischen Brüderpaars entfalten wieder ihre
wohlbekannten und nie ermüdenden Reize, und mit besonderem
Interesse begrüßt man die auf Clemens Brentanos Antrieb von
Jacob 1811 abgefaßte „Aufforderung an die gesamten Freunde
deutscher Poesie und Geschichte" zur Gewinnung von volks-
tümlichen Oberlieferungen, die in einem „Altdeutschen Sammler"
vereinigt werden sollten. Der Plan ist damals nicht zur Ausführung
gelangt und das wertvolle Schriftstück erst neuerdings von St.
hervorgezogen worden.
Göttingen. Edward Schröder.
Die Fraktion des Zentrums im Preußischen Abgeordnetenhause
1859—1867. Von Dr. phil. Hermann Wendorf. (Leipziger
histor. Abhandlungen, Heft 41.) Leipzig, Quelle & Meyer.
1916. 139 S. 4,75 M.
Wendorfs Arbeit knüpft naturgemäß an die 1909 erschienene
Dissertation von H. Donner über „Die katholische Fraktion in
Preußen von 1852 — 1858" an. In der Einleitung faßt er dessen
Darstellung kurz zusammen. Doch lehnt er Donners Auffassung,
wonach die Haltung der Fraktion auch in nichtkirchlichen Fragen
durch ihre kirchenpolitische Tendenz bestimmt gewesen, als viel
zu weitgehend ab. Für die Anfänge 1852 f. wäre jetzt auch das
Buch von 0. Pfülf über Graf Joseph zu Stolberg-Stolberg heranzu-
ziehen gewesen. Mit Recht wendet sich W. m. E. gegen die von
Spahn, das deutsche Zentrum 13ff., und noch schärfer von Rach-
fahl, Preuß. Jahrb. 135, 233 ausgesprochene Ansicht, diese kon-
fessionelle Fraktionsbildung innerhalb Preußens sei aus partikula-
ristischen oder gar preußenfeindlichen Tendenzen zu erklären. —
Die eigene Darstellung zerlegt W. in zwei Abschnitte: 1. Die Zeit
der neuen Ära, die aber mit den Anfängen des Kampfes um die
Heeresreform in den 2.: die Zentrumsfraktion im Konflikt über-
19. Jahrhundert. 319
greift. W. hält sich im allgemeinen sehr eng an sein Thema:
die parlamentarische Tätigkeit der Fraktion. Daher sind die
stenographischen Sitzungsberichte weitaus überwiegend seine
Quelle. Daneben Material, wie es Pastors A. Reichensperger
und Pfülfs Mallinckrodt bieten. Zeitungen, auch der Partei-
presse, sind nur in geringer Auswahl herangezogen, dazu einige
Broschüren und Flugschriften, zumal solche, die von den Reichen-
spergers herstammen. Übrigens ist nach Pastor I, 389 die Schrift
über die Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus, die W.
13 Peter R. zuschreibt, auch von beiden Brüdern. Im allge-
meinen hält sich W. chronologisch an den Gang der Sessionen.
Das ist, entgegen seiner eigenen Meinung (S. 34) nicht zum Vor-
teil der Anschaulichkeit geworden. Es wäre vorteilhafter ge-
wesen, wenn er innerhalb beider Hauptabschnitte, wie zum
Teil im ersten geschehen, seine Darstellung nach zusammen-
gehörigen Materien geordnet (wie die Ausführungen über die
deutsche Frage in der neuen Ära) und am Schluß der Abschnitte
zusammenfassende Würdigungen gegeben hätte. Auffassung und
Beurteilung — wo sich solche findet — sind durchaus unparteiisch,
meist ohne in die größeren Zusammenhänge klerikaler politischer
Bestrebungen jener Tage, was nahe gelegen hätte, einzugehen.
Selbstverständlich sieht W. in dem Zentrum trotz der Namens-
änderung eine konfessionelle Parteibildung. Neue Aufschlüsse von
Bedeutung darf man nicht erwarten. Indes auch die Vollständigkeit
läßt zu wünschen übrig: u. a. fehlt die Haltung der Fraktion bei
den Handelsverträgen mit Frankreich 1862 (von den 12 Opponenten
gehören II der katholischen Fraktion an) und mit Österreich 1865
und Marinekreditforderungen aus diesen Jahren. Auch vermißt
man ein Eingehen auf die Wesensunterschiede der verschiedenen
Richtungen, in die die Partei bei den Abstimmungen in der Kon-
fliktszeit auseinander zu fallen pflegte. In diesen Jahren erscheint
Peter Reichensperger in seiner mittleren, unbefangenen Stellung
als Hauptwortführer und die hervorragendste Persönlichkeit in
der Fraktion; sehr mit Recht. Es wäre längst erwünscht, eine
eindringende Studie über die ganze lange politische Tätigkeit
dieses bedeutenden Parlamentariers zu haben, der seinen Bruder
August als Politiker weit überragt. — Ganz unzulässig und un-
vollständig sind die wenigen Seiten über die letzte Phase der
Fraktion in der Herbstsession 1866 und 1867. Unbefriedigend
21*
320 Literaturbericht.
sind auch die wie bei Donner angelegten Mitgliederlisten im An-
hang. Eine tabellarische Übersicht nach Wahlkreisen und Pro-
vinzen mit Angabe von Stimmenzahlen, Gegenkandidaten und
Mitabgeordneten anderer Richtung wäre das Richtige gewesen.
Ebenso entbehrt man wenigstens kurze biographische Angaben,
wie sie z. B. Parisius in seinem Buche über Hoverbeck — aller-
dings auf die einzelnen Kapitel verstreut — in den Anmerkungen
gegeben hat.
Tübingen. /C. Jacob.
Alois Graf Aehrenthal. Sechs Jahre äußere Politik Österreich-
Ungarns. Von Berthold Melden. Stuttgart und Berlin,
Deutsche Verlagsanstalt. 1917. 242 S.
Das Buch hält, was der Titel verspricht. Nicht nur die
Amtsführung des Grafen Aehrenthal als österr.-ungar. Minister des
Auswärtigen, 1906 — 1912, sondern auch die gesamte äußere
Politik der Monarchie in den kritischen Jahren der bosnischen
Annexion werden uns in gewandter geistvoller Form geschildert.
Daß man nicht eben viel Neues erfährt, liegt in der Natur der Sache
begründet, aber man liest diese kluge, objektive Darstellung des
Werdens der Dinge vor dem Weltkriege mit Spannung und freut
sich des mannhaften und erfolgreichen Auftretens eines gewandten
Diplomaten aus der alten Schule. Es ist möglich, daß eine
spätere Kritik einmal die Gestalt Aehrenthals nicht so hellstrahlend
finden wird, wie Molden: aber wozu uns die Genugtuung darüber
beeinträchtigen, daß unter den vielen tüchtigen Männern, über
die Österreich-Ungarn verfügen könnte, einmal einer auf dem
richtigen Platze stand? Aus den wichtigsten Kapiteln des
Buches scheint, wie Referent meint, klar dreierlei hervorzugehen.
Einmal, daß die Politik des Donaustaates Serbien gegenüber
nicht immer eine glückliche gewesen ist. Zweitens, daß der
Russe Iswolski dem Deutschböhmen Aehrenthal an Schlauheit
nicht gewachsen war. Endlich, daß Frankreich der Hauptwühler
zum Weltkriege war: weil es 1909 noch nicht wollte, verlief die
bosnische Krise harmlos, und weil es 1914 wollte, begann der
blutige Waffengang.
Für die Vorgeschichte des Weltkrieges ist M.s Buch ein
wertvoller Beitrag.
Prag. 0. Weber.
Rechtsgeschichte. 321
Gewerberechtliches in deutschen Rechtssprichwörtern. Erweiter-
ter Sonderabdruck aus der Festschrift für Georg Cohn.
Von Prof. Dr. Carl Koehne. Zürich 1915, 82 S., davon
48 S. Text.
Zu Beginn der Arbeit, sowie in einem besonderen Anhang
(S. 49f.) versucht der Verfasser den Begriff des Rechtssprich-
wortes zu definieren. Er unterscheidet Rechtsregel und Rechts-
sprichwort. Rechtssprichwort ist ein Satz, in dem ein Volk,
die Einwohner einer Landschaft oder eines Ortes oder einzelne
gesellschaftliche Schichten eine in weiten Kreisen als zutreffend
angesehene rechtliche Beurteilung bestimmter Tatsachen auszu-
sprechen pflegen. Geht ein solcher Satz von einem einzelnen
aus, so ist er bloße Rechtsregel. S. 13 wird an Hand dieser
Definition die Norm (aus dem Rechtsbuche nach Distinktionen):
„Wer leder im wichbilde gerwet, der sal nit schu machen und
der Schumacher sal nicht gerwen," aus dem Bereiche der Rechts-
sprichwörter verwiesen. Denn es fehle jeder Beweis dafür, daß
gerade die Form, in der jenes Rechtsbuch diesen Gedanken
bringt, dem Volksmunde entnommen sei oder allgemeine Ver-
breitung gefunden habe. Die Probe aufs Exempel zeigt,
daß Koehnes Begriffsbestimmung des Rechtssprich-
worts nicht haltbar ist. Wie wollen wir beweisen, daß
ein Rechtssprichwort dem „Volksmunde" entnommen sei? Ja,
was bedeutet das überhaupt, „dem Volksmund entnommen"?
Das ganze Volk wird nicht zusammengetreten sein um Rechts-
sprichwörter zu beraten. Die Fassung wird vielmehr stets von
einem einzelnen ausgegangen sein. Der Zweite und Dritte, der
Fünfzigste und Hundertste mag weiter daran gefeilt habea,
bis das Sprichwort die prägnante Form erhielt, in der es dann
Jahrhunderte lang fortlebte. Aber noch mehr. Rechtssprich-
wörter sind Sätze, die einen Rechtssatz enthalten. Sie müssen
eine rechtliche Aussage machen, sonst zählen sie wohl zu. den
Sprichwörtern, nicht aber zu den Rechtssprichwörtern. Die
meisten der köstlichen Sprichwörter des Sancho Pansa enthalten
keinen rechtlichen Inhalt. Recht aber geht nicht von einem
einzelnen aus. Das Recht geht vom Volke aus. Das Recht ist
Volksrecht, sei es eines größeren oder kleinern sozialen Kreises,
einer Gerichtsgemeinde oder einer Zunftversammlung. Und das
Recht zur Zeit der Rechtssprichwörter (13. bis 18. Jahrhundert)
322 Literaturbericht.
ist noch überwiegend Gewohnheitsrecht. Ich vermute, daß
gerade das Bedürfnis, gewohnheitsrechtlichen Normen
eine greifbare, der Erinnerung zugängliche Form zu
geben, zum Rechtssprichwort geführt hat. Neben dieser
Fähigkeit leichterer Einprägung der Norm, spielen der Wille nach
poetischer und humorvoller Ausgestaltung des Rechts eine große
Rolle. Jakob Grimm hat in seinem prächtigen Aufsatz, Die
Poesie im Recht (Zeitschr. f. geschichtl. Rechtswissenschaft II,
Heftl, 25 — 99) und Otto Gierke in seiner fein empfundenen
Studie, Der Humor im deutschen Recht (Festgabe für Homeyer)
deuthch gezeigt, wie eng Poesie und Humor mit dem Recht ver-
knüpft waren, wie deutsche Gestaltungskraft und deutsches Volks-
gemüt sich gerade auch im Rechtssprichwort auf das eindruck-
vollste äußern. Daher glaube ich feststellen zu dürfen: Das
Rechtssprichwort bietet seinem Inhalte nach Gewohnheitsrecht
dar. Die prägnante Fassung rührt von einzelnen, formbegabten
Personen her. Der Inhalt ist aus dem Volke geboren, die Form
vom einzelnen gemacht. (Wobei ich noch einmal betone, daß
oft viele einzelne daran gefeilt haben, bis das Wort die vulgäre
Form erhielt und behielt.) Da nun diese Form in der Regel
etwas Zündendes, Schlagwortartiges enthält, so läßt sich sagen:
Rechtssprichwörter sind schlagwortartig gefaßtes Gewohnheits-
recht.
Als Kennzeichen tritt noch dazu, daß diese Sprichwörter
nicht einzelne Rechtsfälle ordnen, sondern vielmehr Rechtsregeln
allgemeiner Natur aufstellen. Sie sagen nicht, was einmal ge-
schieht oder wofür ein Mensch oder eine Sache einmal angesehen
werden soll, sondern wie sich diese Dinge dauernd verhalten,
dauernd charakterisieren. Daher gelange ich zu der Begriffs-
bestimmung: Rechtssprichwörter sind Rechtsregeln,
welche Gewohnheitsrecht in schlagwortartiger Form
enthalten.
Zum Einzelnen der Studie habe ich wenig zu bemerken.
Sie ist sehr gut gruppiert in die Sprichwörter, welche Hand-
werk und Innung, Zwangs- und Bannrechte, die Unehrlichkeit ein-
zelner Berufe und endlich noch eine Reihe anderer gewerblicher
Verhältnisse (z. B. Markt- und Gästerecht) umfassen. Not-
wendigerweise lehnt sie sich stark an die Zentren an, in denen
das Gewerbe seinen eigentlichen Sitz hatte, an die Städte. Man
i
Rechtsgeschichte. 323
darf sich aber nicht beirren lassen und annehmen, daß das Ge-
wohnheitsrecht in diesen Rechtskreisen dem Gesetzesrecht be-
reits den Platz geräumt hätte. Auch unser Handwerker- und
Innungsrecht ist ganz überwiegend nur aufgezeichnetes Gewohn-
heitsrecht. Gerade K.s Sammlung scheint mir einen neuen
Beweis für diese Auffassung gebracht zu haben. Jeder romanisti-
sche Einschlag in den Sprichwörtern fehlt. Das Recht wurde
noch von innen heraus geboren, nicht von außen hereingetragen.
K. bringt die Parömien nicht nur in einen natürlichen Zu-
sammenhang, sondern er erklärt die meisten sehr treffsicher.
Zur UnehrHchkeit der Weber, welche z. B. in dem Sprichwort
auftritt: ,,Zehn Müller, zehn Schneider und zehn Weber sind
dreißig Diebe" (a. a. 0. 38) möchte ich aufmerksam machen auf
die Arbeit von Gustav Aubin, Die Leineweberzechen in Zittau,
Bautzen und Görlitz. Conrads Jahrb. Bd. 104, S. 577—649.
Aubin vermutet, daß die Leineweber vielfach auf dem Lande zu
Hause und daher als Bauern slavischer Herkunft waren. Sie
standen also ständisch tiefer als andere Arbeiter. Auch wurde die
Leineweberei relativ spät als selbständiges Handwerk anerkannt.
— Sehr einleuchtend ist des Verfassers Erklärung der bekannten
Sachsenspiegelstelle II 59 § 4: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst."
Sachse hat unrecht, wenn er malen mit reden übersetzt. Es handelt
sich nicht um eine prozessuale, sondern um eine materiell recht-
liche Norm. Mahlen bedeutet Getreide mahlen. Der Ssp.
gibt dem zuerst in der Mühle Erscheinenden das Recht der Priori-
tät (30). Prozessual interessant ist dagegen zu beobachten, wie
gewisse Sprichwörter auf den Schuldbeweis wirkten. Ich ver-
weise auf S.41, wo die Erklärung von Pistorius (1715) angezogen
wird: Falls man bei einem Schneider ein einzelnes Stück Tuch
finde, so könne man präsumieren, daß es aus einem Diebstahl
herrühre. So stark wirkte das Sprichwort nach : „Ist der Schneider
kein Schelm, so geben fünf Ellen ein paar Handschuh."
Die Sammlung K.s bietet eine schöne Ergänzung der Rechts-
sprichwörtersammlung von Graf und Dietherr. Sie ist für den
Juristen so beachtenswert, wie für den Wirtschafts- und Kultur-
historiker.
Heidelberg. Hans Fehr.
324 Literaturbericht.
Stadtverfassung nach Magdeburger Recht: Magdeburg und Halle,
von Rudolf Sdiranil (Untersuchungen zur Deutschen Staats-
und Rechtsgeschichte, herausg. von Otto v. Gierke, Heft 125).
Breslau, Verlag von M. u. H. Marcus. 1915. XII und 379 S.
Der Verfasser hatte ursprünglich den Plan, die Stadtverfassung
in dem gesamten magdeburgischen Rechtskreise zu behandeln,
ist jedoch dieses für eine Erstlingsarbeit wahrlich kühnen Unter-
nehmens nicht Herr geworden und hat sich dann auf die Ver-
fassung von Magdeburg und Halle beschränkt. Sonderbarerweise
glaubte er, jenen Plan in dem Titel seines Buches zum Ausdrucke
bringen zu sollen, als welchen er doch wohl besser einfach:
„Stadtverfassung von Magdeburg und Halle** gewählt hätte.
Übrigens steht keineswegs ohne weiteres fest, daß die Städte
des magdeburgischen Rechtskreises samt und sonders schlechthin
„Stadtverfassung nach Magdeburger Recht** hatten, wie es
überhaupt noch der näheren Prüfung bedarf, in welchem Umfange
das Recht der Mutterstadt in den Tochterstädten Geltung erlangte
und behielt. Schon jetzt wird, wer in die verschiedenen Stadt-
rechte tiefer eingedrungen ist, den Eindruck gewonnen haben,
daß die Tochterstädte in nicht wenigen Beziehungen eigene
Wege gegangen sind. Es ist gewiß an der Zeit, diese Frage zum
eigentlichen Gegenstande von Untersuchungen zu machen ; nichts
ist getan mit der Formel: im magdeburgischen Rechtskreise galt
magdeburgisches Recht, am allerwenigsten hinsichtlich der Ver-
fassung.
Eine zusammenfassende auf der Höhe stehende Arbeit über
die Verfassung von Magdeburg und Halle fehlte. Das Werk
wäre also nach seinem Gegenstande geeignet, eine Lücke in der
Literatur auszufüllen, die namentlich in Ansehung Magdeburgs
recht fühlbar ist. Die Zahl der Einzeluntersuchungen ist nicht
gering; mancherlei harrt indessen noch der Arbeit des Forschers.
So bot sich dem Verfasser ein doppeltes Feld zur Betätigung:
Literatur und Quellen.
Er bevorzugt offensichtlich jenes, ohne jedoch hier — trotz
den vielen von ihm angeführten und mehr oder minder eingehend
benutzten Schriften — nach Art und Umfang den zu stellenden
Anforderungen zu genügen (es sei hier auf die entsprechenden
kritischen Bemerkungen Schmidt-Rimplers in der Zeitschrift
der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte Bd. 36, Germanistische
Rechtsgeschichte. 325
Abteilung S. 526ff. verwiesen). Bezüglich der Verwertung der
Quellen ist zu betonen, daß der Verfasser nach neuen, bisher
nicht berücksichtigten (handschriftlichen) Quellen nicht Umschau
gehalten, aber auch die veröffentlicht vorliegenden nicht immer
in dem unbedingt erforderlichen Maße herangezogen hat; er
verläßt sich nicht selten auf die Angaben der Schriftsteller über
Quellenzeugnisse, statt aus erster Hand zu nehmen, und besonders
ist zu rügen, daß er die Ausgabe der hallischen Schöffenbücher
(von Hertel, in den Geschichtsquellen der Provinz Sachsen Bd. 14,
1882 und 1887) nicht durchgearbeitet hat. Häufig muß man
übrigens die Wahrnehmung machen, daß es der Verfasser gar
nicht für nötig hält, für seine Behauptung — sei es aus der Lite-
ratur, sei es aus den Quellen — Belege beizubringen.
Nach dem Gesagten handelt es sich mehr um eine Darstellung
als um eine Untersuchung mit neuen Ergebnissen.
In zwei getrennten Teilen wird die Verfassung der beiden
Städte nacheinander erörtert, und zwar nach dem völlig gleichen
Schema: Machtbereich des Erzbischofs (die Bezirke der öffent-
lichen Gewalt, das Gericht, die Handelsregalien, die sonstigen
stadtherriichen Rechte, konkurrierende Machtfaktoren, Schicksal
der stadtherriichen Gewalt), Machtbereich der Bürger (die Bürger,
der Grund und Boden, der Gemeindeverband, die selbständigen
Organe der Gemeinde, die abhängigen Organe der Gemeinde,
Kriegsdienst und Steuern). Was die zeitlichen Grenzen betrifft,
so bemüht sich der Verfasser, möglichst weit zurückzugelangen;
nach oben schließt er bald mit dem 14., bald mit dem 15., bald
mit dem 16. Jahrhundert ab. Wir vermögen die rein systematische
•Ordnung nicht zu billigen. Denn sie verwischt vollkommen die
geschichtliche Entwicklung, die deutlich verschiedene Phasen
— zumal in der Ausdehnung der beiden „Machtbereiche" — er-
kennen läßt. Besonders bezeichnend sind die Schlußkapitel der
ersten Abschnitte in beiden Teilen über das „Schicksal der stadt-
herriichen Gewalt" in der jüngeren Zeit; was hier ausgeführt wird,
ist vielfach durchaus zum Verständnis der vorhergehenden Be-
trachtungen nötig und auf der anderen Seite nicht immer recht
verständlich, indem es die Kenntnis späterer Erörterungen in
den zweiten Abschnitten („Machtbereich der Bürger") voraus-
setzt, namentlich über das Emporkommen des Rates, — über-
haupt werden die so interessanten Kompetenzkämpfe zwischen
326 LiteraturberichU
Rat und Schöffen nicht im entferntesten genügend gewürdigte
Auch sonst fehlt der Darstellung meist das tiefere Eindringen
in die vielen vorgeführten Einzelheiten, die zum nicht geringen
Teile kaum mehr als gestreift werden. Aber sie ruht auch nicht
auf dem breiten Boden der deutschen Stadtverfassung an sich.
So ist das Buch weder grundlegend noch abschließend. In
der Zusammenstellung, die es bietet, vermag es immerhin wohl
gute Dienste zu leisten sowohl demjenigen, welcher sich über den
Stand der Forschung unterrichten will als auch demjenigen,
welcher über diese hinaus zu gelangen strebt.
Halle. Paul Rehme,
Entwicklung und Vollzug der Freiheitsstrafe in Brandenburg-Preu-
ßen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, ein Beitrag zur
Geschichte der Freiheitsstrafe von Dr. jur. Eberhard Schmidt
(Abhandlungen des Kriminalistischen Instituts an der Uni-
versität Berlin, herausgegeben von Franz v. Liszt und Ernst
Delaquis, dritte Folge, zweiter Band, 2. Heft). Berlin 1915.
J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, G. m. b. H. 95 S.
Wie die Geschichte des Strafrechtes überhaupt, so bedarf
die Geschichte der Freiheitsstrafe insbesondere dringend ein-
gehenderer Erforschung. Das vorliegende Werk kommt mithin
einem Bedürfnis entgegen. Das Strafrecht ist ein Gradmesser
der Kultur, und so bietet das Buch ein interessantes Stück Kultur-
geschichte. Es ist in drei Abschnitte gegliedert: ,,Die Entwick-
lung der Freiheitsstrafe zur Zentralstrafe des preußischen Strafen-
systems," „Die Zustände in den einzelnen Arten der Strafanstalten
bis zum Ausgange des 18. Jahrhunderts," „Ergebnisse"; in einem
Anhange ist eine größere Zahl bisher ungedruckter „Urkunden
aus der Geschichte des preußischen Zuchthauswesens" beigefügt.
Das Buch will sich nur mit Brandenburg-Preußen beschäftigen,
greift aber — bei dem Bestreben des Verfassers, das von ihm
Ermittelte möglichst der allgemeinen Entwicklung einzugliedern —
öfter über die Grenzen jenes Staates hinaus. Wenn auch die
spärliche Literatur dem Verfasser manchen Fingerzeig gab (na-
mentlich ein Aufsatz v. Hippels in der Zeitschrift für die gesamte
Straf rechtswissenschaft Bd. 18 und Kriegsmanns Einführung in
die Gefängniskunde, 1912), so war er doch hauptsächlich auf
gedruckte Quellen und Archivalien angewiesen. Er hat in dem
Wirtschaftsgeschichte. 327
Geheimen Staatsarchiv in BerHn und im Hinblick auf das Zucht-
haus zu Magdeburg, das eines der ersten brandenburgischen
Zuchthäuser war, in dem dortigen Stadtarchiv gearbeitet; seine
Absicht, auch die Verhältnisse der Zuchthäuser in Küstrin und
Frankfurt a. d. 0. aus den alten Akten kennen zu lernen, mußte
er aufgeben, da sich herausstellte, daß die Küstriner Akten während
des Siebenjährigen Krieges verbrannt sind, der Frankfurter
Magistrat aber eine entsprechende Eingabe unbeantwortet ließ
(S. 21 Anm. 4), — daß Forscher derartige Erfahrungen machen,
gehört heute wohl glücklicherweise zu den Seltenheiten. In dem
ganzen Werke steht die Zuchthausstrafe durchaus im Vorder-
grunde der Darstellung, und es ist dem Verfasser gelungen,
unsere Kenntnis des preußischen Zuchthauswesens im 18. Jahr-
hundert in erfreulichem Maße zu fördern.
Breslau. Paul Rehme.
Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kultur-
entwicklung aus der Zeit von Cäsar bis auf Karl d. Gr.
Von Alfons Dopsch. I.Teil. Wien, L. W. Seidel & Sohn.
^ 1918. XI u. 404 S. 27 M.
" In einer Rezension, die F. Philippi in den Gott. Gel. Anzeigen
1913, Nr. 4, S. 227ff., von Dopschs aufschlußreicher „Wirt-
schaftsentwicklung der Karolingerzeit" Bd. I veröffentlicht hat,
bedauert er es, daß D. die wirtschaftlichen Organisationen der
Karolingerzeit nicht auf ihren römischen Ursprung hin ge-
prüft habe. Obwohl man eher bei der Darstellung der Mero-
wingerzeit als bei der der Karolingerzeit eine Prüfung der wirt-
schaftlichen und sozialen Grundlagen auf ihren römischen
Ursprung hin für angebracht halten wird, so scheint D. doch
Philippis Forderung als berechtigt anerkannt zu haben. Er
I legt jetzt eine Arbeit vor, die ihr entspricht. Natürlich ist eine
I Untersuchung über den Zusammenhang der römischen und der
germanischen Kultur stets lebhaft zu begrüßen. Wir fügen
I sogleich hinzu, daß D.s gelehrtes Buch schon allein als zusammen-
I fassende kritische Überschau über die Ergebnisse der bisherigen
I Forschungen auf diesem Gebiet und wegen der Einordnung
i derselben in die große Entwicklung der allgemeinen geschicht-
I liehen Auffassung (er spricht darüber unter dem Titel „Die
j Entstehung der Kulturgeschichtstheorien im Wandel der Zeit-
328 Literaturbericht.
richtungen" in einem einleitenden literargeschichtlichen Kapitel,
wie er es auch seiner „Karolingerzeit" beigegeben hatte), die
allgemeine Beachtung verdient. Allein wir haben den Eindruck,
daß er in der Ableitung von Einrichtungen der Germanen aus
dem Römertum oder in der Herstellung eines Zusammenhangs
zwischen beiden zu weit geht, wie auch Philippis Sätze u. E.
zu zuversichtlich lauteten. Die Zurückhaltung, die D. früher
beobachtet hat, dürfte doch mehr am Platz sein. Den eingehen-
den Nachweis für das, was ich hier andeute, zu erbringen, muß
ich an dieser Stelle unterlassen. Aber ein paar Beweise möchte
ich doch zur Verfügung stellen.
D. will nachweisen (S. 346), daß die Germanen die Hufen-
verfassung von den Römern „übernommen" haben. Er beruft
sich darauf, daß die Gemengelage der Äcker hier wie da vor-
handen sei. Indessen fehlt doch viel an dem Nachweis, daß
die Römer genau unsere deutsche Gemengelage gehabt haben.
Wenn aus dem römischen Gebiet erwähnt wird, daß jemand
Besitzungen an verschiedenen Stellen habe, oder ähnliches,
so ist damit noch nicht die Existenz unserer Gemengelage
ausgesprochen. Es liegt in der Natur der Dinge, daß bei den
verschiedensten Völkern, zumal in einer späteren Zeit, wo der
Grundbesitz eine sehr lange Zeit starken Güterverkehrs hinter
sich hat, Grundbesitzzersplitterungen vorhanden sind, bzw.
Besitz getrenntliegender Stücke in einer Hand. D. führt weiter
als Beweis für „die Übernahme der römischen Flureinteilung
und Vermessung durch die germanische Zeit" aber nicht bloß
die Gemengelage an, sondern auch, daß „die Besitzeinheiten
hier und dort auffällig zusammenstimmen, die Hufen" (S. 341).
Schon die Bezeichnung selbst sei dieselbe: sortes. Indessen
sind doch sors und sortiri (im Sinn von erlangen) zu allgemeine
Ausdrücke, als daß aus ihnen viel gefolgert werden könnte,
und wenn sors das Sondereigen des einzelnen bedeutet, so gibt
das Wort damit noch nicht ohne weiteres den Hufenbegriff
wieder. In seiner „Karolingerzeit", Bd. I, S. 312, hebt D.
übrigens hervor, sors werde in Italien mit Vorliebe für mansus
gebraucht. D. führt jedoch noch einen andern entsprechenden
römischen Ausdruck an, accepta, und von ihm meint er, daß
„hoba*' wohl aus einer Übersetzung des lateinischen accepta
entstanden sein könne (S. 343). Hierauf wäre erstens zu er-
Wirtschaftsgeschichte. 329
widern, daß accepta bei den Römern selten, bei den Germanen
(d. h. in frühmittelalterlichen Quellen) ganz vereinzelt vor-
kommt, zweitens, daß beide Ausdrücke auf verschiedenen
Vorstellungen beruhen: accepta =: empfangen, d.h. von einem
andern, Hufe (falls es, wie auch D. annimmt, mit haben zu-
sammenhängt) = habend, d. h. aus eigenem Recht. Dieser
Unterschied der Grundauffassung würde gerade in D.s System
der Beweisführung wichtig sein, da nach ihm — wir kommen
darauf zurück — die betreffenden Verhältnisse bei den Römern
und Germanen grundherrschaftlich bestimmt sind, zu welcher
Auffassung aber das deutsche Wort Hufe nicht ohne weiteres
paßt. Wenn D. dann weiter (S. 343) selbst hervorhebt, die
älteste fränkische Form für Hufe sei houa, welches Wort Stück
bedeute, so würde das eben nicht der Sinn von accepta sein,
und wenn er auf den schwedischen Ausdruck mantal (Manns-
teil) hinweist, so würde das doch nur bedeuten, daß die Ger-
manen Vorstellungen haben, die nicht durch accepta oder sors
gedeckt sind. Sodann müßte noch viel mehr, als es D. ver-
sucht, nachgewiesen werden, daß die allgemeinen Vorstellungen,
auf denen die deutsche Hufenverfassung beruht, den Römern
vertraut gewesen sind, von der Frage der Übereinstimmung
im äußern Maß ganz abgesehen. Den Einwand, daß auch eine
unabhängige Entstehung der Bezeichnungen hier wie dort
stattgefunden haben kann, macht sich D. übrigens selbst (S. 343).
Im übrigen würde die Benutzung eines römischen technischen
Ausdrucks für eine deutsche Einrichtung noch nicht die sach-
liche Übereinstimmung der beiden Einrichtungen beweisen,
wie man sich ja an vielen Beispielen, z. B. an dem Wort princeps,
vergegenwärtigen kann.
D. will dann aber auch die Übereinstimmung zwischen
den Römern und Germanen in der Einrichtung der Allmende
oder die Herkunft der germanischen gemeinen Mark aus der
römischen erweisen. Er operiert hier mit der römischen iunctio
(S. 344): „es wurden behufs Aufbringung eines möglichst gün-
stigen Steuererträgnisses die Kleinpächter durch die . . . Grund-
herrschaften gezwungen, zugleich mit ihrem Ackerlos auch
einen Zuschlag, ein Stück vom benachbarten Ödland mit zu
übernehmen, dieses zu bebauen und zu versteuern." Im Blick
darauf macht D. geltend, daß in der sog. Pertinenzklausel der
330 Literaturbericht.
frühfränkischen Formelsammlungen, bei den Formeln für
Schenkungs- und Traditionsurkunden, häufig die Wendung
„iunctis vel subiunctis'' begegne, daß allmählich neben „ad-
iunctis'' „adiacenciis'' und „appendiciis" auftauche, um schließ-
lich Worten wie „adiacenciis*' die Herrschaft zu überlassen.
Wir wollen nicht fragen, wie man denn anders das Zubehör,
den Anteil des Bauern an der gemeinen Mark, bezeichnen
sollte als yjunctis'* oder „cum adiunctionibus ad memoratum
locum pertinentibus'' usw.; setzen wir wirklich den Fall, daß
das Wort „iunctis'' aus den römischen Formeln direkt über-
nommen ist, so beweist das doch noch nichts für die Sache.
Denn vor allem bezieht sich die „iunctio'' auf ein Zwangs-
verhältnis, welches hingegen den deutschen Verhältnissen gänz-
lich fremd ist. Oder hören wir in Deutschland einmal davon,
daß Mitglieder einer deutschen Landgemeinde, bzw. Mark-
genossenschaft gezwungen werden, ein Stück Ödland aus der
Allmende zu bebauen, damit der Landesherr mehr Steuern
erhält? Ganz abgesehen davon, daß auch in den spätem Jahr-
hunderten der stärkeren Ausbildung der territorialen Steuer-
verfassung etwas Derartiges nicht vorkommt, in die frühe deutsche
Zeit paßt etwas Derartiges am wenigsten hinein. Es handelt
sich hier um den allgemeinen Gegensatz zwischen den Organi-
sationen der römischen Kaiserzeit und denen der Germanen:
dort sind sie Zwangsanstalten und dienen außenstehenden
Instanzen, insbesondere dem Staat; hier dienen sie den Zwecken
der Mitglieder der Organisation. Ein Unterschied, der ja auch
zwischen römischen und deutschen Zünften sehr greifbar uns
entgegentritt: die deutsche Zunft schafft sich der Handwerker
zur Wahrnehmung seiner Interessen; in der römischen leistet der
Handwerker Frondienst für den Staat. Soweit es sich aber
um Reste der alten römischen Dorfallmende handeln könnte,
so sind sie in dem spätem „ager compascuus** nur noch in kümmer-
lichen Resten erkennbar (Max Weber, Agrargeschichte des
Altertums; Handw. der St., 3. Aufl., S. 144).
Sollen diese Studien mit vollem Erfolg betrieben werden,
so wird man grundsätzlich ins einzelne gehen, die Verhältnisse
der Gegenden, die in Betracht kommen, ganz und gar im ein-
zelnen erforschen, namentlich auch topographische, archäolo-
gische Untersuchungen anstellen müssen. Wie dies Ad. Schulten
Wirtschaftsgeschichte. 331
^ür Italien und Afrika unternommen hat (Die römische Flur-
teilung und ihre Rechte, Abhandlungen der Kgl. Ges. der
Wissenschaften zu Göttingen, philol.-hist. Klasse, N. F. Bd. 2,
Nr. 7, S. 11 ff.), so hat etwas Derartiges für den deutschen Boden
soeben G. Wolff, Antike Klassikerstellen im Lichte der römisch-
germanischen Altertumsforschung, Ilbergs Jahrbücher, Jahrg.
1918, Bd. 42, S. 181 ff. in Angriff genommen (über die altern
Arbeiten Wolffs s. D., S. 103). Vgl. S. 188 über die „Kombi-
nation der antiken und mittelalterlichen Überlieferung mit den
Ergebnissen der archäologischen Topographie und Boden-
forschung", S. 193 über den Kulturfortschritt, der im Main-
gebiet zwischen der Zeit des Tacitus und der Okkupation durch
die Franken gemacht worden und römischem Einfluß zu ver-
danken ist, ferner über die Steigerung der durch die römische
Okkupation hier geschaffenen Kulturwerte durch dieses Ein-
dringen der Franken, die ihrerseits durch die unmittelbare
Berührung mit den Galloromanen Frankreichs römische Kultur
in sich aufgenommen hatten, endlich über die Frage, worauf
sich die Notiz des Ammianus Marcellinus über die nach römischer
Art gebauten Häuser der Alemannen am Untermain bezieht.
Als Gesamtresultat wird man einstweilen festzustellen haben,
daß in der Anlage einer einzelnen Ortschaft (im Straßenzug)
mancher römische Einfluß zu beobachten ist (bei dem Main-
kastell Großkrotzenburg sind die Haupteingänge und Straßen
des heutigen Dorfs durch die entsprechenden Teile des römischen
Kastells in ihrer Lage bestimmt), daß im technischen viel
Übernahme stattfindet (übrigens gehen die gallischen und ger-
manischen Töpfereien, die Bailisten und Katapulten in den
Limeskastellen, die Formen römischer Lager und Kolonien
mehr auf griechische, hellenistische Vorbilder als auf römische
zurück), daß aber in der Flureinteilung, wenn überhaupt,
nur ganz ausnahmsweise etwas an römische Einrichtungen
erinnert.
D. wird erwidern, daß neben den Einzelstudien die zu-
sammenfassende Arbeit auch ihren Platz habe. Allein es gibt
Zeiten, in denen eine solche noch verfrüht ist oder wenigstens
kaum mehr leisten kann als, wie vorhin bemerkt, eine kritische
literarische Überschau zu Hefern. Von Einzelzügen ist noch so
wenig festgestellt, daß die Gefahr unberechtigter Verallgemeine-
332 Literaturbericht
rung besonders nahe Hegt. Auch hinsichtUch der Städte, bei
denen man schon etwas klarer sieht, besteht die Gefahr, daß
aus einzelnen Tatsachen zu weitgehende Folgerungen gezogen
werden. Was man hier sicher feststellen kann, ist: die Be-
nutzung der alten baulichen Anlagen und die Fortwirkung des
engeren Beisammenwohnens der Bevölkerung und ihrer damit
in Zusammenhang stehenden gewerblichen Tätigkeit. Aber
abzulehnen ist die Annahme irgendeines Zusammenhanges in
der Verfassung zwischen den alten römischen und den deutschen
mittelalterlichen Städten. D. scheint bei mir eine besondere
Gegnerschaft gegen die Voraussetzung irgendeines Zusammen-
hangs zwischen dem alten und dem mittelalterlichen Köln
anzunehmen (S. 149). Indessen ich trete nur dafür ein, daß die
mittelalterliche Stadt mitten aus den mittelalterlichen Ver-
fassungseinrichtungen heraus erwachsen ist. Wenn D. durch
die Bestreitung der Existenz einer Allmende beim mittel-
alterlichen Köln die Bahn für die Auffassung von einer Fortdauer
des alten Köln glaubt freimachen zu müssen, so weiß ich nicht,
was er damit eigentlich beweisen will. Denn ob nun gerade
eine Allmende vorhanden gewesen ist oder nicht, jedenfalls
betrachtete man in Köln beim Aufkommen der Stadtverfassung
die Verfassungseinrichtungen als die allgemein deutschen, wie
schon aus der Bezeichnung der Sondergemeinden als Bur-
schaften hervorgeht. Übrigens hat D. selbst am wenigsten
Anlaß, das Fehlen einer Allmende zugunsten römischen Ur-
sprungs der Verfassung zu deuten, da er ja Allmende und Mark-
genossenschaft von den Römern durch die Germanen über-
nommen werden läßt. Doch dies nur nebenbei. Meine Land-
gemeindetheorie hindert mich anderseits gar nicht, die Be-
deutung der römischen Stadt Köln für das Aufkommen der
mittelalterlichen Stadt in wirtschaftlicher Hinsicht anzuer-
kennen; ich habe ja vielmehr im Gegensatz zu Seeliger die
Anknüpfung des mittelalterlichen Handwerks an das in den
alten Römerstädten betriebene hervorgehoben und wiederholt
betont, daß seit den Römerzeiten auf deutschem Boden das
berufsmäßige Handwerk nie ausgestorben ist (Vierteljahr-
schrift f. Soz.- u. Wirtschaftsgeschichte 1914, S. 10). Aber
wenn es sich weiter entfaltete, so geschah es im Rahmen der
deutschen Gemeindeverfassung, nicht in dem der alten römi-
Wirtschaftsgeschichte. 333
sehen Stadtverfassung. Die Form der deutschen Landgemeinde
schloß es ja auch nicht aus, daß in ihr ein bescheidenes gewerb-
liches Leben (um mehr handelte es sich nicht) fortbestand.
D.s Neigung zur grundherrlichen Theorie in der Beurteilung
der Siedlungsfragen habe ich schon erwähnt. Gerade bei diesem
Punkt wären aber noch eindringende Einzelforschungen not-
wendig. Wie ist das Verhältnis der römischen herrschaftlichen
Höfe zu den mittelalterlichen Fronhöfen? Diese Frage müßte
ganz planmäßig, insbesondere für das linke Rheinufer und das
Donaugebiet, untersucht werden. Es läßt sich aber auch hierfür
voraussehen, daß eine Fortdauer der römischen Gemeinde-
verfassung nicht nachgewiesen werden wird. Der saltus Sumelo-
cennensis hat, wie Schulten, Bonner Jahrbücher Bd. 103,
S. 35, darlegt, in römischer Zeit eine römische Verfassung
gehabt. Im Mittelalter ist nichts davon vorhanden.
Um noch ein paar Einzelheiten zu berühren, so sind manche
kritische Bemerkungen über Meitzens wenig kritische Art
(vgl. H. Z. Bd. 78, S. 471) ebenso willkommen zu heißen wie
die wiederholte Feststellung, wie oft Waitz den gesunden Sinn
für das Richtige bewährt hat (s. m. „Deutschen Staat des
Mittelalters" Bd. 1, S. 67ff.). Damit aber, daß man nachweist,
daß Meitzen eine Auffassung unkritisch verteidigt hat, ist noch
nicht erwiesen, daß sie an sich unrichtig ist. Die rechtshistorische
Schule aus Eigenarten des ,, Zeitalters Darwins" zu erklären
(S. 82) geht nicht an, da sie ja viel älter als Darwin ist. Die
Benennung eines Orts nach einer bestimmten Person (S. 116)
beweist nicht, daß der Ort erst zur Zeit der Benennung be-
gründet worden ist. Bei ihrem Vordringen in Süddeutschland
fanden die Germanen nicht bloß Römer (S. 122), sondern auch
den homo alpinus, dessen D. wohl eingehender hätte gedenken
können, vor. Wenn D. es als bemerkenswert anführt (S. 287),
daß „schon im 5. Jahrhundert sächsische Edle oder Häuptlinge"
einen Schatz haben, so dürfen wir den Besitz eines solchen,
eines ,, Horts" auch schon für die älteste germanische Zeit an-
nehmen. Aber der Häuptling, der über einen Hort verfügt,
ist durchaus kein Beweis dafür, daß in seinem Gebiet die ,, Grund-
herrschaft" eine maßgebende Rolle spielt; der Häuptling kann
ja Häuptling über Gemeinfreie sein. Wenn Beda von villici
spricht (S. 289), so versteht er darunter gewiß Vorsteher einer
Historische Zeitschrift (120. Bd.) 3. Folge 24. Bd. 22
334 Literaturbericht.
Gemeinde; an das später in Deutschland nachweisbare „Meier-
recht" (ius villici) ist dabei gewiß nicht zu denken.
Gegenüber der Abneigung von D. (S. 395), ein Umlegen
von Fluren in besiedelten Gegenden zuzugeben, mag an die
Vorgänge bei der Kolonisierung und Germanisierung des Slaven-
landes erinnert werden: auch da wurden Fluren in Gewanne
umgelegt, und hier war die Gegend zweifellos dichter besiedelt
als im Dekumatenland beim Einzug der Germanen.
Zum Schluß dürfen wir nicht unerwähnt lassen, daß D.,
wenn er den Zusammenhang der germanischen mit der römischen
Kultur u. E. zu stark betont, doch dabei die Selbständigkeit
der germanischen keineswegs bestreitet. Er macht vielmehr
darüber sogar sehr treffende Bemerkungen. Indessen diese
richtige Erkenntnis, die wir bei ihm finden, steht doch im Wider-
spruch zu dem, was er sonst so sehr hervorheben zu müssen
meint.
Frei bürg i. B. G. v. Below.
Das Bauerngut der alten Grundherrschait. Von Johannes Kfihn.
(Leipziger Historische Abhandlungen, Heft 38.) Leipzig.
Quelle & Meyer. 1912. IX u. 97 S.
Johannes Kühn knüpft in seiner wohldurchdachten agrar-
geschichtlichen Untersuchung an die Tatsache an, daß die Grund-
herrschaft in Südwestdeutschland schon verhältnismäßig früh
erstarrte. Gerade dadurch wurde hier die Bahn frei für die Ent-
wicklung des bäuerlichen Gutes. Sie will Verfasser in ihrem Zu-
sammenhang mit dem Auflösungsprozeß der Grundherrschaft ver-
folgen. Als Untersuchungsgebiet dient ihm das Elsaß, die ba-
dische Rheinebene und die anstoßenden Gegenden der Nordwest-
schweiz; als Quellenmaterial die umfassenden Urkundensamm-
lungen dieser Landesteile, in geringerem Grade die noch nicht
hinreichend publizierten Urbare. Über die besonderen Verhält-
nisse der Abtei Musbach vermag er auf Grund archivalischer
Studien zu berichten. Er beginnt mit einer Schilderung der
Grundherrschaft am Vorabend ihrer völligen Umbildung (um
1100). Wir lernen die Villikation als betriebstechnische Einheit
kennen, wobei der Eigenbetrieb auf Salland in seiner technischen
Bedeutung wohl etwas überschätzt wird, da die Bewirtschaftung
des Sallandes im wesentlichen parzellenweise von frondienst-
Wirtschaftsgeschichte. 335
Pflichtigen Bauern selbständig durchgeführt worden sein dürfte.
Die Veränderungen des 12. und 13. Jahrhunderts erblickt K. in
der Preisgabe dieses Sallandbetriebes, in der Unifizierung der
Leistungen und Abgaben und in ihrer Ablösung durch feste
Renten, womit die jüngere Villikation zur bloßen Rentenanstalt
herabsinkt. Im Verlauf dieser Entwicklung nun macht sich die
Erscheinung geltend, daß an die Stelle der älteren Maß- und Be-
sitzeinheit der Hufe je länger je mehr kleinere Einzelheiten, die
Schupposen, hervortreten, die sich als Teilgrößen jener (meist
als ihr vierter, seltener als ihr dritter Teil) darstellen. Sie sind
in ihrer Gleichförmigkeit nach Größe, Zins und Rechtsverhältnis
das Produkt einer allmählichen Angleichung, durch ihre Regel-
mäßigkeit von den Kleingütern der älteren Zeit unterschieden,
entstanden als grundherrliche Schöpfung durch Aufteilung des
Sallandes und Zerschlagung von Hufen. Aber die Entwicklung
bleibt bei ihnen nicht stehen. Noch im 13. Jahrhundert fallen
auch sie der Zersplitterung anheim, da die Grundherren jeden
Einfluß auf die Wirtschaft verlieren und die Bauern in ihrem
Streben nach Beseitigung der Schranken im Verkehr mit Grund
und Boden keinen Widerstand mehr finden. In der zweiten
Hälfte des 13. Jahrhunderts sind an der einzelnen Schuppose
gerade so wie an der Hufe viele Besitzer beteiligt. Der Besitz-
wechsel wird ein außerordentlich schneller. Verfasser glaubt fest-
stellen zu können, daß an manchen Orten sämtliche Familien
der bäuerlichen Besitzer schon nach zwei oder drei Menschen-
alter gewechselt haben. Dazu kommt die fortwährende Abtren-
nung von Parzellen. Das alles bewirkt, daß im 14. und 15. Jahr-
hundert die Unterscheidung von Hufen und Schupposen Sinn
und Verständlichkeit verloren hat. Das Schlußergebnis ist eine
Herabminderung weniger der durchschnittlichen bäuerlichen Be-
sitzgrößen als vielmehr der Parzellengrößen, aus denen die Bauern-
güter sich zusammensetzen. Den Antrieb zu der ganzen Ent-
wicklung bildet nur zum kleinsten Teil die wachsende Volkszahl;
denn diese wird nach K.s Meinung durch die innere und äußere
Kolonisation seit dem 13. Jahrhundert im wesentlichen absor-
biert. Ihm scheint es sich mehr um die Landversorgung der
mit dem Verfall der älteren Grundherrschaft überflüssig gewor-
denen ländwirtschaftlichen Arbeiter zu handeln. Ein letzter
Abschnitt ist dem Übergang des Eigentums von der Grundherr-
22*
336 Literaturbericht.
Schaft auf die zwischen ihr und dem Bauern sich vielfach ein-
schiebende neue Klasse der nichtbäuerlichen Hufner oder auf
die Bauern selbst gewidmet. Bei der Beschränktheit des Mate-
rials versteht es sich, daß die ganze Untersuchung mehr nur in
ihren Grundzügen angedeutet als im einzelnen durchgeführt wird.
Gerade dadurch aber gewinnt sie an Klarheit. Es wäre zu wün-
schen, daß der Verfasser recht bald dazu kommt, sie fortzusetzen
und seine Ergebnisse in die allgemeine deutsche Agrargeschichte
einzuordnen. Dabei wäre der Möglichkeit, daß das arithmetische
Verhältnis der Schuppose zur Hufe im Einzelfall ebensogut durch
Zusammenfassung von je vier Kleingütern zur Rechnungs- oder
Verwaltungseinheit der Hufe wie durch die Zerschlagung einer
Hufe in vier Teile entstehen konnte, vielleicht etwas mehr Rech-
nung zu tragen.
Prag. P. Sander f.
Das britische Weltreich. Von Dr. Eduard Meyer, Geh. Regie-
rungsrat, ord. Professor der Universität Berlin. Berlin,
Carl Heymann. 1918. 68 S. (Macht- und Wirtschaftsziele
der Deutschland feindlichen Staaten. Herausg. von der
Handelshochschule in Königsberg i. Pr. 2. Heft.)
Aus einem Vortrage am 17. November 1917 erwachsen
und am 8. Januar 1918 bevorwortet, bietet diese Abhandlung
einen großartigen Reichtum von trefflich nach der Wichtigkeit
ausgewählten Tatsachen, auch aus uns ferneren Gebieten, wie
Irland, Kanada und Australien, in einer Kürze, eindrucksvollen
Klarheit, durchsichtigen Anordnung und Urteilschärfe, die die
Meisterhand des historischen Darstellers erkennen lassen. Dieses
Heft spricht weit maßvoller und reifer als das oben Bd. 117,
S. 327 angezeigte frühere Buch. Es führt vom britischen Welt-
reich sowohl äußere Macht und Ausdehnung anschaulich vor,
wie es auch dessen innere Grundlage aus Geschichte und Volks-
charakter, besonders die politischen und sozialen Ideen, ein-
gehend erörtert. Namentlich die Beziehungen zu Deutschland,
etwa seit 1884, stellt es ausführlich dar. Der Wissenschaft neue
Einzelheiten zu bringen oder verborgene Zusammenhänge auf-
zuhellen, muß eine solche Skizze freilich verzichten; dennoch
verbindet sie nicht etwa nur bekannte Züge zum wohlgetroffenen
Bilde oder Vergangenes mit Heutigem, wie sie z. B. erinnert,
England. 337
daß schon im Krimkriege England die Propagandaphrase von
seinem Kampf für die Zivilisation verwendete. Sondern Ver-
I fasser verwertet hier, für die deutsche Literatur zum erstenmal,
eine Reihe allerneuester Veröffentlichungen der Angelsachsen,
neben allgemein Politischem auch Wirtschaftliches und Sozio-
j logisches, neben den Zeitungen Times, Daily Chronicle, Outlook
I die Aufsatzsammlungen, herausgegeben von Furniss {Industrial
i Outlook) und Kirkaldy (Labour, finance und Credit, industry),
die Schriften von D. W. Johnson (Prussianism), J. Jones (Tsing-
tau), Morel (Truth), Peddie (Imports) und War on German trade.
I Aus dem führenden Wirtschaftshistoriker Cunningham (Capita-
\ lism) zitiert er das Geständnis, daß auch England, und zwar auch
I kraft Freihandels, die anderen Völker selbstisch ausgebeutet hat.
j Unter den Beweggründen des englischen Kriegswillens
sieht M. mit Recht nicht den Handelsneid, dem der Kampf
freilich zunächst diente, als den entscheidenden an, sondern den
Imperialismus als den tiefsten. Daß die deutsche Volksmeinung
England die Hauptschuld am Kriege mit Recht beimesse und
dessen Vermittlung vom Juli 1914 als Komödie verachte, hat
er aber nicht bewiesen. Es verketteten sich m. E. vielmehr
ungewollte Schwierigkeiten, wie denn neuerdings ein englischer
I Malthusianer auf die Übervölkerung in der Arbeiterklasse als
; eine Kriegsursache hingedeutet hat. Statt die Schuld der Men-
I sehen von 1914 anzuklagen, zeige der Historiker lieber bei den
! Politikern des voraufgehenden Menschenalters die Urteilsfehler
' und den Mangel an Voraussicht der wahrscheinlichen Folgen,
zu denen rücksichtslose Machtgier fürs Vaterland und Völker-
verhetzung führen müssen; letztere verübten auch bei uns Tages-
I Schriftsteller ohne Verantwortungsgefühl. — Die Mißstimmung
der Neutralen gegen uns folgte aus unserem Einmarsch in Belgien,
' nicht aus dem freilich unpolitischen Bekenntnisse unseres Un-
i rechts im buchstäblichen Sinne, das ein geschickterer Verteidiger
! höchstens vielleicht als moralisches Recht erweisen konnte.
I Klar hebt Verfasser die Überlegenheit des Weltreichs, das
I klimatische Gegensätze vereint, hervor über die lokal gebundene
j Wirtschaft jeder anderen Nation. Große Staatsmänner findet
j er in England sehr selten: dann muß es, um nicht alles bhndem
i Glücke zuzuschreiben, das